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Das Verhältnis zwischen den EU-Machtzentralen und den Mitgliedsstaaten hat sich in letzter Zeit unmerklich, aber gewaltig gewandelt. Lange war das, was in den Brüsseler Verträgen steht, ja auch europäische Realität gewesen: Die Union war eine wunderbare und total auf die Wirtschaft konzentrierte Rechtsgemeinschaft, alles war objektiv durch Gesetze, durch Richtlinien und Verordnungen geregelt, deren Einhaltung von Kommission und Gericht unparteiisch überwacht wurde. Und es war vor allem klar: Was nicht geregelt war, ging die Gemeinschaft nichts an. Jedes Land hatte noch das Recht auf sein Privatleben, also eine eigene Innenpolitik. Das ist heute total anders. Heute kommt einem fast das Wort Kolonialismus in den Sinn. Viele Beweisfälle zeigen, dass sich die EU den Mitgliedsstaaten gegenüber nicht mehr unparteiisch verhält, dass sie sich wie ein allmächtiger Diktator in alles einzumischen versucht, dass die einen Mitglieder als bevorzugte Lieblingskinder, die anderen aber als verhasste Schmuddelkinder behandelt werden, und dass die EU fast nur noch das tut, was sich aus den politischen Interessen zweier starker Mitglieder ergibt.
Dieser wachsende EU-Zentralismus ähnelt einem französisch-deutschen Kolonialismus. Denn die Regierungen dieser beiden Länder sind es, die weit über den rechtlichen Rahmen hinaus in der EU bestimmen, die auch in die anderen Mitgliedsländer hineinzuregieren versuchen. Was ihnen auch zunehmend gelingt.
Es ist aber Gift für die Zukunft der EU, wenn sich mehr als zwei Dutzend Länder zunehmend marginalisiert fühlen müssen, wenn sie fast nur noch dort Spielraum haben, wo sich Deutschland und Frankreich uneinig sind.
Wobei selbst diese Fälle der Uneinigkeit keine Garantie für eine Rückkehr eines echten europäischen Pluralismus sind. Denn die übergroßen Machtambitionen von Präsident Emmanuel Macron und die wachsende Altersapathie der deutschen Bundeskanzlerin führen dazu, dass es bald überhaupt nur noch einen einzigen europäischen Machtpol geben könnte, nämlich in Paris. Zwar hat das EU-Parlament sehr zum Ärger Macrons seine Kandidatin für den französischen Sitz in der EU-Kommission abgelehnt, aber auf politischer Ebene wie auf Ratsebene entwickelt sich Macron zum Dominator Europas, der auch gleichzeitig die Bindungen - eines wohl von ihm geführten - Europas an Amerika zerreißen will. Nach der alten politischen Regel: Jedes Machtvakuum wird durch den Ambitioniertesten gefüllt.
Was diese Entwicklung zur deutsch-französischen Doppelherrschaft beziehungsweise zur französischen Vorherrschaft wider alle verkündete Gleichheit der Mitgliedsländer besonders schlimm macht: Im Grund stehen beim Agieren der beiden Länder primitive parteipolitische Interessen der Regierenden im Vordergrund. Und die gehen in Berlin und Paris parallel: Beide Regierungen haben panische Angst vor dem Aufstieg der rechtspopulistischen Kräfte in ihrem Land. Sie erkennen darin die größte Bedrohung für ihre eigene Machtposition. Für Angela Merkel wie Macron ist es daher das Wichtigste, diesen Aufstieg zu bremsen. Das prägt auch ihr gesamtes Verhalten in der EU.
Diese Entwicklung lässt sich an ganz konkreten Beispielen beweisen.
Am aktuellsten – und provozierendsten – ist der Fall Italien. Dort ist die rechtspopulistische Lega von Innenminister Matteo Salvini im Sommer ganz knapp vor der Übernahme der ganzen Regierungsmacht gestanden. Im letzten Moment ist das durch einen überraschenden Coup verhindert worden: Die seit den letzten Wahlen in Opposition verbannten Sozialdemokraten des Partito Democratico und die Linkspopulisten von Cinque Stelle haben in Windeseile eine Regierung gebildet, um Neuwahlen und den sicheren Salvini-Sieg zu verhindern.
Das ist erstaunlich. Denn diese beiden Gruppierungen haben sich noch wenige Wochen davor gegenseitig mit Hass bombardiert.
War es nur die plötzliche Angst vor einem Salvini-Triumph, die zu dieser plötzlichen Partnerschaft geführt hat? Gut informierte italienische Beobachter lachen über diese Vorstellung. Viel wichtiger seien drängende Telefonate aus Brüssel, Paris und Berlin gewesen, bei denen diese neue Koalition zusammengeführt – um nicht zu sagen angeordnet worden ist.
Nun, vorerst lassen sich diese Telefonate nicht beweisen. Aber eindeutig beweisen lässt sich, dass sich das Verhalten der EU gegenüber Italien seit der Regierungsbildung komplett gewandelt hat. Europa zeigt sich in den beiden zentralen Problembereichen der italienischen Politik plötzlich extrem hilfreich: sowohl bei der Migrationsfrage wie auch beim italienischen Defizit.
