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Lagerwahlkampf mit ganz neuen Lagern

Österreich steuert auf etwas zu, das vor wenigen Wochen noch völlig undenkbar gewesen ist: nicht nur auf vorzeitige Wahlen, sondern auch auf einen Lagerwahlkampf – aber keineswegs einem zwischen den beiden Rechtsparteien und den drei Linksparteien, was ja bis Mai die einzige vorstellbare Konstellation für die eigentlich erst in drei Jahren erwarteten Neuwahlen gewesen ist. Vielmehr sind über Nacht neue Achsen quer zur bisherigen Rechts-Links-Trennlinie entstanden. Das ist eine völlig unerwartete Folge des mit kriminellen Methoden zustande gekommenen Videos, in dem der damalige FPÖ-Chef H.C. Strache über ebenfalls kriminelle Machenschaften schwadroniert hat.

In diesem Wahlkampf werden die vier zentralen Fragen zu Ibiza wohl viel weniger Rolle spielen, als man vielerorts noch glaubt. Diese Fragen lauten:

  • Wer steckt hinter der mafiosen Videofalle? Wer hat einem kriminellen Anwalt, der sich als "zivilgesellschaftlich", also links outet und deswegen sein Handeln für gerechtfertigt hält, und einem Detektiv das Geld für diese Aktion gegeben oder sie gar dazu angestiftet?
  • Was ist an dem ungeheuerlichen Gerede von Strache in Hinblick auf seine Bestechlichkeit und illegale Parteienfinanzierung wahr und was bloße Prahlerei im Alkohol-, Sex- und Drogenrausch?
  • Warum hat sich die Staatsanwaltschaft so spät auch für das erstgenannte Delikt zu interessieren begonnen?
  • Warum veröffentlichen die deutschen Linksmedien "Süddeutsche" und "Spiegel" nicht das ganze Video, sodass man sich ein viel besseres Urteil zu den ersten beiden Fragen machen könnte?

Zu all dem werden wir – über die täglichen, freilich nicht ganz zusammenpassenden Puzzlesteine hinaus – zweifellos noch Etliches erfahren, wenn auch vielleicht nie die ganze Wahrheit.

Aber irgendwann werden die Videosequenzen aus Ibiza beim dreihundertsten Abspielen niemanden mehr interessieren. Hingegen sind politisch und langfristig die durch Ibiza ausgelösten Folgen und kopernikanischen Veränderungen der Parteienwelt viel bedeutsamer.

Schien es zuerst so, dass der sofortige Rücktritt des bisweilen offensichtlich zu geistiger Umnachtung neigenden Straches und seines eitel-dummen Verführers Gudenus nach Ibiza der Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ ein – wenn auch beschädigtes – Überleben ermöglichen würde, folgte dann eine fatale Eskalation mit möglicherweise dramatischen Langfristfolgen. Sebastian Kurz verlangte einen Tag danach plötzlich und überraschend auch den Rücktritt von Innenminister Herbert Kickl und entließ diesen auch wirklich, als Kickl nicht freiwillig gehen wollte. Das ist ein in der gesamten Nachkriegsgeschichte noch nie dagewesener Akt. Darauf traten in Solidarität mit Kickl alle übrigen freiheitlichen Minister zurück.

Diese Reaktion war aber für jeden Österreicher mit politischem Denkvermögen absehbar gewesen. Die Freiheitlichen lassen sich nicht ohne nachvollziehbaren Grund ihren stärksten Mann herausschießen. Sie haben gespürt: Ab diesem Zeitpunkt war keine Koalition auf Augenhöhe mehr möglich, obwohl gerade dieser gegenseitige Respekt zwischen Schwarz und Blau die Regierungsarbeit in diesen eineinhalb Jahren so positiv geprägt und etliche, wenn auch unzureichende Reformen ermöglicht hat. Das war jedenfalls ein gewaltiger Unterschied zum rot-schwarzen Jahrzehnt davor, das von gegenseitigen Blockaden, Aversion und Stillstand geprägt gewesen ist. Und nach dem sich fast niemand in ganz Österreich zurücksehnt.

