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Haben die Parteien noch eine Identität?

Das Gehabe der politischen Parteien wird immer seltsamer, immer beliebiger, immer austauschbarer. Kaum entdecken sie wo ein Grüppchen, das sie ansprechen wollen, sind sie sofort bereit, alle bisherigen Positionen und insbesondere die eigene Glaubwürdigkeit über Bord zu werfen. Es gibt als Folge in den Parteien so gut wie keine geistige, inhaltliche Identität und Kontinuität mehr. Und das ist ganz eindeutig direkte Folge der repräsentativen Form der Demokratie, die sich heute angesichts einer enorm komplex und vielfältig gewordenen Realität und des zunehmenden Engagements der Bürger als völlig überfordert erweist (mit nachträglicher Ergänzung).

Diese Fehlentwicklung lässt sich praktisch überall nachweisen, nicht nur in Österreich. Einige exemplarische Beispiele aus dem Ausland:

  • Da hetzt neuerdings der auf einer sich liberal nennenden Plattform angetretene französische Präsident Macron wie ein Kommunist gegen einen "verrückt gewordenen Kapitalismus".
  • Da haben die dänischen Sozialdemokraten einen totalen Kurswechsel in Sachen Migration vorgenommen und verfolgen eine härtere Linie als fast jeder österreichische Politiker: Asylanträge sollen auf dänischem Boden faktisch unmöglich werden; sie sollen nur mehr in "Auffangzentren" außerhalb Europas bearbeitet werden; und Asylbewerber sollten unter UN-Aufsicht auf dem afrikanischen Kontinent in Lagern untergebracht werden.
  • Da haben die Regierungsparteien in Polen und Ungarn, die ja ständig als sehr rechtsstehend bezeichnet werden, ihre Erfolge zuletzt durch als links geltende Maßnahmen absichern und ausbauen können. Insbesondere durch eine Vervielfachung des Kindergeldes und durch massive Verbesserungen im Pensionssystem.
  • Da setzen sich die zwei erfolgreichsten Grün-Politiker Deutschlands (die in Baden-Württemberg beziehungsweise Tübingen regieren) trotz des linksradikalen Kurses ihrer Bundespartei für eine konsequente und harte Law-and-Order-Politik ein und kritisieren das Verhalten der Migranten.
  • Da engagiert sich der neue Star Italiens, der Rechtspopulist Salvini, vehement für einen sozial- und wirtschaftspolitischen Kurs (von der Grundsicherung bis zur Herabsetzung des Pensionsalters), den er noch im Wahlkampf strikt abgelehnt hat und der eigentlich nur auf Verlangen des linkspopulistischen Koalitionspartners Cinque-Stelle in die Regierungspolitik hineingekommen ist.

Hier soll es gar nicht inhaltlich um die einzelnen Positionen gehen. Hier geht es vielmehr um die Feststellung, dass durch solche rein opportunistische Meinungsveränderungen das Vertrauen in die Demokratie in ihrer heutigen Form massiv unterminiert wird. Rechte Parteien werden links, linke werden rechts. Und alle wollen zugleich das bleiben, was sie waren.

Dieser Identitätsverlust geht ja nicht unbemerkt an den Wählern vorbei. Diese sehen mit Erstaunen, dass sie eigentlich einer ganz anderen Partei ihre Stimme gegeben haben, als die jetzt da agiert. Dabei haben sich die Wähler oft schon am Wahltag selbst schwer genug getan, sich für eine bestimmte Partei zu entscheiden. Denn die allerwenigsten können sich ja mit allen Positionen einer Partei identifizieren. Ganz abgesehen davon, dass Parteien oft keine klar erkennbaren Positionen haben. Ihre Wahlprogramme sind meist bloß verwaschene Phrasen-Akkumulierungen mit allem Schönen und Guten.

Noch genauer können wir das naturgemäß bei den österreichischen Parteien beobachten. Dort können wir insbesondere erkennen, dass das inhaltliche Oszillieren der Parteien eine Folge des Drucks der veröffentlichten Meinung der Mainstream-Medien ist. Während sich die wirkliche öffentliche Meinung, also die Meinung der Bürger, immer weniger in den Parteien widerspiegelt.