Sein entschlossener Kampf gegen die Landung illegaler Migranten, die vor allem von deutschen NGO-Schiffen nach Italien gebracht werden sollten, hat Salvini zum Helden der italienischen Nation gemacht. Schauen doch dort seit etlichen Jahren etliche Stadtzentren aber auch Dörfer zur Empörung vieler Italiener mehr nach Afrika als nach Europa aus. Haben doch alle Regierungen seit dem Sturz der Herren Berlusconi und Gadhafi (die den Migrationszug durch ein Geheimabkommen noch verhindert hatten) das Zuwanderungs-Problem typisch italienisch einfach ignoriert.
Vom Rest Europas ist der böse Rechtspopulist Salvini in diesem Kampf völlig im Stich gelassen worden. Seit dem Sommer jedoch, seit seinem Sturz als Innenminister verhalten sich die EU-Machtzentren gegenüber Italien hingegen plötzlich völlig anders. Binnen weniger Wochen war eine neue Quotenregelung in Kraft: Wer auch immer von den NGO-Booten in Italien an Land gesetzt wird, wird nach Koordination durch die EU-Kommission zum allergrößten Teil von anderen europäischen Ländern übernommen. Überwiegend nehmen Deutschland und Frankreich die Afrikaner auf, aber auch drei kleinere, linksregierte Länder machen mit: Portugal, Luxemburg und Irland (Letzteres muss sich wegen seiner exponierten Situation in Sachen Brexit ja Paris und Berlin besonders demütig unterwerfen).
Prompt öffnet Italien seine Häfen wieder. Prompt hat seit September – also nach Salvinis Abgang – die illegale Migration nach Italien sofort wieder zugenommen, nachdem sie im ersten Teil des Jahres dank des Rechtspopulisten noch stark abgenommen hatte. Das musste jetzt sogar die neue Innenministerin zugeben.
Man muss schon sehr naiv sein, diese Änderung der europäischen Politik gegenüber Italien ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt für einen Zufall zu halten, weil halt gerade im letzten Sommer zwischen Berlin und Paris die alte "Welcome"-Begeisterung plötzlich wiederaufgelebt sei.
Der endgültige Beweis, dass das keine humanitäre Aktion, sondern eine eindeutige Belohnung für den italienischen Koalitionswechsel ist, wird durch das gleichzeitig Verhalten des Dreiecks Paris-Brüssel-Berlin gegenüber dem Balkan geliefert: Denn dort sehen sich andere EU-Staaten ebenfalls einer seit Jahresbeginn wieder ständig wachsenden Invasion illegaler Migranten gegenüber. Aber weder Paris noch Berlin will Griechenland, Bulgarien oder Zypern die Migranten abnehmen, die aus fast der gesamten islamischen Welt, insbesondere aus Pakistan, Afghanistan oder Syrien dorthin gekommen sind. Von der Situation in dem – eigentlich von der EU regierten! – Bosnien ganz zu schweigen, wo sich schon Zehntausende in Notlagern stauen. All diese Migranten haben seit einiger Zeit geheimnisvoller Weise wieder die Möglichkeit bekommen, aus der Türkei weiter Richtung Europa zu ziehen.
Natürlich muss man froh sein, dass sie vorerst nicht die Möglichkeit bekommen haben, nach Mitteleuropa weiterzuziehen. Das ist hier nur als Beweis angeführt, wie ungerecht, wie provozierend allen anderen gegenüber die Bevorzugung Italiens ist.
Noch naiver muss man sein, wenn man auch in einer zweiten fundamentalen Änderung der Haltung der EU-Kommission zu Italien keine Sauerei entdecken will. Dabei geht es um die Haltung zum großen italienischen Budgetdefizit. Es kann gar keine Frage sein: Da steckt die zweite Belohnung drinnen, dass Italiens neue Koalition den bösen Rechtspopulisten zumindest vorerst auf die Oppositionsbänke verwiesen hat.
Denn ganz Europa erinnert sich noch an die früheren wilden Kontroversen zwischen Brüssel und Rom um das alle Vorgaben und Regeln weit überschreitende italienische Defizit. Diese Kontroversen sind seit Sommer schlagartig abgeebbt. Und jetzt hat Kommissions-Vizepräsident Dombrovskis öffentlich erklärt: Derzeit werde nicht erwogen, Änderungen an den italienischen Budgetplänen zu fordern. Man habe lediglich um "Erläuterungen" zu ein paar Bedenken gebeten.
Dabei hat sich an der für den Euro gefährlichen Schuldenfreudigkeit der Italiener absolut nichts geändert. Ziemlich durchschaubar und ziemlich widerlich.