Viel weniger logisch erklärt sich bis heute aber der Schritt von ÖVP-Chef Kurz. Warum hat er Kickl mit einem solchen Eklat hinausgeworfen, dass wahrscheinlich Schwarz-Blau dadurch für längere Zeit unmöglich ist? Dafür gibt es mehrere Erklärungsversuche, aber keine zwingenden Beweise. Auffällig ist nur, dass zwar viele Österreicher darüber schockiert und betrübt sind und über die Zusammenhänge rätseln, dass aber alle Mainstream-Medien der zentralen Frage völlig aus dem Weg gehen: Warum hat man die Regierung scheitern lassen, nachdem schon ein klarer Modus zu ihrem Überleben gefunden worden war?

Dieses Desinteresse zeigt, dass den Mainstream-Medien nur eines wichtig ist: dass die verhasste bürgerliche Regierung weg ist.

Die Bürger aber fragen sich: Was ist da entscheidend gewesen? Welches Motiv hat Sebastian Kurz angetrieben? Eine ganze Reihe solcher Motive ist denkbar, von denen aber jedes mit einem Fragezeichen versehen bleibt, das nur Kurz selber beantworten könnte (was er aber sicher über seine dürre offizielle Begründung hinaus nicht tun wird):

  1. Weiß Kurz etwas über eine Involvierung von Kickl in irgendwelche schmutzigen Dinge, von denen Strache in seinem Rausch groß geblasen hat? Für eine solche Involvierung gibt es aber bis heute keine ernsthaften Indizien. Denn der Umstand, dass Kickl zum Zeitpunkt der Entstehung des Ibiza-Videos FPÖ-Generalsekretär gewesen ist, kann ja alleine nicht als Beweis für irgendetwas gelten.
  2. Hat Kurz ernstlich gemeint, dass Kickl als Innenminister die Erhebungen zu Ibiza unterbinden oder bremsen kann? Sollte er das ernsthaft geglaubt (und nicht nur als Begründung vorgeschoben) haben, dann hat er wenig Ahnung über die Abläufe in der Justiz. Im Vorverfahren ist nämlich eindeutig die Staatsanwaltschaft Herr des Verfahrens. Sie kann dieses mit allen Vernehmungen sogar selbst führen. Die Polizei ist nur Befehlsempfängerin. In all den vielen Justiz-Skandalen der letzten Jahre waren es immer Staatsanwälte, nicht Polizeibeamte, welche auch die entscheidenden Fehler begangen haben. Indem sie desinteressiert agiert haben; oder indem sie das Verfahren gegen einen Unschuldigen ein Jahrzehnt in die Länge gezogen haben; oder indem sie Vorwürfe aus ideologischer Motivation maßlos übertrieben haben (und dann vor einem unabhängigen Richter gescheitert sind). Es ist jedenfalls völlig unvorstellbar, dass sich Kickl in irgendeiner auch noch so geringen Weise in die diesbezüglichen Erhebungen einmischen hätte können, ohne dass das sofort ganz Österreich erfahren hätte.
  3. Wäre es wirklich nur um Kurz-Ängste wegen der Rolle Kickls bei den Ibiza-Erhebungen gegangen, bliebe jedenfalls völlig unklar, warum dann nicht ein Modell wie der Weisungsrat im Justizministerium installiert worden ist (der einst geschaffen worden ist, um jeden schiefen Anschein zu vermeiden, nachdem Justizminister Brandstetter vor seiner Ministerzeit als Strafverteidiger in einige spektakuläre Fälle involviert gewesen ist).
  4. Ist Kurz von Bundespräsident Van der Bellen mit der Drohung erpresst worden, dass dieser die Regierung entlassen werde, wenn Kickl nicht von Kurz hinausgeworfen wird? Eine solche Drohung des grünen Präsidenten wäre in seinem Hass auf die  FPÖ und Kickl durchaus denkbar. Aber es wäre sehr überraschend, wenn sich Kurz von dem bisher nicht gerade als tatkräftig aufgetretenen Bundespräsidenten ins Bockshorn hätte jagen lassen.
  5. Hat Van der Bellen nicht gedroht, sondern Kurz mit dem Versprechen gelockt, dass er eine parlamentarische Mehrheit für eine Kurz-Minderheitsregierung organisieren werde? Auf ein solches leeres Versprechen, das bekanntlich Null Bremskraft gegenüber dem rot-blauen Misstrauensvotum hatte, hineingefallen zu sein, wäre sehr peinlich für Kurz.
  6. Ist Kurz von Allmacht-Phantasien geprägt, derentwegen er nur Unterwürfigkeit und ministrantenartiges Gehabe erträgt? Auch das ist nicht auszuschließen, wäre aber eigentlich ein Widerspruch zu der Intelligenz, die ihm zweifellos zu attestieren ist. 
  7. Ist der Innenminister dem Bundeskanzler als widerborstigster und selbstbewusstester Angehöriger der FPÖ-Regierungsmannschaft so sehr auf die Nerven gegangen, dass dieser die erstbeste Gelegenheit ergriffen hat, Kickl loszuwerden? Das spräche gegen die Nerven des ÖVP-Chefs.
  8. Hat Kurz die politische Erfahrung gefehlt, um in einer so heiklen Lage die richtigen Entscheidungen zu treffen? Das wäre möglich, würde aber angesichts der von Kurz schon gezeigten Routine sehr überraschen.