  1. In Österreich gibt es neuerdings keine einzige der im Parlament vertretenen Parteien mehr, die nicht in die Klimapanik-Mache der Medien einstimmen würde: Durch einen schleichenden Positionswechsel der ÖVP in den letzten Jahren, und durch einen abrupten und spektakulären der FPÖ in den letzten Tagen haben sich jetzt auch beide rechten Parteien in Sachen Klima links positioniert. Damit werden die Klima-Panikmache und ihre Folgen überhaupt nirgendwo mehr auf politischer Ebene kritisiert.
  2. Ganz ähnlich war es – schon vor etlichen Jahren – in Sachen Atomenergie. Obwohl einst die Zwentendorf-Abstimmung nur sehr knapp gegen die atomare Energieerzeugung ausgegangen ist (und das auch nur wegen eines kontraproduktiven und später ignorierten Junktims Bruno Kreiskys zwischen dem Abstimmungsergebnis und seinem persönlichen Abgang), gibt es heute keine Partei mehr, die irgendwie auf die Vorteile der Atomenergie hinzuweisen wagen würde. Oder die gar deren Notwendigkeit aussprechen würde, sobald man die Klimapanik ernst nimmt.
    Die Achse ORF-Kronenzeitung "Wir sind gegen alles" hat sich aber total durchgesetzt. In Österreich wird nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen, dass anderswo haargenau die gleiche Frage nach dem Nutzen der Atomenergie komplett konträr gesehen wird.
  3. Der in den letzten beiden Jahren wohl am meisten kommentierte Stellungswechsel war jener des grünen Alexander van der Bellen: Er plakatierte im Wahlkampf plötzlich groß das Wort "HEIMAT". Und auch jetzt scheint er sich noch am meisten bei Blasmusik- und Trachten-Terminen zu ergötzen. Dabei hat einen echten Grünen früher (mit der einstigen Ausnahme Günther Nenning) bei den geringsten Heimatbezügen immer sofort ein angewiderter Brechreiz überfallen.
  4. Ganz ähnlich staunenswert ist der grüne Stellungswechsel in Sachen EU. Noch beim Referendum 1994 waren die Grünen vehemente Gegner eines österreichischen Beitritts. Heute tun sie so, als hätten sie die EU erfunden.
  5. Bei der FPÖ darf man nicht nur über den aktuellen Wechsel in Sachen Klima staunen. Da hat man auch in der Vergangenheit den Wechsel in Sachen EU mit offenem Munde beobachten können: Bis Ende der 80er Jahre war die FPÖ Österreichs einzige vehemente Befürworterin der EU (beziehungsweise damals EG), die ÖVP hingegen war das nur in der Ära Klaus. Kaum hat sich aber Ende der 80er Jahre die Regierung zu einem Beitrittsantrag durchgerungen, startete die FPÖ – Hand in Hand mit den verfeindeten Grünen! – einen Kreuzzug gegen den Beitritt.
  6. Vielleicht hängt dieser Stellungswechsel der FPÖ in Sachen EU mit ihrer gleichzeitig erfolgten Neupositionierung in der Nationalitätenfrage zusammen: Die FPÖ wechselte als letzte Partei von deutschnational (was einst auch die anderen großen Lager gewesen sind: die "Schwarzen" bis 1933, und ein Teil der Sozialdemokraten sogar noch nach 1945) auf betont österreichisch-national.
  7. Und in den letzten Stunden sind die Freiheitlichen – wohl unter Druck der Kronenzeitung – sogar auf die Linie der linken NGOs in Sachen Glyphosat eingeschwenkt.
  8. Bei der SPÖ stellt sich das Identitätsproblem anders, aber noch viel krasser: Da ist jetzt sogar der den Sozialdemokraten nicht gerade fernstehende "Standard" zu dem Schluss gekommen, dass die SPÖ eigentlich aus zwei überhaupt nicht miteinander kompatiblen Parteien besteht. Einerseits aus den Überresten der alten Gewerkschafts- und Arbeiterpartei; andererseits aus einer Partei der Alt- und Jung-68er in städtischen Bobo-, Künstler-, Journalisten- und Studentenblasen.
    SPÖ-Wähler können da nicht mehr erkennen, welche Partei vor ihnen steht. Deswegen wandern die Bobos auch immer rascher zu den Grünen ab, die Arbeiter zur FPÖ. Und die Parteichefin fühlt sich offensichtlich nur im schmalen Sektor der Gesundheitsthemen daheim. Da ist es auch wenig Trost, dass es den Sozialisten europaweit ähnlich geht (mit Ausnahme eben Dänemarks und der Iberischen Halbinsel).
  9. Die Neos haben noch relativ wenige derartige Sprünge in ihrer Identität erlitten. Sie sind ja weitaus am jüngsten und haben auch noch keinen Wechsel von der Oppositions- auf die Regierungsbank hinter sich. Aber zumindest ansatzweise hat auch bei den Neos schon der erste Parteiobmanns-Wechsel einen solchen Bruch bedeutet. Jedenfalls scheint der Hang von Parteigründer Strolz zu esoterischem Okkultismus derzeit einem Linkskurs gewichen zu sein.
  10. Die noch viel widersprüchlichere Bruchlinie bei den Neos verläuft aber zwischen der Selbstdefinition als "liberal" und ihrem beinhart illiberalen Political-Correctness-Dogmatismus. Deswegen haben auch in Österreich viel öfter Grüne zu den Neos gefunden als in Deutschland zur FDP. Sie können dort genau die gleichen Ideen vorfinden außer direkt planwirtschaftliche.
  11. Viel auffälliger ist die häufige Identitätshäutung bei den Schwarzen. Das merkt man schon daran, dass sie sich derzeit gerne als die Türkisen bezeichnen, also offenbar gerne etwas anderes sein wollen als früher, dass sie aber gleichzeitig die ererbten schwarzen Wähler aus der Mock- und Schüssel-Identität behalten wollen. Jedoch ist von den inhaltlichen Schwerpunkten gerade dieser zwei absolut nichts mehr zu merken: Weder von der intensiven emotionalen Zuwendung eines Alois Mock zu Mittelosteuropa, noch von Wolfgang Schüssels Schwerpunkten (erstens: Entsorgung der überkommenen Neutralität; zweitens: mehr privat als Staat; und drittens: mutige Sozialreformen, insbesondere im Pensionssystem).
  12. Und im derzeitigen Wahlkampf scheint der nächste schwarze Identitätswechsel zu passieren: Die ÖVP mutiert gerade von der mutigen Anti-Migrations-Partei des Jahres 2017 zu einem inhaltsleeren Sebastian-Kurz-Begeisterungsverein, indem sie das Migrationsthema zurückreiht.
    Die inneren Widersprüche der Volkspartei im gegenwärtigen Wahlkampf konkret:
    • Die ÖVP hat die Koalition mit den Freiheitlichen lange vor der Zeit beendet, kann aber keinen einzigen gravierenden inhaltlichen Grund dafür nennen. Vielmehr steht sie mit einer eher marginalen Ausnahme zu allen gemeinsamen Beschlüssen der Regierung.
    • Die ÖVP kann anscheinend mit allen Parteien gleichermaßen gut – oder schlecht –, mit der rechts stehenden FPÖ genauso wie mit den ganz links stehenden Grünen. Was zweifellos nur dann geht, wenn man selbst für nichts mehr wirklich steht (irgendwie erinnert das an Angela Merkels Entwicklung).
    • Und zuletzt ist sie durch ein besonders skurriles Projekt aufgefallen, das einen Großteil ihrer bisherigen Wähler verärgert, nämlich durch den Plan, Parteien zwangsweise eine Frauenquote vorzuschreiben, wenn sie nicht eine Kürzung der Parteifinanzierung aus Steuergeldern erleiden wollen. Womit sie in einem erstaunlichen Stellungswechsel auch die Türen für Zwangsquoten zugunsten von Moslems, zugunsten von Schwulen, zugunsten von geistig Behinderten, zugunsten von Straftätern, zugunsten von Schulabbrechern geöffnet hat.
    • Vor allem aber ist die Einführung eines solchen neuen Quotenzwanges mit Stimmen der ÖVP erstaunlich, wenn die gleiche Partei ein paar Wochen davor noch sehr akzentuiert (und nebstbei bemerkt voll zu Recht) über die Überregulierung durch die EU geklagt hat.