Während Italien also von der EU neuerdings gehegt und gepflegt wird, geht es den mittelosteuropäischen EU-Mitgliedern fast noch schlechter als jenen auf dem Balkan. Diese werden "nur" – weil sie für die parteipolitischen Interessen Frankreichs und Deutschlands irrelevant sind – ignoriert und sich selbst überlassen. Ungarn, Polen und Tschechien werden hingegen ständig scharf attackiert. Gegen sie treibt die Kommission ein Verfahren nach dem anderen vor den EU-Gerichtshof. Weil das neue Richter-Pensionsalter in Polen angeblich einen dramatischen Bruch des Rechtsstaats darstellt, weil in Ungarn eine Privatuniversität nicht mehr zugelassen wird, weil diese drei Länder sich gegen die Flüchtlingsumverteilung sträuben.
Hinter dem Vorgehen gegen diese Staaten steht aber in Wahrheit Hass. Und zwar parteipolitisch motivierter Hass. Denn diese Länder haben es gewagt, einen klar rechtspopulistischen Kurs zu fahren (auch wenn die Regierungsparteien großteils noch formal den klassischen Parteifamilien angehören): Sie betonen ihre nationalen Interessen, statt die erwarteten Jubelchöre auf die EU zu singen. Und sie haben die illegale Zuwanderung aus außereuropäischen Ländern sehr erfolgreich verhindert – was ja auch die deutschen und französischen Bürger gerne von ihren eigenen Regierungen gesehen hätten.
Was Paris und Berlin besonders ärgert: Diese Länder sind seit Jahren die wirtschaftlich am stärksten wachsenden Europas, sie sind enorm wettbewerbsfähig, haben nicht so viel Überregulierung, haben sensationell niedrige Steuersätze und Arbeitslosenraten und werden auch bald keine sonderlichen Finanzmittel der EU mehr brauchen.
Sie sind also zu absoluten Gegenmodellen zu den dekadenten alten Mächten in Paris und Berlin geworden. Das ärgert die dortigen Machthaber natürlich enorm. Man hat geglaubt, in den Reformstaaten gefügige Satellitenstaaten zu bekommen, doch sind das so selbstbewusste Erfolgsmodelle geworden, die eine ganz andere Wertordnung haben.
Diese Mittelosteuropäer werden sich daher aber auch mit absoluter Sicherheit nicht durch EU-Schikanen in die Knie zwingen lassen.
Das beruhigt. Aber es droht eine andere Gefahr: Je unfreundlicher die EU-Mächtigen Mittelosteuropa behandeln, umso mehr wird man sich dort umzuorientieren beginnen. Richtung Osten, Richtung Moskau, Peking, Ankara. Sie haben schon begonnen.
Ohne dass hier die gesamte Brexit-Entwicklung abgehandelt werden soll, sei in unserem Zusammenhang ein einziger Aspekt hervorgehoben: Paris hat sich im Grunde nie über die britische EU-Mitgliedschaft gefreut. Es hat daher auch in den letzten Jahren jede Konzession an die Briten verhindert, die diese vielleicht in der EU gehalten hätte.
Deutschland wiederum hat nicht begriffen, dass es eigentlich enormes Interesse an einem Land wie Großbritannien mit seiner marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Orientierung haben müsste. Europa bräuchte dringend ausreichendes Gegengewicht zu den französischen Dominanzbestrebungen und zu den südeuropäischen Schuldenstaaten. Aber statt sich mehr an die Briten zu wenden hat Deutschland (und die willenlosen Kleineren sowieso) beim Brexit immer die Pariser Linie mitgetragen: Keine Debatte – die Klubregeln werden eingehalten und wegen der Briten sicher nicht geändert. Da könnte ja jeder kommen.
Paris hat immer durchgesetzt, dass alle wichtigen EU-Zentralen in französischsprachigen Städten liegen: Brüssel, Straßburg, Luxemburg. Dennoch hat es zu seinem Ärger nicht verhindern können, dass dank der Nord- und Osteuropäer, wo niemand französisch spricht, Englisch heute die dominierende EU-Sprache geworden ist. Und das auch ohne Großbritannien bleiben wird.
Erfolgreicher war Paris aber fast immer bei der Besetzung des Kommissionspräsidenten: Dabei führte Paris auch heuer zusammen mit Berlin praktisch das alleinige Wort. Kein Zufall, dass deshalb die meisten EU-Präsidenten aus Luxemburg gekommen sind, wo deutsch wie französisch geredet wird. Und heuer hat Macron sogar sowohl bei der Besetzung dieser Funktion wie auch bei der ebenso wichtigen Führung der EZB das entscheidende Wort geführt.
Dem scheidenden Präsidenten Juncker sind sogar mehrmals Bemerkungen entschlüpft, dass halt Frankreich ein ganz besonderes EU-Mitglied sei, für das die allgemeinen Regeln nicht so streng gelten würden.
Ja, eh. Wir glauben ohnedies nicht mehr, dass in der EU alle Länder gleich sind.
PS: Schließlich wäre auch zu prüfen, ob es in diesem Zusammenhang nicht auch einen "Fall Österreich" gibt. Aber diese Frage ist einen eigenen Text wert. Der in den nächsten Tagen hier zu finden sein wird.