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Europas Medien jammern gar bitter über das Avancement von Boris Johnson zum neuen britischen Premier. Sie prügeln ihn schon am ersten Tag grün und blau. Dabei vergessen sie ganz auf die ebenso schweren Fehler von Jean-Claude Juncker, Angela Merkel, Emmanuel Macron, Michel Barnier, Guy Verhofstadt und Jeremy Corbyn in den letzten Jahren rund um den Brexit. Johnson ist im Grund nur die unangenehme Quittung für deren diverse Fehler – die sie freilich zum Teil bis heute nicht einsehen. Und so schwierig das Brexit-Thema auch ist: Eigentlich wird ein anderes großes EU-Land zunehmend zum allergrößten der vielen Probleme Europas.
Im Grund lassen sich die fundamentalen Brexitfehler auf EU-Seite auf einen einzigen Satz komprimieren. Die EU hat den Briten nie durch sinnvolle Kompromisse die Möglichkeit zu einem fairen Verbleib in Wirtschaftsgemeinschaft und Zollunion geboten, sondern vom hohen Ross herunter immer nur eines im Sinn gehabt: Wer unsere EU, die großartigste Erfindung der Menschheitsgeschichte, verlassen will, müsse streng bestraft werden, damit nicht auch andere auf solche hochverräterische Gedanken kommen.
Dabei hatten Brüssel, Berlin und Paris es vor Johnson noch mit zwei anderen britischen Premierministern zu tun gehabt. Cameron wie May waren beide ursprünglich für einen Verbleib Großbritanniens gewesen. Beide hatte Europa aber nach dem Motto "Friss oder Stirb!" behandelt und geglaubt, die Briten in die Knie zwingen zu können. Jetzt jedoch hat man in London einen Premier, der seit langem gegen einen Verbleib seines Landes in der EU ist. Das ist ein fundamentaler Wechsel, der die Dinge nun noch schwieriger macht.
Ursprünglich war es den Briten gar nicht um die Bedingungen eines sanften Brexit-Deals gegangen. Sind diese doch eigentlich unlösbar. Denn die Vorstellung ist absurd, dass es zwischen Irland und Nordirland eine Grenze und gleichzeitig keine Grenze geben soll. Genauso widersprüchlich und unverständlich ist auch die Haltung Irlands selbst: Das Nachbarland lehnt Kompromisse mit dem Vereinigten Königreich vehementer als alle anderen ab – es würde aber zugleich größtes Opfer eines harten Brexit werden.
Ursprünglich hätte es zweifellos genügt, den Briten einen echten Kompromiss als Basis eines Verbleibens, etwa die Möglichkeit einer Mitgliedschaft einer neuen Kategorie B anzubieten. Das wäre eine Mitgliedschaft gewesen, bei der man zwar voll an Wirtschaftsgemeinschaft, Zollunion und einem "Binnenmarkt minus eins" teilnimmt. Das "Minus eins" wäre aber die – derzeit volle – Personenfreizügigkeit für jeden EU-Bürger gewesen, sich nach eigenem Gutdünken in jedem anderen EU-Land niederzulassen. Wenn man den Briten erlaubt hätte, wieder ein wenig mehr Kontrolle darüber zu bekommen, wer in ihr Land kommt, dann wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit Großbritannien weiterhin mit dabei.
Aber das wollte man auf dem Kontinent nicht. Man war sich in der ersten Zeit der Konsequenzen des Brexit-Verlangens auch gar nicht voll bewusst geworden. Man nahm in Brüssel einerseits die Briten nicht wirklich ernst und man hatte andererseits den Kopf voll mit anderen Mega-Krisen: Migration, Terror, Finanzkrise, Ukraine.
Vor allem aber kennt die EU-Ideologie in Hinblick auf die Integration nur ein "Immer vorwärts und nie zurück". Das weniger spektakuläre "Zwei Schritt nach vorne, dann wieder einen zurück" wird hingegen in Brüssel und Umgebung strikt als Häresie abgelehnt – obwohl es sich in der Geschichte viel besser bewährt hat. Daher tut sich die EU mit Konzessionen und Kompromissen schwer.
