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Wieweit hat das Recht der Politik zu folgen?

Es war eine der vielen Hysterien wegen einer angeblich politisch inkorrekten Formulierung, aus deren Aneinanderreihung die österreichischen Medien ja seit einiger Zeit bestehen. Die Formulierung stammte vom damaligen Innenminister Herbert Kickl und lautete: "Das Recht muss der Politik folgen, nicht die Politik dem Recht." Dieser Satz hat einen besonders heftigen Empörungssturm von Opposition und zugehörigen Medien ausgelöst. Denn Kickl hätte damit die Abschaffung des Rechtsstaats verlangt. Dieser Satz wird auch immer wieder ins Gespräch gebracht, warum die ÖVP auf dem Abgang von Kickl als Innenminister bestanden hat, obwohl er ja nicht zu den Ibiza-Übeltätern zählt. Und obwohl dieser Kickl-Satz schon im Jänner gefallen ist. Und damals keine ÖVP-Erregung ausgelöst hat.

Die damalige und jetzt wieder aufgekochte Empörung könnte zumindest einen positiven Nutzen haben: dass wir endlich wieder darüber nachdenken, wie es wirklich um das Verhältnis von Politik und Recht bestellt ist. Dabei geht es ja um die Grundlage der gesamten staatlichen Ordnung und Macht, der wir alle total unterworfen sind. Und die jetzige Situation, wo eine Bundesregierung amtiert, hinter der keine gewählte Partei steht, drängt doppelt zum Nachdenken. Wer ist eigentlich genau "die Politik"? Die machtlose Regierung"? Die Zufallsmehrheiten im Parlament?

Zur Klärung hilft ein Blick in das Bundesverfassungsgesetz. Immerhin ist dieses trotz EU-Beitritt und vieler Pakte und Organisationen noch immer absolut oberstes Dokument Österreichs. In Artikel 1 dieses über hundert Jahre (minus einer schlimmen siebenjährigen Unterbrechung) alten Grundgesetzes steht in erfrischender Klarheit und Deutlichkeit: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus."

"Vom Volk" – ist das nicht erstaunlich? Denn das Volk ist in all dem aufgeregten Gegacker um Politik und Recht nie vorgekommen. Die Verfassung kennt also eine allerhöchste Instanz in diesem Land, die über allem steht – die aber von Politik wie Medien gerne vergessen, gerne an den Rand gedrückt wird: das Volk.

Das war 1920 eine revolutionäre neue Sichtweise, die die Verhältnisse um 180 Grad gedreht hat: Denn das Volk war in der ganzen Geschichte Österreichs noch nie die oberste Instanz. Das waren immer andere: der Kaiser, die Fürsten, der liebe Gott, das Naturrecht, das Evangelium, das Recht des Stärkeren – und in den allerschlimmsten Zeiten war es gar "die" Partei.

Dass das Volk seit Ende der Monarchie in Österreich an der Spitze steht, ist zweifellos gut so, wenn man den Vergleich zu all diesen Alternativen zieht. Das sollte viel intensiver in Erinnerung gerufen werden, wie auch der bittere Kalauer nahelegt: Das Recht ist vom Volke ausgegangen, aber nie mehr dorthin zurückgekehrt. Die Realität und insbesondere die Ziele wichtiger Akteure sehen nämlich ganz anders aus. Ihre Ziele sind etwa ein:

