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Österreich steuert auf etwas zu, das vor wenigen Wochen noch völlig undenkbar gewesen ist: nicht nur auf vorzeitige Wahlen, sondern auch auf einen Lagerwahlkampf – aber keineswegs einem zwischen den beiden Rechtsparteien und den drei Linksparteien, was ja bis Mai die einzige vorstellbare Konstellation für die eigentlich erst in drei Jahren erwarteten Neuwahlen gewesen ist. Vielmehr sind über Nacht neue Achsen quer zur bisherigen Rechts-Links-Trennlinie entstanden. Das ist eine völlig unerwartete Folge des mit kriminellen Methoden zustande gekommenen Videos, in dem der damalige FPÖ-Chef H.C. Strache über ebenfalls kriminelle Machenschaften schwadroniert hat.
In diesem Wahlkampf werden die vier zentralen Fragen zu Ibiza wohl viel weniger Rolle spielen, als man vielerorts noch glaubt. Diese Fragen lauten:
Zu all dem werden wir – über die täglichen, freilich nicht ganz zusammenpassenden Puzzlesteine hinaus – zweifellos noch Etliches erfahren, wenn auch vielleicht nie die ganze Wahrheit.
Aber irgendwann werden die Videosequenzen aus Ibiza beim dreihundertsten Abspielen niemanden mehr interessieren. Hingegen sind politisch und langfristig die durch Ibiza ausgelösten Folgen und kopernikanischen Veränderungen der Parteienwelt viel bedeutsamer.
Schien es zuerst so, dass der sofortige Rücktritt des bisweilen offensichtlich zu geistiger Umnachtung neigenden Straches und seines eitel-dummen Verführers Gudenus nach Ibiza der Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ ein – wenn auch beschädigtes – Überleben ermöglichen würde, folgte dann eine fatale Eskalation mit möglicherweise dramatischen Langfristfolgen. Sebastian Kurz verlangte einen Tag danach plötzlich und überraschend auch den Rücktritt von Innenminister Herbert Kickl und entließ diesen auch wirklich, als Kickl nicht freiwillig gehen wollte. Das ist ein in der gesamten Nachkriegsgeschichte noch nie dagewesener Akt. Darauf traten in Solidarität mit Kickl alle übrigen freiheitlichen Minister zurück.
Diese Reaktion war aber für jeden Österreicher mit politischem Denkvermögen absehbar gewesen. Die Freiheitlichen lassen sich nicht ohne nachvollziehbaren Grund ihren stärksten Mann herausschießen. Sie haben gespürt: Ab diesem Zeitpunkt war keine Koalition auf Augenhöhe mehr möglich, obwohl gerade dieser gegenseitige Respekt zwischen Schwarz und Blau die Regierungsarbeit in diesen eineinhalb Jahren so positiv geprägt und etliche, wenn auch unzureichende Reformen ermöglicht hat. Das war jedenfalls ein gewaltiger Unterschied zum rot-schwarzen Jahrzehnt davor, das von gegenseitigen Blockaden, Aversion und Stillstand geprägt gewesen ist. Und nach dem sich fast niemand in ganz Österreich zurücksehnt.
Viel weniger logisch erklärt sich bis heute aber der Schritt von ÖVP-Chef Kurz. Warum hat er Kickl mit einem solchen Eklat hinausgeworfen, dass wahrscheinlich Schwarz-Blau dadurch für längere Zeit unmöglich ist? Dafür gibt es mehrere Erklärungsversuche, aber keine zwingenden Beweise. Auffällig ist nur, dass zwar viele Österreicher darüber schockiert und betrübt sind und über die Zusammenhänge rätseln, dass aber alle Mainstream-Medien der zentralen Frage völlig aus dem Weg gehen: Warum hat man die Regierung scheitern lassen, nachdem schon ein klarer Modus zu ihrem Überleben gefunden worden war?
Dieses Desinteresse zeigt, dass den Mainstream-Medien nur eines wichtig ist: dass die verhasste bürgerliche Regierung weg ist.
Die Bürger aber fragen sich: Was ist da entscheidend gewesen? Welches Motiv hat Sebastian Kurz angetrieben? Eine ganze Reihe solcher Motive ist denkbar, von denen aber jedes mit einem Fragezeichen versehen bleibt, das nur Kurz selber beantworten könnte (was er aber sicher über seine dürre offizielle Begründung hinaus nicht tun wird):
Ohne absolute Mehrheit aber wird Kurz erst recht wieder von Koalitionssorgen bei der Regierungsbildung geplagt sein. Und dann werden seine Karten mit Sicherheit viel schlechter sein als in der Zeit seit 2017.