Der einzige Ausweg

Egal, wie viele dieser Identitätswechsel man mag oder nicht mag: Als Wähler welcher Partei auch immer kann man sich ob der Fülle ständiger Inhalts- und Identitätswechsel nur übel verschaukelt vorkommen. Dieses Phänomen wird umso größer und systemgefährdender, je mehr Bereiche es gibt, wo Politik stattfindet, wo sie stattfinden muss, oder wo sie sich überflüssigerweise einmischt.

Es gibt nur einen einzigen Ausweg, wenn man das demokratische Prinzip retten will, wenn man die Verfassung mit ihrem zentralen Bezug auf das Volk als Quelle des Rechts ernst nimmt, wenn man eine dramatische Entfremdung zwischen Bürgern und System verhindern will, die zu total antidemokratischen Alternativen führt: Das wäre die Einführung der direkten Demokratie nach Schweizer Muster, also des Rechts für jeden Österreicher, nicht nur alle paar Jahre eine Blackbox mit oft unbekanntem, noch öfter nachher beliebig ausgetauschtem und fast immer nur teilweise goutiertem Inhalt namens Partei "wählen" zu können.

In diesem Fall könnte der Österreicher also über jede dieser erwähnten Fragen mitbestimmen – zumindest wenn das genügend Österreicher durch eine Unterschriftensammlung verlangen. Über Zwangsquoten; über die diversen Migrationsfragen; über Auto- und PC-Verbote zur Klimarettung; über Meinungseinschränkungen wegen der Political Correctness; über Glyphosat; und so weiter. Erst dann hätte das lächer- und widerliche Versteckspiel der Parteien ein Ende: "Wir sind für alles und gegen alles und tun alles, wenn wir damit nur an der Macht bleiben (nur an die Macht kommen) können."

Nachträgliche Ergänzung: Absolut in diese Liste passte der (von den SPÖ-nahen Homosexuellen abgewiesene) Antrag der Jungen ÖVP, bei der Schwulenparade mitzumarschieren. Kaum eine Aktion der letzten Tage hat bisherige ÖVP-Wähler stärker verunsichert, wo die Partei derzeit steht. Die Parteiführung – die sonst sehr schnell mit dem Durchgreifen ist – hat jedenfalls dazu bisher völlig geschwiegen.

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