  • Richterstaat – behandeln doch viele Richter, vor allem in den europäischen und österreichischen Höchstgerichten, das Recht wie ihr Privateigentum, das sie selbst schaffen könnten, und das noch dazu von Jahr zu Jahr intensiver;
  • Beamtenstaat – behandeln doch viele Beamte die Bürger wie Untertanen, und nicht als solche, von denen eigentlich das Recht ausgeht;
  • Regierungsstaat – taten doch auch viele Medien zumindest bis zur Ibiza-Krise so, als ob Minister Gesetze beschließen würden, und nicht das Parlament; aber in Wahrheit dürfen Minister lediglich Vorschläge für neue Gesetze machen, über die das Parlament dann entscheidet - und nicht einmal das tut das Kabinett Bierlein (und ist doch verfassungsmäßig volle Regierung);
  • Elitenstaat – will doch eine selbsternannte Elite, etwa Medien und deren "Experten", Entscheidungen ohne oder gar gegen das Volk durchsetzen, das immer wieder nur knapp verklausuliert für zu blöd gehalten wird;
  • Abgeordneten-, Politiker- oder Parteienstaat – machen doch die aus den Parteien kommenden Abgeordneten jene Gesetze, an die sich Richter, Beamte, Regierungen (und vor allem die Bürger) zu halten haben. Diese Abgeordneten sind vom obersten Souverän, dem Volk, gewählt. Haben von ihm ihr Mandat, was zu deutsch "Auftrag" heißt. Freilich: Bei der Ausübung dieses Mandats sind sie laut der Verfassung frei - was eigentlich ein Widerspruch ist. Kann man doch nicht "frei" sein, wenn man einen "Auftrag" hat.

Aber mit diesem Widerspruch leben wir nun schon hundert Jahre. Und in der Tat ist ja nie ganz klar, und wird auch von den Parteien bei ihrer ständigen Berufung auf den "Auftrag des Wählers" absichtlich noch zusätzlich verwischt, was eigentlich Inhalt dieses Auftrags ist.

Letztlich ist aber der Verfassungsmechanismus klar, und gerade in den letzten Wochen noch viel mehr eindeutig geworden. Die eigentliche Macht liegt bei den 183 Nationalratsabgeordneten. Die Parteien, die sie einst aufgestellt haben, oder Regierungsmitglieder können ihnen zwar Empfehlungen und Wünsche mitgeben. Die Mandatare müssen ihnen aber nicht entsprechen – und tun es selbst in Koalitionszeiten nicht immer. Und jetzt schon gar nicht.

Die Abgeordneten sind also jene Politiker, von denen in der Realität das Recht ausgeht, denen das Recht zu folgen hat. Damit stimmt also: Das Recht (die Gesetze) hat der Politik (den Beschlüssen der Parlamentarier) zu folgen. Selbst wenn diese Parlamentarier ziemlich dummes Zeug produzieren. Wie in den letzten Wochen. Auch wenn dieser Beweis für Kickls Aussage im Jänner wohl nicht das war, was er damals meinte.

Freilich gibt es auch noch andere "Politiker" als die Abgeordneten, von denen das Recht ausgeht (unabhängig davon, wie chaotisch dieses Recht auch oft sein mag, leben doch schon seit Generationen juristische Wissenschaftler davon, nachzuweisen, wie unsinnig manche Gesetzesbestimmungen sind). Ebenfalls als "Politiker'" gelten aber natürlich auch Minister oder Landesräte, also jene Politiker, die an der Spitze der Verwaltung stehen. Sie sind zweifellos wichtig – aber sie stehen eindeutig unter dem Recht. Sie müssen diesem "folgen" und nicht das Recht ihnen. Das sagt ein anderer Verfassungsartikel ganz klar: "Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grundlage der Gesetze ausgeübt werden."

Reduziert man den Ausdruck "Politik" auf diese Verwaltungs-Politiker, dann hat die Kritik an Kickl doch wieder zum Teil Berechtigung. Denn sie stehen unter dem Recht. Das gilt in koalitionslosen Zeiten ganz besonders.

In früheren Zeiten einer Regierung mit einer parlamentarischen Mehrheitsunterstützung freilich haben die Minister in der Realität einen sehr großen – wenn auch nicht in der Verfassung stehenden – Einfluss auf die Abgeordneten der eigenen Partei gehabt. Damals also hatte Kickls Satz auch in Hinblick auf Politiker in scheinbar reinen Verwaltungsfunktionen wieder Richtigkeit gehabt. Weshalb die ganze Aufregung sich als reine Haarspalterei erweist.

Jedoch machen uns die Aufregungen der letzten Wochen, aber auch um das einstige Kickl-Zitat bewusst, wie entscheidend es ist, die Spielregeln der Republik, also den genauen Verfassungswortlaut, zu kennen.

