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Sebastian Kurz gerät immer wieder durch vorschnellen Moralismus in Probleme. Oder agiert er gar bewusst und vorsätzlich einseitig blind und ist nur dann moralisch-korrekt und rigoros, wenn es ins Konzept passt? Wäre er nämlich um Objektivität bemüht, dann könnte er sich nicht über widerliche Geschmacklosigkeiten im Umkreis der einen Partei öffentlich erregen, bei jenen Affären, die anderen Parteien sogar viel direkter anzurechnen sind, aber stumm bleiben. Jedenfalls sollte er das dann nicht tun, wenn die getadelten Geschmacklosigkeiten in keiner Hinsicht ärger sind als die nicht getadelten. Eher im Gegenteil.
Zu diesem Urteil muss man kommen, wenn man die Reaktionen und Nichtreaktionen des ÖVP-Chefs auf grüne, rote und blaue Widerlichkeiten vergleicht, die in den letzten Tagen aufgepoppt sind.
Kurz hat sich öffentlich über eine 14 Jahre alte und zweifellos grausliche Liedersammlung einer nationalen Schülerverbindung erregt, die jetzt (ganz "zufällig" in der auf SPÖ-Linie eingeschwenkten Kronenzeitung knapp vor den steirischen Wahlen) aufgetaucht ist. Die grauslichen Äußerungen aus dem grünen Eck sind hingegen nur ein paar Tage alt, sollten also allein deswegen viel mehr Aufmerksamkeit verdienen. Es gibt jedoch zum Unterschied von jener Liedersammlung keine Reaktion des Ex- und baldigen Wieder-Bundeskanzlers.
Noch ein zweiter Aspekt macht die Aussagen der "Grünalternativen Jugend" problematischer als die Liedertexte der Schülerverbindung: Die FPÖ hat sich von den Texten distanziert und sie verurteilt. Bei den Grünen ist keine Distanzierung bekannt.
Hängt das damit zusammen, dass das "Auftauchen" eines 14 Jahre alten Liederbuchs mit neonazistischen Passagen und einer Verspottung der Bundeshymne aus dem Irgendwo von allen Medien groß gespielt worden ist? Grüne Affären hingegen werden von den allermeisten Medien jedoch regelmäßig nicht oder nur ganz knapp berichtet (siehe etwa die einstigen Pädophilie-Berichte eines deutsch-europäischen Abgeordneten oder den Korruptionsverdacht gegen den Grünabgeordneten Chorherr, die alle rasch wieder aus der Berichterstattung verschwunden sind).
Die Aufregung rund um die Freiheitlichen gilt Liedertexten einer von der FPÖ unabhängigen Schülerverbindung (wo der Link zur Partei nur in Person eines FPÖ-Abgeordneten besteht, der "Alter Herr" bei einer anderen Verbindung ist, die mit diesen Texten vor 14 Jahren beschenkt worden ist). Bei den Grünen ist die verhaltensauffällige Organisation hingegen die "Grünalternative Jugend Wien". Diese wird sogar auf der offiziellen Homepage der Grünen unter dem Titel "Das grüne Netzwerk" in gleicher Weise wie etliche andere eindeutige Parteiorganisationen aufgeführt (Die Studentenliste Gras etwa, oder die Schwulengruppe "Die Grünen Andersrum"). Sie ist also der grünen Partei eindeutig zuzurechnen.
Zum jüngsten Nationalfeiertag fiel dieser Grünalternativen Jugend jedenfalls die auch graphisch im gleichen Stil wie der übliche Parteiauftritt gestaltete Aussage ein:
"Wir wollen keine Österreicher*innen sein. Sondern Menschen."
Das heißt ganz klar:
Aber weder die grüne Führung noch Kurz fanden da Worte der Distanzierung. Dabei hat Kurz knapp davor die Verhöhnung der Bundeshymne durch die erwähnte Liedersammlung als eine "extrem widerliche Verächtlichmachung der Bundeshymne und damit Österreichs" bezeichnet. Als Mensch und Patriot lehne er das ab. Dieser Text hatte gelautet: "Land der Nehmer, Land der Geber, Land der Kriecher, Land der Streber …"
Gewiss ist auch das eine absolut unakzeptable Formulierung. Aber bei diesem Hymnentext kann man zumindest noch den Versuch von Humor oder Satire erkennen. Immerhin hatten in den 50er und 60er Jahren auch angesehene Kabarettisten gewagt, den Text der Bundeshymne ironisch-kritisch zu paraphrasieren. Das hat damals jedenfalls nie zu aufgeregten Reaktionen geführt. Denn Humor macht vieles möglich oder zumindest erträglich. In Aussagen hingegen, die den Österreichern das Menschsein absprechen, kann bei bestem Willen kein Humor erkannt werden.
Stumm ist Kurz auch zu einer anderen Affäre geblieben, auf die die FPÖ jetzt im Gegenzug hingewiesen hat: Von der Sozialistischen Jugend ist bis vor wenigen Stunden eine CD vertrieben worden, auf der rein kommunistische Lieder zu hören waren, wie das "Lied der Roten Armee" oder: "Wir schützen die Sowjetunion". Auch da gibt es wohl keine Möglichkeit, so etwas unter die Überschrift "Missglückter Humorversuch" einzureihen.
