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Die Wahrscheinlichkeit ist groß geworden, dass es zu einer Koalition zwischen der ÖVP und den Grünen kommt. Viele Österreicher fragen sich freilich zunehmend verwundert und zunehmend empört: Warum eigentlich? Haben sie nicht selbst zu 54 Prozent Parteien, die rechts der Mitte stehen, ins Parlament gewählt? Warum holt dann Sebastian Kurz ausgerechnet die allerlinkeste Partei in die Regierung? Die Suche nach einer Antwort führt zu einigen erstaunlichen Ergebnissen, die immer mehr Wählern eine üble Schlussfolgerung aufdrängt: Sie sind betrogen, hineingelegt worden. Und zwar von ÖVP wie FPÖ.
Nur haben es die Wähler halt nicht gleich gemerkt. Denn dieser Wechsel von der Rechtskoalition Schwarz-Blau auf eine Rechts-Links-Koalition Schwarz-Grün ist ihnen ja auch nie klar und offen kommuniziert worden, sondern nur durch viele kleine Schritte hinter verschlossenen Türen erfolgt, die sich vielen bürgerlichen Wählern in ihrer Logik aber nie ganz erschlossen haben.
Da dieser Wechsel noch nicht endgültig fix ist, haben sich viele Bürgerliche auch noch nicht wirklich ernsthaft mit ihm befasst. Sie hoffen immer noch, dass diese verwirrende Scharade letztlich doch gut ausgehen wird - nämlich mit einem neuerlichen Schwarz-Blau. Langsam aber wächst die Befürchtung, dass es doch Schwarz-Grün werden wird. Was die Menschen zunehmend zu dem Schluss bringen wird: Sie sind von ÖVP wie FPÖ betrogen worden.
Diese Schlussfolgerung wird zur Gewissheit werden, wenn die Menschen von ÖVP und FPÖ nicht endlich klarere Antworten als bisher auf folgende Fragen bekommen:
Nein, nichts davon verstehen die bürgerlichen Wähler. Sie haben nie eine klare Antwort bekommen. Der Jubel der linken Medien über den Linksruck der österreichischen Politik trotz eines klar rechten Wählerentscheids ist ihnen schon gar keine Antwort auf ihre Frage.
Die Menschen wissen nur, dass sie in den ersten Stunden nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses eigentlich noch fest damit gerechnet haben, dass es zu einer Wiederauflage von ÖVP-FPÖ kommen wird. Aus mehreren Gründen:
Dennoch kommt es jetzt offensichtlich anders. Kurz kann sich jetzt ein Scheitern der Verhandlungen zwischen Schwarz und Grün kaum noch leisten, hätte er sich doch in diesem Fall nach der langen Phase der exklusiven Gespräche mit den Grünen und des demonstrativen Desinteresses an den anderen Parteien in eine sehr schwierige Position gebracht.
Kurz müsste sich dann ständig fragen lassen:
Wenn Kurz aber nun weiter den grünen Weg geht, dann wird er das wohl stark mit der scheinbaren blauen Absage und mit den ungelösten inneren Problemen bei SPÖ und FPÖ zu begründen suchen. Da muss man ihn aber schon fragen: Glaubt er ernsthaft, dass die inneren Probleme bei den Freiheitlichen und Sozialdemokraten größer sind als die, die es bei den Grünen gibt?
Schauen wir uns nur die allergrößten Probleme an, die es bei den potenziellen Partnern zu erwarten gibt:
Noch absurder ist ein Zusammengehen mit den Grünen sachpolitisch: Auch die freundlichste Gesprächstherapie kann nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grünen immer die radikalsten Immigrations-Lobbyisten der Republik gewesen sind und bleiben werden (bei denen es nicht einmal einen Hauch eines Doskozil gibt). Und dass die ÖVP jene Partei ist, die am stärksten Steuerentlastungen und ausgeglichene Staatsbudgets versprochen hat, während die von den Grünen verlangte Klimapolitik zur "Rettung des Planeten" unweigerlich große Belastungen der Menschen mit sich bringen wird.
Da sich die ÖVP all diese peinlichen Fragen aber nicht rechtzeitig gestellt oder sie ignoriert hat, wird es angesichts der vielen schon konsumierten Verhandlungswochen wohl zu Schwarz-Grün kommen. Alles andere wäre von Kurz einfach nicht mehr zu rechtfertigen.
Die Vorwürfe vieler seiner Wähler, dass er seine Wahlkampfankündigungen ohne Not bricht, wird er halt mit dem ständigen Hinweis zu entkräften suchen, dass auch die Freiheitlichen die Wähler mit ihrer zumindest scheinbaren Absage an eine Regierungsteilnahme eindeutig betrogen haben, dass sie schuld sind, dass die ÖVP zu den Grünen wechselt.