  9. Sind ihm die täglichen Sorgen mit einem naturgemäß oft anders denkenden Koalitionspartner generell auf die Nerven gegangen? Dafür gibt es einige Indizien – das würde aber Kurz ungeeignet machen, irgendeine Koalition zu regieren, weil es in jeder ununterbrochen Konflikte geben wird. Jedenfalls hatte die schwarz-blaue Regierung den Koalitionsalltag bis Ibiza weit harmonischer und konfliktärmer gestaltet, als es zuvor bei Rot-Schwarz in Österreich oder den Koalitionsregierungen in den beiden größten Nachbarländern gelungen war, wo in Deutschland wie Italien ganz offener Konflikt zwischen den Partnern geherrscht hat. Das war eindeutig das Hauptverdienst von Kurz.
  10. Hat Kurz ein so utopisch idealistisches Menschenbild, dass er es einfach nicht verkraften kann, wenn sich jemand so verkommen verhält, wie Strache es getan hat, und dass er deswegen jeden Gesinnungsfreund von Strache verachten muss? Das spräche zwar gegen seine Intelligenz – aber einige seiner bisherigen Aktionen könnten andeuten, dass er wirklich so maximalistisch denkt. Das hat etwa auch der absurde Hinauswurf des Efgani Dönmez wegen eines einzigen politisch-inkorrekten Tweet-Satzes gegen eine deutsche Sozialdemokratin gezeigt, den Dönmez in ein paar unbedachten Sekunden in sein Handy getippt hat.
  11. Hat Kurz geglaubt, ewig den Strahlekranz eines völlig unbefleckten Supermannes bewahren zu können, sodass er jede kleine Verunreinigung seines Images radikal eliminieren wollte? Vielleicht. Aber eigentlich ist er schon ein Jahrzehnt in der Spitzenpolitik, dass er gelernt haben müsste, dass man ohne Flecken nicht davonkommen kann.
  12. Ist Kurz der infamen, aber raffinierten Strategie der Linken auf den Leim gegangen, die eine Reihe jahrealter und im Grund durchwegs harmloser Vorfälle mit Hilfe der befreundeten Linksmedien zu einer dramatischen Fülle von bedrohlich wirkenden "Einzelfällen" aufgeschäumt hat? Auch das spräche gegen ihn, wenn er diese Strategie nicht durchschaut haben sollte. Aber es ist in der Tat durchaus möglich, dass er als international extrem mobiler Kanzler nicht die Zeit und Souveränität hatte, um jeden dieser Einzelfälle zu studieren und als lächerlich zu durchschauen.
    Wie beispielsweise das Braunauer "Rattengedicht". Dieses ist von linken Medien zum Spin verdreht worden, ein Freiheitlicher würde die Migranten als Ratten beschimpfen. Wäre dies wahr gewesen, wäre das Gedicht tatsächlich unerträglich gewesen. Aber in Wahrheit hat sich der Autor auch selber ausdrücklich als Ratte bezeichnet, also eine Art Micky-Maus. Das aber konnte man erst entdecken, wenn man das Gedicht genau und ohne Spin im Hinterkopf durchlas.
    Auffällig ist jedenfalls, dass seit Wochen nirgends auch nur eine Zeile über diese bis zum Mai so bedrohlich dargestellten Einzelfälle zu lesen ist. Diese Berichte haben schlagartig aufgehört, als die Koalition geplatzt ist und etliche Kooperationen zwischen Rot und Blau begonnen haben.
  13. Hat sich in der ÖVP auf dem Umweg über die Bundesländer der alte Mitterlehner-Flügel zurückgemeldet, der ja Kurz die Koalition mit der FPÖ bis zuletzt als moralische Verfehlung vorgeworfen hat? Mag sein, aber Kurz hatte sich bisher von diesem Flügel noch nie beeinflussen lassen.
  14. Hat Kurz zu wenig über die Folgen des Koalitionsendes nachgedacht – sowohl in Hinblick auf die Monate ohne Mehrheit bis zur Bildung einer neuen Mehrheitsregierung, wie auch für die Suche nach einer neuen Mehrheit? Das ist ziemlich wahrscheinlich, aber allein noch kein ausreichender Grund für sein Handeln.
  15. Hat sich Kurz von der Gier packen lassen, durch Ausnutzung des Ibiza-Effektes einen triumphalen Wahlsieg zu erringen, und den 42 Prozent des Wolfgang Schüssel von 2002 wenigstens nahe zu kommen? Mag sein, die Gier ist ja ein Luder, auch die politische. Kurz kann sich zwar in der Tat nach heutigem Stand einen Zugewinn am Wahlabend erwarten, aber keinen so gewaltigen wie damals Schüssel. Denn Kurz hat zwar die gegenwärtige Schwäche von Rot und Blau richtig gesehen (wobei die Schwäche der Blauen lange nicht so dramatisch ist wie 2002, während die Schwäche der Roten viel spürbarer ist). Aber er hat wohl die Stärke von Grün und Pink übersehen. Und jedenfalls wird er am Wahlabend weit weg von der absoluten Mehrheit sein, also von der insgeheim erträumten Situation, wo Kurz dann wirklich ohne Koalitionssorgen durchregieren könnte (wo er aber selbst dann höchstens eine so knappe Mehrheit hätte, dass er durch jeden unkorrekten Tweet eines ÖVP-Abgeordneten nach Dönmez-Art gewaltig ins Schwitzen käme).

