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Eine neue Großmacht ist entstanden - Österreich hat's verschlafen

Zwischen Budapest und Warschau wird ein "Erdrutschsieg" bejubelt. Selbst wenn dieser noch gar nicht so sicher ist, kann es überhaupt keine Frage sein: Spätestens seit dem Sommer 2019 bilden die vier Visegrad-Länder mit ihren 62 Millionen Bürgern eine imponierende europäische Macht, die man ernst nehmen muss. Über sie können sich nicht einmal mehr die beiden größten Staaten der EU gemeinsam hinwegsetzen, die bisher dort die Geschehnisse weitgehend diktiert haben. Dessen sollte man sich auch in Österreich bewusst werden und seine Schlüsse ziehen.

Tatsache ist, dass Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei Hand in Hand mit Italien sowohl den ersten wie auch den zweiten Vorschlag für einen neuen EU-Kommissionspräsidenten mit Erfolg vom europäischen Tisch wischen konnten, die aus Berlin beziehungsweise Paris gekommen sind. Diese Ländergruppe steht heute Deutschland und Frankreich auf Augenhöhe gegenüber. Und sie wird sich auch nie wieder auf die bisher übliche Behandlungsweise eines "Ferner haben die Hand aufgehalten" reduzieren lassen.

Darüber schäumen die europäischen Linksparteien gewaltig, insbesondere die deutsche Sozialdemokratie. Das ist auch der Hauptgrund für das eigentlich unglaubliche Verhalten der SPD, gegen das Avancement einer Ministerin des eigenen Landes und des eigenen Koalitionspartners zur EU-Kommissionspräsidentin stimmen zu wollen. Tun ihre Abgeordneten das am Ende des Tages wirklich bei der Abstimmung im EU-Parlament, dann wird das der SPD noch viel mehr schaden als Ursula von der Leyen.

Was aber auch immer SPD&Co machen werden: Das Entstehen einer großen Macht in Mittelosteuropa können sie nicht mehr rückgängig machen.

Eine ganz andere Frage ist: Sind die Mittelosteuropäer und ihr selbstbewusstes Auftreten nicht eigentlich undankbar, wenn sie sich so massiv gegen Deutschland und Frankreich stellen? Haben nicht Milliarden an EU-Geldern entscheidend mitgeholfen, die osteuropäischen Reformstaaten nach dem Kollaps des Kommunismus aufzupäppeln?

Ja, das haben sie. Aber umgekehrt hat auch Westeuropa, insbesondere Österreich, in den 30 Jahren seit der Wende sehr profitiert von der Entwicklung im Osten. Das Wachstum in vielen westlichen Ländern wäre ohne die Millionen hochmotivierter und qualifizierter Arbeitskräfte aus den Reformstaaten nie so hoch gewesen. Viele westliche Firmen haben dort exzellente Geschäfte gemacht. Und Europa hat nicht zuletzt auch dadurch enorm profitiert, dass ein breiter Gürtel der militärischen Sicherheit entstanden ist, der die russischen Streitkräfte weit weg von Westeuropa nach Osten zurückgeschoben hat. Seither glaubt man sich von Berlin bis Wien fast alle Ausgaben für die eigene militärische Sicherheit ersparen zu können, weil Warschau&Co da ohnedies sehr viel tun.

Die westliche Hilfe, die Eingliederung in die Nato und vor allem der Zugang zum EU-Binnenmarkt waren zweifellos sehr hilfreich. Zugleich haben aber auch die Osteuropäer selbst Enormes für ihren eigenen raketenartigen Aufstieg getan. Das hat man nicht nur bei den mittelosteuropäischen Visegrad-Vier mit ihrem Europarekord darstellenden Wirtschaftswachstum gesehen, sondern auch bei den drei baltischen Staaten. Leider viel weniger bei den Balkanländern.