Man fühlt sich durch die nach wie vor tonangebenden EU-Ideologen lebhaft an christliche (oder auch islamische) Theologen erinnert, die oft wegen winziger theologischer Details oder persönlicher Rivalitäten dramatische Spaltungen der ganzen Kirche ausgelöst haben, statt es hinzunehmen, dass man mit kleinen Unterschieden in einer christlichen Einheit weiterlebt. Dabei haben sie sogar Kriege in Kauf genommen.
Nun, es wird gewiss zu keinem Krieg im Ärmelkanal kommen. Aber ebenso sicher ist, dass am Ende beide Seiten kräftig verlieren werden. Bei einem Austritt mit Vertrag und noch mehr bei einem solchen ohne. Diese negativen Folgen sind unabhängig von den eigentlichen Ursachen, warum es überhaupt so weit kommen konnte.
Zu diesen Ursachen zählt auf britischer Seite, dass manche vom alten Empire träumende Medien ständig antieuropäische Stimmung machen; und dass diese Stimmung dann durch die große Migrationskrise und das Totalversagen der EU wie auch vieler nationaler Regierungen in dieser Krise zusätzlich Zündstoff bekommen hat.
Auf der anderen Seite zählt zu den Hauptursachen des Konflikts das Dogma der Europa-Fanatiker, dass die Union stets immer nur enger werden dürfe, und dass die EU nur ja keine Fehler und Überregulierungs-Sünden eingestehen dürfe.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr in die Zeit vor all diesen Fehlern. Wie die Schlafwandler des Ersten Weltkriegs eilen beide Seiten unaufhaltsam der Katastrophe zu.
Gibt es noch eine letzte Chance, diese zu vermeiden? Theoretisch ja. Aber es fehlt einem weitgehend die Phantasie, wie das noch gehen soll. Die einzige Chance läge wohl darin, dass jetzt sowohl an der EU-Spitze wie auch an der Großbritanniens neue und mutige Persönlichkeiten mit mehr Gewicht als ihre Vorgänger stehen. Sie könnten es in der Stärke des Neuanfangs als einzige in den nächsten Monaten noch schaffen.
Denn Ursula von der Leyen ist nicht antibritisch geprägt. Sie ist auch nicht wie ihr Vorgänger durch den Frust des jahrelangen Brexit-Verhandelns deformiert.
Johnson wiederum ist alles andere als der dumme und verantwortungslose Kasperl, als den ihn seine Kritiker gerne hinstellen. Und als den er sich auch gern selbst inszeniert (weil er erkannt hat, dass ihn diese Inszenierung – vom Radfahren bis zu seinen oft gewagten Scherzen – bekannter und populärer macht als das bloße Wechseln oder Weglassen von Krawatten, das andere Politiker als das Maximum von Individualität ansehen). Johnson ist vielmehr ein hochintelligenter Mann, der bisher um die Macht gekämpft hat, der aber nun die volle Verantwortung trägt, was eine Persönlichkeit stark verändert.
Freilich ist die Hoffnung auf die beiden neuen Chefs nur eine vage. Eine zweite zarte Quelle der Hoffnung sind die Vorgänge im arabisch-persischen Golf. Dort haben parallel zur Wahl eines neuen britischen Premierministers iranische Einheiten ein britisches Schiff gekapert und damit eine massive Provokation gesetzt.
Darauf hat London die Bitte an die anderen EU-Staaten gerichtet, künftig Öltanker und Handelsschiffe im Golf in einer gemeinsamen Marine-Operation zu schützen. Nach Tagen kam nun eine noch recht unklare Antwort aus Paris. Zusammen mit London und Berlin werde eine Mission zur "Kontrolle und Beobachtung der maritimen Sicherheit" am Golf vorbereitet. Die drei Regierungen wollten eine "europäische Initiative" in Gang bringen, bei der es um eine gemeinsame "Absicherung" gehe.
Man muss noch warten, was das heißt und ob das genügend robust sein wird. Denn in Berlin wurde bisher nur etwas von "Vermittlung" gemurmelt. So, wie wenn die Briten und Iraner gleichermaßen schuldig wären und daher Äquidistanz legitim wäre.
Eigentlich wäre eine EU-Marine-Aktion im Golf sogar absolute Pflicht. Nicht nur wenn man die Sicherheit der Seefahrt und der gerade für Europa so lebenswichtigen Ölversorgung gewährleisten will, sondern auch, wenn man Großbritannien als Mitglied der EU halten will. Eine solche gemeinsame Operation hätte nämlich das emotionale Potenzial, einen fundamentalen Stimmungswandel auszulösen. Wenn man gemeinsam einer Bedrohung gegenübertritt, dann ist man plötzlich auch in anderen Diskussionspunkten viel konzilianter gestimmt.