Ohne absolute Mehrheit aber wird Kurz erst recht wieder von Koalitionssorgen bei der Regierungsbildung geplagt sein. Und dann werden seine Karten mit Sicherheit viel schlechter sein als in der Zeit seit 2017.

Denn Kurz hat jetzt sowohl gegenüber der SPÖ wie auch gegenüber der FPÖ die Brücken weitgehend abgebrochen. Und es gibt keinerlei Anzeichen, dass sie irgendjemand wieder aufbauen würde.

Gegenüber der SPÖ wird nicht einmal versucht, solche Brücken zu bauen. Kurz hat die Sozialisten während seiner Zeit in den Regierungen Faymann und Kern kennen und verachten gelernt. Und inzwischen ist die SPÖ noch viel weiter abgestürzt, in Österreich wie in vielen anderen Ländern. Überdies ist die derzeitige SPÖ-Chefin eindeutig eine auf Abruf (ebenfalls nach deutschem Muster).

Aber auch gegenüber der FPÖ wird Kurz, selbst wenn er es wollte, ein Wiederaufbau der Brücken nicht gelingen. Zwischen Schwarz und Blau kann es – politisch, emotional wie inhaltlich – niemals wieder so harmonisch werden wie in den eineinhalb Jahren seiner bisherigen Kanzlerschaft. Auch wenn es immer wieder Anzeichen gegeben hat, dass es hinter den Türen der Koalition öfter gekracht hat, hat die Koalition doch sehr gut funktioniert.

Derzeit ist jedenfalls nicht einmal vorstellbar, wie es überhaupt zu einer neuen Koalition mit der FPÖ kommen könnte: Diese Partei wird nämlich mit Sicherheit nicht ohne ihren besten Mann und schärfsten Denker, den innerparteilich extrem beliebten Kickl, in die Regierung gehen. Kickl ist mit seinem klaren Anti-Migrationskurs "das" Markenzeichen der FPÖ im wichtigsten Themenfeld der Partei. Käme es also doch wieder zu einem Schwarz-Blau mit Kickl, dann würde dieser nach allem, was in den letzten Wochen geschehen ist, für Kurz noch viel unangenehmer werden, als wenn dieser Kickl gleich im Amt belassen hätte.

Die einzige Partner-Perspektive der ÖVP sind daher die beiden Kleinparteien, die Neos und die Grünen. Da es sich möglicherweise mit keiner der beiden allein ausgehen dürfte, wird wohl nur eine Dreierkoalition eine ausreichende Mehrheit schaffen können. Dreierkoalitionen sind aber immer viel schwieriger und erpressungsanfälliger als Zweierkoalitionen.