Aber die SPÖ hat immerhin die Bewerbung der CD nach dem freiheitlichen Vorstoß stillschweigend zurückgezogen.
Das enthebt aber Kurz auch hier nicht der kritischen Frage: Ist er etwa deshalb stumm geblieben, weil er die SPÖ eventuell noch als Reservekoalitionspartner brauchen könnte? Oder reagiert er nur, weil er die alten Medien als die einzig relevanten ansieht?
Das einzige, was in allen genannten Fällen zutrifft: Es geht um Äußerungen und Aktionen jugendlicher Dummköpfe, die postpubertär provozieren wollen. Bei diesen kann man als erwachsener Menschen angewidert wegschauen. Man hat ja in der Tat Wichtigeres zu tun. Kurz hätte also nicht unbedingt etwas sagen müssen zu dem noch dazu alten Verbindungs-Liederbuch.
Was jedoch nicht geht: Sich über das eine öffentlich zu erregen, und das andere Mal stumm zu bleiben, wenn ähnlich Übles gesagt wird. Das kann man zumindest dann nicht, wenn man noch irgendwie als objektiv ernstgenommen werden will.
Noch mehr verliert man an Glaubwürdigkeit, wenn der Getadelte der alte Koalitionspartner ist, von dem man sich heuer ohne ausreichende Begründung getrennt hat, der Nichtgetadelte hingegen der erhoffte künftige Partner ist. Dem einen gegenüber herrscht Rosenkrieg, dem anderen gegenüber hat man Herzerl in den Augen und sieht sonst nichts.
Abgesehen von dieser offensichtlich zu Einäugigkeit führenden parteipolitischen Interessenlage wird man beim Verhalten der ÖVP noch an ein anderes Phänomen erinnert:
Der ÖVP-Obmann und sein Generalsekretär haben nämlich schon öfter den Hang zu vorschnellen und übertriebenen Reaktionen gezeigt, wie wenn sie der oberste Disziplinwart in einem strengen Pensionat wären. Das hat man etwa auch am völlig überflüssigen Hinauswurf des ÖVP-Abgeordneten Efgani Dönmez gesehen, der wegen eines einzigen Tweets (also wegen ein paar schnell getippter und veröffentlichter Worte auf Twitter) trotz nachfolgender Entschuldigung aus der Partei hinausgeworfen worden ist. Einziges "Delikt": Dönmez hatte sich verächtlich über eine deutsche SPD-Abgeordnete geäußert (er hatte auf die Frage eines anderen, wie denn die Berliner SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli zu ihrem Amt gekommen sei, geantwortet: "Schau dir mal ihre Knie an, vielleicht findest du da eine Antwort." – und angeblich ist der Verweis auf die Knie einer Frau "frauenfeindlich" oder "sexistisch"). Flugs, schon war Dönmez jedenfalls draußen.
Ähnlich lächerlich war – allerdings noch unter der vorigen ÖVP-Führung – der Hinauswurf eines anderen ÖVP-Abgeordneten ebenfalls wegen eines einzigen Satzes. Marcus Franz hatte gesagt: "Frau Merkel will als die metaphorische ‚Mutti‘ des Staates das negative Faktum der nicht vorhandenen oder zu wenigen eigenen Kinder mit der Einbringung vieler, vieler junger Migranten wieder gutmachen". Eine große Mehrheit der Österreicher würde diesen Satz als zumindest interessante Überlegung und nicht als Kapitalverbrechen einstufen.
Das Ergebnis dieser starken Einschränkung der Meinungsfreiheit ist klar: Es finden sich keine qualifizierten Quereinsteiger mehr, die in der Volkspartei aktiv werden wollen. Die vor der Wahl 2017 aufgeloderte Hoffnung, dass Sebastian Kurz eine Durchlüftung und Öffnung bringen würde, hat eine Reihe interessanter Menschen zu ÖVP-Kandidaten gemacht. Inzwischen haben sich diese Hoffnungen zerschlagen. 2019 gab es daher nur noch brave Parteisoldaten als Kandidaten, die am besten gar nichts von sich geben, oder höchstens eine wörtliche Wiederholung des von der Parteispitze Vorgegebenen. Das aber ist für intelligente Menschen wie Dönmez, wie Franz, wie viele andere, die lieber selber denken wollen, die gerne kantig formulieren, alles andere als attraktiv.
Wegen seiner gouvernantenhaften Einstellung wird Kurz beim offenbar auserkorenen Koalitionspartner freilich noch viel mehr zu schlucken haben als beim alten. Das ist gewiss, wenn man die grünen Akteure ansieht.
PS: Das Fehlen qualifizierter Kandidaten, die nicht auf der Ochsentour dahergekommen sind, plagt freilich alle Parteien, vor allem die Großparteien. Bei der SPÖ etwa finden sich seit Kreisky schon lange keine mehr ein – es sei denn bisweilen aus dem ORF. Den halten aber manche Genossen ja sowieso nur für die verlängerte Werkbank der Partei. Und bei der FPÖ gibt es auch schon lange keine – nachdem die von Jörg Haider Angeworbenen meist problematisch geworden sind.