Eine Dekade vorher bei der Piraterie vor Somalia war man jedenfalls noch zu durchaus robusten Kollektivoperationen bereit, die bald wieder Sicherheit hergestellt haben.
Aus ganz anderen Gründen sind jetzt dem britischen Labour-Führer Corbyn Vorwürfe zu machen. Er hat nun plötzlich seine Bereitschaft zu einem zweiten Referendum über den Austritt aus der EU erklärt. Genau das hat er freilich Theresa May noch verwehrt. Genau das hätte vor einem halben Jahr die Tür zu einer Problemlösung noch öffnen können. Auch wenn es völlig unklar ist, wie ein zweites Brexit-Referendum wirklich ausgegangen wäre. Auch wenn ein simpler Verbleib in der EU für die Briten sicher nicht die optimale Lösung wäre.
Jetzt kommt Corbyn mit seiner Bereitschaft eindeutig zu spät. Jetzt spürt ganz Großbritannien, dass er plötzlich Angst bekommen hat und nur deshalb konzessionsbereit geworden ist. Denn jetzt muss er fürchten, dass Johnson in Neuwahlen geht, um gestärkt der EU entgegentreten zu können. Und solche Wahlen dürfte die Wahlkampfmaschine Johnson höchstwahrscheinlich auch gewinnen. Während sich die EU-Befürworter bei den Liberaldemokraten sammeln werden, werden nur wenige den Zick-Zack-Zögeranten Corbyn unterstützen. Denn bei ihm merken die Briten allzu deutlich, dass es ihm in den letzten Jahren immer nur um die persönliche Chance gegangen ist, vielleicht doch noch Premier zu werden – während ihm die EU-Frage wurscht gewesen ist.
Welche Rolle haben die anderen am Beginn dieses Textes genannten Politiker gespielt? Barnier und Verhofstadt waren in der EU in der Causa Brexit federführend und haben dabei immer auf ganz hart gespielt. Und Merkel und Macron sind – oder waren – die politischen Kraftzentren der EU. Hätten sie Juncker und seinen Brexit-Unterhändlern nur das kleinste Zeichen gegeben, wären die Dinge in eine viel positivere Richtung gegangen.
Aber die Franzosen wollen die Briten eigentlich lieber draußen haben, weil sie von einem Kondominium mit den Deutschen träumen, bei dem die Briten nur stören. Außerdem sind die Franzosen neben den Benelux-Staaten die härtesten Anhänger des Dogmas, dass Europa immer nur enger und nie einmal auch ein Grad lockerer werden dürfe.
Merkel wiederum begreift Probleme und Herausforderungen offenbar generell immer erst dann, wenn sie unlösbar geworden sind. Dabei wäre es nicht nur in Sachen Brexit dringend notwendig, endlich den Franzosen energischer entgegenzutreten.
Diese entwickeln sich nämlich noch in einer ganz anderen Frage zum Bleigewicht an den Beinen Europas: Paris lehnt es ab, im Zollkrieg mit den USA über den Handel mit Agrarprodukten auch nur zu reden. Genau darauf bestehen die Amerikaner aber. Daher werden diese wohl doch wie angedroht die Zölle für europäische Industrieprodukte drastisch erhöhen.
Das bedeutet Schlimmes für Deutschland, aber in unmittelbarer Folge auch für Österreich: Denn beide Länder sind in hohem Ausmaß von den Industrieexporten abhängig, sind hingegen im Gegensatz zu Frankreich keine großen Agrarexporteure.
Aber wer traut sich im heutigen Europa auch nur anzudeuten, was für ein Problem Frankreich für Europa ist? Merkel wagt das sicher nicht – hat sie doch vor kurzem auch zugestimmt, dass eine französische Gratisgeld-Liebhaberin neue EZB-Chefin wird.
PS: Nur zur Erinnerung: Der EU würden auch ohne Brexit und Golf die Probleme nicht ausgehen. Wegen der grob fahrlässigen Finanzpolitik Italiens; wegen der ebenso fahrlässigen Energie- und Migrationspolitik Deutschlands (und anderer Länder mit sozialistischer Regierungsbeteiligung).