Vor allem aber wäre für viele bürgerliche Wähler eine Koalition mit den Grünen ein absoluter Alptraum. Deswegen haben ja auch die deutschen FDP-Liberalen (die inhaltlich der CDU näherstehen als die Neos der ÖVP) ganz klar Nein zu einer Koalition mit den Grünen gesagt. Sie wissen, wo die Grünen stehen (obwohl diese in Deutschland weniger links sind als die österreichischen!). Sie wissen: Mit den Grünen ist für eine Partei rechts der Mitte kein vernünftiges Regieren möglich.

Die Wähler, die Kurz gewählt haben, sind in vielen gesellschaftspolitischen Fragen von den Neos inhaltlich weit entfernt, viel weiter als von den Freiheitlichen. Von den Grünen aber sind sie überhaupt Lichtjahre weit entfernt. Wer daran zweifelt, gehe die einzelnen Politikfelder durch.

Wirtschafts- und Sozialpolitisch würde es zwar zwischen ÖVP und Neos recht gut gehen – auch wenn die Neos irgendwie die ÖVP-Hochburg Wirtschaftskammer beschneiden wollen. Die österreichischen Grünen stehen jedoch ganz eindeutig links von den Sozialdemokraten, und sie werden sich in ihrem gegenwärtigen Höhenflug (der durch viele überwechselnde Ex-SPÖ-Wähler noch höher werden wird) nicht mit einem Linsengericht abspeisen lassen. Andererseits droht der glasklar wirtschaftsliberale Kurs der Neos die teilweise durch lange Koalitionen mit Sozialisten deformierte ÖVP zu überfordern. 

In allen anderen Politikfeldern stehen aber auch die Neos gegen das, wofür Kurz beziehungsweise seine Türkis-Wähler stehen. Und die Grünen sowieso:

  • Grüne wie Pinke sind radikal migrationsfreundlich (beide haben von der Übergangsregierung als erste Forderung ausgerechnet einen sofortigen Abschiebestopp verlangt!),
  • sie sind beide genderistisch-feministisch-homophil positioniert,
  • sie sind beide scharfe Anhänger der Political-Correctness,
  • sie sind beide für die Gesamtschule,
  • sie sind beide für einen europäischen Zentralismus,
  • sie haben beide absolut nichts über für konservative Familienwerte,
  • sie verachten die Heimat-Orientierung der Rechtsparteien,
  • sie lehnen beide eine Law-and-Order-Politik ab und
  • sie polemisieren fast ununterbrochen gegen die Polizei;
  • die Grünen werden überdies unglaublich teure und wirtschaftsschädigende Opfer am Altar der Klimapanik fordern.

Wo soll da die geringste gemeinsame geistige Basis herkommen, die über die ersten Bussi-Bussi-Flitterwochen und den anfänglichen Jubel der Bobo-Szene hinaus anhalten kann?

Grün wie Pink werden beide überdies perfekt mit den (ihnen weit näher als der ÖVP stehenden) Medien kooperieren können. Diese Front wird daher mit großem Erfolg die Volkspartei in all den genannten Feldern vor sich her treiben können.

Vielleicht kann sich Kurz das alles noch nicht ganz vorstellen, aber er wird sich in einer solchen Dreierkoalition noch jeden Tag nach den Zeiten mit den Blauen zurücksehnen.

Die Freiheitlichen werden im Wahlkampf wohl täglich die Perspektive trommeln, dass Kurz die Grünen in die Regierung bringen wird – und dieser wird das zumindest nicht ausschließen wollen. Sie werden damit etliche bisherige Kurz-Wähler von einer Stimme für die ÖVP abbringen können. Die Freiheitlichen werden das spätestens dann tun, sobald sie erkannt haben, wie schwachsinnig ihr gegenwärtiger Hauptakzent ist, nämlich der Kampf gegen irgendwelche schwarzen Netzwerke im Innenministerium. Aber im eigentlichen Wahlkampf dürfte die Botschaft der Freiheitlichen dann so lauten: Wenn bürgerliche Wähler grüne Minister und grüne Politik verhindern wollen, können sie nur die FPÖ wählen.  