Denn Kurz hat jetzt sowohl gegenüber der SPÖ wie auch gegenüber der FPÖ die Brücken weitgehend abgebrochen. Und es gibt keinerlei Anzeichen, dass sie irgendjemand wieder aufbauen würde.
Gegenüber der SPÖ wird nicht einmal versucht, solche Brücken zu bauen. Kurz hat die Sozialisten während seiner Zeit in den Regierungen Faymann und Kern kennen und verachten gelernt. Und inzwischen ist die SPÖ noch viel weiter abgestürzt, in Österreich wie in vielen anderen Ländern. Überdies ist die derzeitige SPÖ-Chefin eindeutig eine auf Abruf (ebenfalls nach deutschem Muster).
Aber auch gegenüber der FPÖ wird Kurz, selbst wenn er es wollte, ein Wiederaufbau der Brücken nicht gelingen. Zwischen Schwarz und Blau kann es – politisch, emotional wie inhaltlich – niemals wieder so harmonisch werden wie in den eineinhalb Jahren seiner bisherigen Kanzlerschaft. Auch wenn es immer wieder Anzeichen gegeben hat, dass es hinter den Türen der Koalition öfter gekracht hat, hat die Koalition doch sehr gut funktioniert.
Derzeit ist jedenfalls nicht einmal vorstellbar, wie es überhaupt zu einer neuen Koalition mit der FPÖ kommen könnte: Diese Partei wird nämlich mit Sicherheit nicht ohne ihren besten Mann und schärfsten Denker, den innerparteilich extrem beliebten Kickl, in die Regierung gehen. Kickl ist mit seinem klaren Anti-Migrationskurs "das" Markenzeichen der FPÖ im wichtigsten Themenfeld der Partei. Käme es also doch wieder zu einem Schwarz-Blau mit Kickl, dann würde dieser nach allem, was in den letzten Wochen geschehen ist, für Kurz noch viel unangenehmer werden, als wenn dieser Kickl gleich im Amt belassen hätte.
Die einzige Partner-Perspektive der ÖVP sind daher die beiden Kleinparteien, die Neos und die Grünen. Da es sich möglicherweise mit keiner der beiden allein ausgehen dürfte, wird wohl nur eine Dreierkoalition eine ausreichende Mehrheit schaffen können. Dreierkoalitionen sind aber immer viel schwieriger und erpressungsanfälliger als Zweierkoalitionen.
Vor allem aber wäre für viele bürgerliche Wähler eine Koalition mit den Grünen ein absoluter Alptraum. Deswegen haben ja auch die deutschen FDP-Liberalen (die inhaltlich der CDU näherstehen als die Neos der ÖVP) ganz klar Nein zu einer Koalition mit den Grünen gesagt. Sie wissen, wo die Grünen stehen (obwohl diese in Deutschland weniger links sind als die österreichischen!). Sie wissen: Mit den Grünen ist für eine Partei rechts der Mitte kein vernünftiges Regieren möglich.
Die Wähler, die Kurz gewählt haben, sind in vielen gesellschaftspolitischen Fragen von den Neos inhaltlich weit entfernt, viel weiter als von den Freiheitlichen. Von den Grünen aber sind sie überhaupt Lichtjahre weit entfernt. Wer daran zweifelt, gehe die einzelnen Politikfelder durch.
Wirtschafts- und Sozialpolitisch würde es zwar zwischen ÖVP und Neos recht gut gehen – auch wenn die Neos irgendwie die ÖVP-Hochburg Wirtschaftskammer beschneiden wollen. Die österreichischen Grünen stehen jedoch ganz eindeutig links von den Sozialdemokraten, und sie werden sich in ihrem gegenwärtigen Höhenflug (der durch viele überwechselnde Ex-SPÖ-Wähler noch höher werden wird) nicht mit einem Linsengericht abspeisen lassen. Andererseits droht der glasklar wirtschaftsliberale Kurs der Neos die teilweise durch lange Koalitionen mit Sozialisten deformierte ÖVP zu überfordern.