Die sieben nördlicheren Staaten haben den direkten, daher steilsten Weg zur Modernisierung gewählt, auf den sie jetzt mit Stolz zurückblicken können. Sie haben den radikalen marktwirtschaftlichen Umbau an die Spitze der Priorität gestellt; sie haben mit niedrigen Flat-Tax-Raten steuerlich viele Investoren angelockt; sie haben keine Angst vor fremden Investitionen gehabt; und sie haben auf exzessives Schuldenmachen für den Wiederaufbau verzichtet und diesen nicht durch ständiges Rufen nach "sozialer Abfederung" oder zu raschen  Lohnerhöhungen gebremst. Dieses Konzept erinnert übrigens stark an den Erfolgsweg, den Deutschland und Österreich im Wirtschaftswunder der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte gegangen sind.

Wegen dieser Erfolge demonstrieren heute alle mit Berechtigung großes Selbstbewusstsein.

Die drei baltischen Staaten sind bei der marktwirtschaftlichen Modernisierung noch eindrucksvoller als die Visegrad-Vier unterwegs. Sie sitzen nur deshalb nicht im gleichen politischen Boot, weil sie verständlicherweise Angst vor Russland haben, das sie nicht nur wegen ihrer Lage und Geschichte als ständige Bedrohung empfinden, sondern auch, weil sie eine russische Minderheitsbevölkerung im eigenen Land haben. Da will man Deutschland und Frankreich nicht durch einen provozierenden Kurs verärgern. Man setzt zwar so wie die Visegrad-Vier primär auf die USA, fürchtet aber, im Falle einer amerikanischen Abwendung von Europa zu exponiert dazustehen. Daher will man sich unbedingt wenigstens Deutschlands Sympathie erhalten. Sie wissen: Moskau würde eine Isolation der Balten sofort ausnutzen.

Alle diese Reformstaaten prägt neben dem Erfolg noch eine gemeinsame Eigenschaft, die der linke Mainstream Deutschlands überhaupt nicht begreift, die dieser sogar ständig als Teufelszeug denunziert: Das ist ein großer Nationalstolz. Diese Länder sind aber zu Recht stolz auf diesen Stolz. Denn dieser war eindeutig die entscheidende Kraft bei der Vertreibung der verhassten sowjetischen Besatzer und hinter den Wachstumsanstrengungen der letzten 30 Jahre.

Bei der Befreiung 1989 haben natürlich auch andere Faktoren mitgespielt: das mutige Auftreten des polnischen Papstes, das wirtschaftliche Versagen des Kommunismus, die konsequente Politik von Ronald Reagan und die liebenswerte Illusion des Michail Gorbatschow, der geglaubt hat, den brutalen und ideologischen Imperialismus der Sowjetunion in eine humane Idee verwandeln zu können. Aber die weitaus größte Energiequelle war für Ungarn, Polen oder Litauer zweifellos das Bewusstsein der eigenen nationalen Identität. Und das wird auch weiterhin so sein, auch wenn es arroganten deutschen Bevormundern nicht gefällt.

Gerade Deutschland hat absolut Null moralisches Anrecht, den Mittelosteuropäern schlechtes Gewissen wegen der westeuropäischen Aufbaumilliarden einzujagen. Denn es war ja das Deutsche Reich, dessen wahnwitzige Kriegs- und Aggressionspolitik dazu geführt hat, dass ganz Osteuropa am Ende den Sowjets in den Rachen gefallen ist. Auch wenn man es ablehnt, in jede politische Analyse des 21. Jahrhunderts die Nationalsozialisten hineinzubringen: In ganz Osteuropa weiß jeder, wer schuld daran gewesen ist, dass die Sowjets überhaupt die Möglichkeit bekommen haben, ihr europäisches Kolonialreich zu errichten.

Österreich sollte die Visegrad-Vier aber auch noch aus einer ganz anderen historischen Perspektive sehen. Immerhin waren drei davon schon vor rund einem halben Jahrtausend habsburgisch geworden (aus dem besetzten Rest Ungarns haben die Wiener Kaiser in der Folge die Türken hinausgekämpft). Und der Südteil Polens, des vierten Visegrad-Staats, war auch schon im 18. Jahrhundert habsburgisch geworden.