Während auf der einen Seite ein konzentrierter Wahlkampf gegen das durchaus realistische Gespenst Schwarz-Grün stattfinden wird, wird umgekehrt auf ÖVP-Seite der Lagerwahlkampf der neuen Art ganz massiv gegen Rot-Blau geführt werden. Denn auch die Freiheitlichen können nicht  glaubwürdig ausschließen, dass sie mit der SPÖ kooperieren werden. Dazu gab es jetzt zu viele gemeinsame Beschlüsse.

Die ÖVP hat sofort nach Scheitern der Regierung begonnen, diese Rot-Blau-Perspektive an die Wand zu malen. Zwar ist es angesichts der gegenwärtigen Umfragen eher fraglich, ob es dafür eine Mehrheit geben wird, werden doch SPÖ wie FPÖ Mandate verlieren (genauso wenig könnte es daher für das von der SPÖ erträumte Rot-Grün-Pink reichen). Aber das gemeinsame Misstrauensvotum von SPÖ und FPÖ gegen die Regierung Kurz hat den Österreichern jedenfalls sehr anschaulich gezeigt, dass diese Möglichkeit sehr konkret geworden ist.

Deshalb können alle Beteuerungen, irgendeine Konstellation werde es "nie und nimmer" geben, nicht mehr ganz glaubwürdig sein. Gewiss sind für ein Rot-Blau vor allem auf roter Seite noch viele emotionale Hürden zu überwinden. Aber der gemeinsame Hass auf Kurz verbindet. Und Hass kann Wunder wirken.

Ich würde jedenfalls eine rote Minderheitsregierung unter einem Hans Peter Doskozil mit vereinbarter Tolerierung samt Mitsprache durch die Blauen nicht ganz ausschließen:

  • Es könnte in einem langen Wahlkampf an der SPÖ-Spitze doch noch einen fliegenden Wechsel geben, sollte sich Rendi-Wagner weiterhin so katastrophal präsentieren (auch die deutsche SPD-Chefin war schließlich über Nacht weg).
  • In der SPÖ sind ja jetzt schon fast alle überzeugt, dass sich Frau Pam als großer Irrtum erwiesen hat. Man weiß nur noch nicht, ob man sie vor oder nach den Wahlen entsorgen soll – täte man es vorher Richtung Doskozil, würde das jedenfalls die Wahlchancen verbessern. Solche Überlegungen können sehr motivierend sein und den Hang zur Passivität überwinden.
  • Die rot-blaue Koalition im Burgenland hat sich wider alle Ibiza-Turbulenzen sehr konsensual bis Jänner verlängert, also "ganz zufällig" bis zu einem Zeitpunkt, wo man sehen kann, was sich im Bund ausgeht.
  • Während in Deutschland und vielen anderen Ländern die Sozialdemokratie am Rande des Grabes steht, haben strategisch denkende Genossen gesehen, dass in einigen Ländern ihre Parteifreunde durchaus erfolgreich sind, nämlich in der Slowakei und vor allem Dänemark.
    Aus einem eindeutigen Grund: Dort wollen die Sozialdemokraten in der Migration-Politik das genaue Gegenteil von dem, was die SPÖ (und SPD) der letzten Jahre gewollt hat. Dort lehnen sie jeden Zuzug aus Afrika und Asien scharf ab. Und siehe da: Plötzlich funktioniert es für die Sozialdemokraten wieder (wovon Doskozil schon immer gewusst hat, dass es die einzige Überlebensstrategie ist). Man ist prononciert gegen Migration und Islamisierung und zugleich sozialpolitisch linkspopulistisch.

Wenn die SPÖ diese Kurve rechtzeitig kratzt, dann ist in diesem Lagerwahlkampf Schwarz-Grün vs. Rot-Blau wirklich alles drinnen. Und Tatsache ist, dass es zwischen Rot und Blau seit Mai praktisch keine scharfen Töne mehr gibt.

Es könnte also noch sehr spannend werden. Und Sebastian Kurz könnte sich über seine Überreaktion nach Ibiza noch sehr ärgern.

Österreich hingegen sollte sich freuen, wenn die SPÖ in Sachen Migration vernünftig wird. Es sollte sich aber zugleich panisch davor fürchten, was Rot und Blau alles mit Wirtschaft, Budget und Staatsschulden anstellen werden, nur um die Wähler populistisch zu bestechen. Die Zeit der gleichzeitigen Vernunft in beiden großen Politikfeldern ist hingegen nach eineinhalb Jahren vorbei.

Dieser Text ist in ähnlicher Form im Magazin "Frank & Frei" erschienen.

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