Dennoch kann kein Zweifel sein: Wenn Kurz gewollt hätte, dann hätte er die FPÖ leicht aus ihrer Kollektivdepression herausholen und zum Mitregieren motivieren können, indem er ihr ein trotz der Kräfteverschiebung gutes Angebot macht. Aber er wollte eben gar nicht.
Mit dieser politischen Entwicklung des Sebastian Kurz steht Österreich vor dem zweiten großen Rätsel dieses Jahres (neben der weiterhin trotz der großsprecherischen Andeutungen von Innenminister Peschorn offenen Frage, wer Strache eigentlich die Video-Falle gestellt hat): Was hat Kurz zu der fundamentalen Änderung seiner Politik bewogen? Hängen der von Kurz ausgelöste Bruch der Koalition im Mai und die Entscheidung für die Grünen im Herbst zusammen? Folgen sie gar einem schon von Anfang an feststehenden Design?
Es gibt mehrere unterschiedliche, sich zum Teil ergänzende Erklärungen für sein Verhalten:
Diese letzte Variante verdient eine eingehende Untersuchung, entspricht sie doch genau dem, was vor kurzem hier auch in Hinblick auf die Entwicklung in der EU generell analysiert worden ist. Die Motive der Genannten für eine solche Druckausübung sind klar: In Deutschland wie Frankreich versuchen die Machthabenden verzweifelt, einen Korridor der Unberührbarkeit gegen den Aufstieg der landeseigenen Rechtspopulisten aufzurichten.
Daher sahen sie in der österreichischen Rechtskoalition – die insbesondere in Deutschland von vielen Menschen sehr positiv beurteilt worden ist – ein gefährliches Präjudiz. Österreich hat in den letzten zwei Jahren bewiesen, dass Politik mit Rechtspopulisten durchaus geht, und populär wird. Dieser Eindruck musste unbedingt zerstört werden, wie er auch in Italien – vorerst – zerstört worden ist, wie er in Mittelosteuropa zumindest bekämpft wird.
Auch die Motive, warum Kurz eingelenkt hat, sind nachvollziehbar. Wer will schon jahraus, jahrein als Außenseiter in einer solchen Runde sitzen. Auch Kurz sonnte sich halt lieber neben einem Macron oder einem Tusk als neben den heimischen "Größen". Auch ist ihm klar, dass jeder Regierungschef in der EU oft auch die Unterstützung der anderen benötigt, wenn er etwas durchbringen will.
Vor allem sieht er, wie die bei den Mächtigen unbeliebten Regierungen von der EU ständig böse schikaniert werden. So haben Österreich, Ungarn, Bulgarien und Rumänien allen Ernstes jetzt ein EU-Vertragsverletzungsverfahren angehängt bekommen, weil sie untereinander einen automatischen Austausch von Polizeidaten begonnen haben. Das dürfen sie angeblich nicht ohne Erlaubnis der EU! Dabei schadet eine solche sinnvolle Sache außer Verbrechern niemandem. Aber wenn man in Brüssel nicht genug ernsthafte Dinge gegen die Unbotmäßigen findet, dann schikaniert man sie halt mit solchen Einmischungen.
Und wenn es gleichzeitig daheim - wie in jeder Koalition - immer jemanden gibt, der einem widerspricht, der einem immer wieder blöde Journalistenfragen beschert, dann wechselt man halt irgendwann die Fronten. Und bekommt sofort Lob der EU-Mächtigen. Von Juncker sogar öffentlich: "Ich äußere mich nicht zur Regierungsbildung - obwohl das, was sich anbahnt, mir sehr gut gefällt." Womit er sich doch geäußert hat und das sogar sehr eindeutig. Endlich keine Schmuddelkinder mehr.
Dass sich die anfangs mutige Linie des Sebastian Kurz zunehmend dem linkslastigen europäischen Mainstream angenähert hat, hat man im Frühjahr auch schon an der Änderung seines Verhaltens gegenüber Ungarn ablesen können. Noch im Wahlkampf 2017 haben Kurz und Strache bei einer TV-Debatte geradezu gestritten, wer von ihnen beiden den besseren Draht zu Viktor Orbán hätte. Jedoch: Als es 2019 sowohl in den EU-Gremien wie auch in der Fraktion der Europäischen Volkspartei um die Isolierung und Bestrafung Ungarns ging, hat sich Kurz in keiner Weise mehr vor den Nachbarn gestellt. Er hat vielmehr gesehen, wie es einem Regierungschef geht, der sich den Großen in den Weg stellt.
Auch wenn noch vieles im Fluss ist: Die von Tag zu Tag zahlreicher werdenden Puzzlesteine ergeben zunehmend ein erschreckendes Bild. Und dieses Bild lautet: Kurz ist ein ganz normaler europäischer Mainstream-Politiker geworden. Nur seine Wähler sollen das möglichst nicht merken, damit sie ihm nicht davonlaufen.
Wie lange kann ihm das glücken? Oder sieht er doch noch Fünf nach Zwölf ein, dass er sich auf einen völlig falschen Weg begeben hat?