Diesen Wortlaut sollten wir uns aber auch in Bezug auf Artikel 1 der Verfassung wieder deutlicher bewusst machen. Hat er doch durch seine Positionierung am Beginn der Verfassung eine überragende grundsätzliche und programmatische Bedeutung. Und da entdecken wir: Dieses zentrale Programm der Republik, dass das Volk die oberste Rechtsquelle ist, ist bisher nur bruchstückhaft verwirklicht.

Denn das Volk darf laut Verfassung nur alle vier, fünf Jahre Parlament oder Landtage wählen. Das ist völlig unzureichend (auch wenn es des öfteren nur zwei Jahre sind ...). Und frustrierend: Was tut der arme Bürger bei diesen seltenen Gelegenheiten, da sich die oberste Quelle allen Rechtes überhaupt äußern darf, wenn er etwa mit drei Parteien zu jeweils rund einem Drittel übereinstimmt? Eine Münze aufwerfen? Und wenn er zwischen den Wahltagen dann überhaupt nichts zu sagen hat. Wenn ganz andere Themen als die des Wahlkampfes anstehen? Wenn die Parteien ganz anders handeln, als sie im Wahlkampf versprochen haben?

Mitsprache hätte er jedoch nur bei einer "Gesamtänderung" der Verfassung, für die ein Referendum vorgeschrieben ist. Aber bisher war höchstens der EU-Beitritt eine solche. Sonst werden die Bürger nur ganz selten gefragt, und das in Wahrheit nur aus taktischen Gründen, um ein Thema außerhalb des Wahlkampfes zu halten. Siehe Zwentendorf; siehe Wehrpflicht.

Dabei wollen die Bürger eigentlich viel mehr mitbestimmen, weil ja auch sie selbst immer die Folgen zu tragen haben. Das bestätigt auch das sehr erfolgreiche Schweizer Beispiel, wo seit vielen Generationen Volksabstimmungen vorgeschrieben (und verbindlich!!) sind, sobald eine Anzahl der Bürger diese verlangt. Bürger gehen mit dem Instrument eines Referendums immer sehr verantwortungsbewusst um. Von Monat zu Monat wächst nicht nur an Hand des Schweizer Beispiels die Gewissheit, dass direktdemokratisch entscheidende Bürger ihren Staat, ihre Heimat viel ernster nehmen, als Berufspolitiker es tun.

Es spricht für die Weisheit der Verfassung, dass sie das Volk als Quelle allen Rechtes an die Spitze stellt. Das ist auch der einzige Grund, warum die Demokratie – auf Deutsch: die "Herrschaft des Volkes"! – allen anderen Alternativen weit überlegen ist, etwa der Monarchie (wo "einer herrscht") oder der Aristokratie (wo angeblich "die Besten herrschen" – in Wahrheit aber eine feudale Elite). Wenn wir uns - seit Jesus Christus, seit der Aufklärung, oder seit den Schlüsselzahlen der österreichischen Gesetze 1811, 1867, 1920 - einig sind, dass alle Menschen gleiche Würde und gleiche Rechte haben, dann sollten wir sie ihnen auch endlich geben.

In einer echten Demokratie ist die Gesamtheit der Bürger der wahre Souverän. Daher sollte von ihnen, von ihren Mehrheitsbeschlüssen auch wirklich das Recht ausgehen. Daher sollten die Politiker zwar weiterhin als Vertreter des Volkes im Alltag das Recht machen, aber nur solange, wie das Volk die Entscheidung nicht an sich zieht.

Schwarz-Blau hatte als immerhin erste Regierung der Geschichte Österreichs die Einführung einer solchen direkten Demokratie auch versprochen. Umso trauriger war, dass sie die Realisierung dieses Versprechens auf eine lange, eine zu lange Bank geschoben haben. Dabei hätte alles, was sich in den letzten Wochen abgespielt hat, noch viel mehr die Notwendigkeit der direkten Demokratie erwiesen.

Dieser Text ist in anderer - inhaltlich inzwischen vollkommen überarbeiteter - Form im Magazin für Querdenker "Alles Roger?" erschienen: www.allesroger.at

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