Diese Jahrhunderte der Gemeinsamkeit der Länder des Hauses Österreich bis ins 20. Jahrhundert haben – trotz aller Streitigkeiten – in starkem Maße kulturell geprägt, einander ähnlich gemacht.

Aber auch ohne diese heute von fast allen Mitteleuropäern positiv gesehene Gemeinsamkeit ist es für Österreich dringend nötig, nachzudenken, ob es sich nicht diesen vier Visegrad-Ländern viel enger annähern sollte. Dabei kann es natürlich nicht um irgendeine Suprematie gehen. Aber ganz isoliert in diesem Europa dazustehen, ist für ein Acht-Millionen-Volk keine sonderlich weise Strategie.

Wenig intelligent ist es auch, dass sich die Republik zuletzt wieder an Deutschland angenähert hat. Denn seit Helmut Kohl hat dort absolut kein Politiker irgendwelche positive Gefühle für Österreich gezeigt. Sowohl Gerhard Schröder wie auch Angela Merkel haben zeitweise sogar in erbärmlicher Weise versucht, Österreich herumzukommandieren.

Daher war es auch alles andere als schlau von Sebastian Kurz, bei der EU-Wahl ohne Wenn und Aber auf den "Spitzenkandidaten" Manfred Weber zu setzen, obwohl dieser nur ein schlichter Klon Angela Merkels ist. Daher war es auch alles andere als schlau von Kurz (wohl unter Einfluss des noch schlichteren Othmar Karas), sein exzellentes Verhältnis zum ungarischen Premier Viktor Orbán aufzugeben und bei den lächerlichen Maßnahmen der EU-Kommission und der europäischen Linken gegen Ungarn wegen angeblicher Rechtsstaatsprobleme mitzumachen.

Heute steht Ungarn als der große Sieger in der europäischen Arena. Heute kann Ungarn unwidersprochen darüber jubeln, dass die Visegrad-Staaten die Erfinder des Projekts Ursula von der Leyen seien. Das hat auch SPD-Mann Schulz jetzt zähneknirschend anerkannt. Österreich hingegen ist nicht einmal mehr in der Portierloge Europas sichtbar.

Die Irrelevanz Österreichs hängt keineswegs nur damit zusammen, dass wir jetzt monatelang keine Regierung haben, beziehungsweise nur eine, die nicht regieren, sondern bloß verwalten will. Das hängt auch damit zusammen, dass Rot, Blau, Grün, Pink europäisch überhaupt nicht wahrnehmbar sind. Es sei denn, sie sorgen für Peinlichkeiten und Mafia-Verbrechen à la Ibiza. Die letzten Persönlichkeiten in diesen Lagern von – positiver wie negativer – internationaler Relevanz sind schon lange tot; sie hießen Bruno Kreisky und Jörg Haider. Und die ÖVP, die als einzige mit Sebastian Kurz heute eine international anerkannte Figur in ihren Reihen hat, hat im letzten Jahr eine offensichtliche Änderung ihrer Politik und Annäherung an Angela Merkel vollzogen.

Dabei sind nicht weniger als vier der fünf Länder, die in der EU die Kandidaten Weber und Timmermans abgeschossen haben, unmittelbare Nachbarn Österreichs. Dabei liegen diese Vier in Sachen Migrationspolitik total auf der (früheren?) Linie von Sebastian Kurz, und nur ein einziger Nachbar, eben Deutschland, steht gegen diese Linie.

Das lässt einen enttäuscht den Kopf schütteln. Das ist einfach dumm, auch wenn Österreich zu Recht in Sachen wirtschaftlicher und finanzieller Stabilität mit Italien völlig uneinig ist. Hingegen sind die Visegrad-Vier zunehmend auch wirtschaftspolitisch ein wichtiger Partner.

Aber Außenpolitik findet in diesem Land nicht mehr statt. Nicht einmal  ein Nachdenken über Außenpolitik. Der jetzige Minister ist nicht wahrnehmbar. Die Vorgängerin hat alle ihre Interessen außerhalb Europas gehabt. Im Parlament sitzt kein einziger relevanter Außenpolitiker mehr. Und aus Kurz werde ich auch nicht mehr schlau.

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