In allen anderen Politikfeldern stehen aber auch die Neos gegen das, wofür Kurz beziehungsweise seine Türkis-Wähler stehen. Und die Grünen sowieso:
Wo soll da die geringste gemeinsame geistige Basis herkommen, die über die ersten Bussi-Bussi-Flitterwochen und den anfänglichen Jubel der Bobo-Szene hinaus anhalten kann?
Grün wie Pink werden beide überdies perfekt mit den (ihnen weit näher als der ÖVP stehenden) Medien kooperieren können. Diese Front wird daher mit großem Erfolg die Volkspartei in all den genannten Feldern vor sich her treiben können.
Vielleicht kann sich Kurz das alles noch nicht ganz vorstellen, aber er wird sich in einer solchen Dreierkoalition noch jeden Tag nach den Zeiten mit den Blauen zurücksehnen.
Die Freiheitlichen werden im Wahlkampf wohl täglich die Perspektive trommeln, dass Kurz die Grünen in die Regierung bringen wird – und dieser wird das zumindest nicht ausschließen wollen. Sie werden damit etliche bisherige Kurz-Wähler von einer Stimme für die ÖVP abbringen können. Die Freiheitlichen werden das spätestens dann tun, sobald sie erkannt haben, wie schwachsinnig ihr gegenwärtiger Hauptakzent ist, nämlich der Kampf gegen irgendwelche schwarzen Netzwerke im Innenministerium. Aber im eigentlichen Wahlkampf dürfte die Botschaft der Freiheitlichen dann so lauten: Wenn bürgerliche Wähler grüne Minister und grüne Politik verhindern wollen, können sie nur die FPÖ wählen.
Während auf der einen Seite ein konzentrierter Wahlkampf gegen das durchaus realistische Gespenst Schwarz-Grün stattfinden wird, wird umgekehrt auf ÖVP-Seite der Lagerwahlkampf der neuen Art ganz massiv gegen Rot-Blau geführt werden. Denn auch die Freiheitlichen können nicht glaubwürdig ausschließen, dass sie mit der SPÖ kooperieren werden. Dazu gab es jetzt zu viele gemeinsame Beschlüsse.
Die ÖVP hat sofort nach Scheitern der Regierung begonnen, diese Rot-Blau-Perspektive an die Wand zu malen. Zwar ist es angesichts der gegenwärtigen Umfragen eher fraglich, ob es dafür eine Mehrheit geben wird, werden doch SPÖ wie FPÖ Mandate verlieren (genauso wenig könnte es daher für das von der SPÖ erträumte Rot-Grün-Pink reichen). Aber das gemeinsame Misstrauensvotum von SPÖ und FPÖ gegen die Regierung Kurz hat den Österreichern jedenfalls sehr anschaulich gezeigt, dass diese Möglichkeit sehr konkret geworden ist.
Deshalb können alle Beteuerungen, irgendeine Konstellation werde es "nie und nimmer" geben, nicht mehr ganz glaubwürdig sein. Gewiss sind für ein Rot-Blau vor allem auf roter Seite noch viele emotionale Hürden zu überwinden. Aber der gemeinsame Hass auf Kurz verbindet. Und Hass kann Wunder wirken.
Ich würde jedenfalls eine rote Minderheitsregierung unter einem Hans Peter Doskozil mit vereinbarter Tolerierung samt Mitsprache durch die Blauen nicht ganz ausschließen:
Wenn die SPÖ diese Kurve rechtzeitig kratzt, dann ist in diesem Lagerwahlkampf Schwarz-Grün vs. Rot-Blau wirklich alles drinnen. Und Tatsache ist, dass es zwischen Rot und Blau seit Mai praktisch keine scharfen Töne mehr gibt.
Es könnte also noch sehr spannend werden. Und Sebastian Kurz könnte sich über seine Überreaktion nach Ibiza noch sehr ärgern.
Österreich hingegen sollte sich freuen, wenn die SPÖ in Sachen Migration vernünftig wird. Es sollte sich aber zugleich panisch davor fürchten, was Rot und Blau alles mit Wirtschaft, Budget und Staatsschulden anstellen werden, nur um die Wähler populistisch zu bestechen. Die Zeit der gleichzeitigen Vernunft in beiden großen Politikfeldern ist hingegen nach eineinhalb Jahren vorbei.
Dieser Text ist in ähnlicher Form im Magazin "Frank & Frei" erschienen.