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Das ist für viele bürgerliche Wähler eines der schönsten Ergebnisse des dramatischen EU-Wahltages: Othmar Karas ist von Karoline Edtstadler in Sachen Vorzugsstimmen deutlich überrundet worden. Ein solches Ergebnis war übrigens von diesem Tagebuch immer prophezeit worden (das haben allerdings viele ÖVP-Spitzenfunktionäre nie begriffen, offenbar weil sie ihr Ohr zu wenig an den Wählern haben). Es sind eben nicht nur die FPÖ-Wähler, sondern es ist auch die große Mehrheit der ÖVP-Unterstützer, die mit ihrer Stimme ein eindeutiges Sympathiesignal für die schwarz-blaue Regierung und deren politischen Kurs abgeben wollten. Weshalb viele ausdrücklich gegen Karas eingestellt sind, den ständigen Kritiker von Schwarz-Blau. Das ist umso eindrucksvoller, als keine einzige Zeitung sie in dieser Meinung bestärkt hat.
Jetzt kann man nur hoffen, dass Karas und ebenso der in Ibiza gegen die Wand gedonnerte Ex-FPÖ-Obmann H.C. Strache begreifen, dass es nur noch eine honorige Möglichkeit gibt, wenn man der eigenen Partei nicht (zusätzlich) schaden will: umgehend den eigenen Anspruch zurückzuziehen.
Strache überlegt jedenfalls seit mindestens zwei Tagen, das ihm durch die vielen Vorzugsstimmen überraschend zustehende Mandat auch wirklich anzunehmen. Und Karas hat trotz der für ihn so unerfreulichen Vorzugsstimmen jetzt den Anspruch erhoben, dennoch EU-Delegationsleiter der ÖVP-Mandatare zu werden. Und er glaubt überdies, dass er einen "großen persönlichen Erfolg" erzielt hätte.
Offenbar enthält die Brüsseler Luft Substanzen, die Menschen das klare Denken austreiben – oder zumindest die Fähigkeit, die eigenen Wähler zu verstehen. Das hat man schon beim Karas-Vorgänger Ernst Strasser gesehen, aber auch bei vielen Kommissaren und EU-Richtern aus den verschiedensten europäischen Staaten, die durch ihren Aufenthalt in Brüssel anders zu denken begonnen haben.
Von diesen rätselhaften Substanzen voll umnebelt ignoriert Karas jedenfalls völlig seinen für ihn unerwarteten Absturz auf den zweiten Platz. Kaum weniger seltsam ist seine Argumentation, er hätte ja mehr Vorzugsstimmen als beim letzten Mal erzielt. Er übersieht jedoch alles, was diesen Aspekt total relativiert. Denn:
Wenn Karas nun ausstreut, das hätte nur für die Frage gegolten, wer überhaupt ein Mandat bekommt, aber nicht dafür, wer ÖVP-Delegationsleiter werde, dann macht er sich endgültig lächerlich. Sämtliche österreichische Medien haben monatelang von einem Vorzugsstimmen-Duell zwischen Karas und Edtstadler gesprochen. Und nie hat die ÖVP oder einer der Betroffenen dem widersprochen und behauptet, Karas würde jedenfalls Chef bleiben, egal, was die Vorzugsstimmen ergeben. Wenn das jetzt nachträglich zur Regel erhoben würde, wäre es glatter Betrug am Wähler.
Die Schlappe für Karas ist doppelt signifikant, als er fast sämtliche TV-Diskussionen absolvieren durfte, und eben nicht Edtstadler. Es haben ihn auch sämtliche Medien in den letzten Jahren ständig, intensiv und liebevoll mit all seinen Statements aus Brüssel respektive Straßburg zitiert. Sie haben das vor allem deshalb getan, weil er die lauteste ÖVP-interne Anti-Regierungs-Stimme gewesen ist. Er war deshalb für alle Mainstream-Medien viel interessanter, als nur ständig Mitterlehner, Konrad, Fischler, Busek oder unbekannte Tiroler Christgewerkschafter gegen Kurz in Stellung zu bringen. Hingegen ist Edtstadler als loyales Mitglied dieser Regierung und eine, die mit Herbert Kickl gut gekonnt hat, medial auf wenig Begeisterung gestoßen. Das macht ihren Erfolg doppelt bedeutend.
Noch am Samstag vor der Wahl sind wir auf einem Wiener Markt von einem ÖVP-Wahlwerber mit der Bitte um "eine Stimme für Karas" angesprochen worden. Wir mussten zwar den jungen Mann enttäuschen, aber das zeigt jedenfalls, dass auch zumindest Teile des Apparats für ihn marschiert sind (zumindest in Wien).
Durch sein jetziges dummes Vorpreschen reduziert Karas sogar seine Chancen, falls Edtstadler in die EU-Kommission einziehen kann und er dann als Vorzugsstimmen-Zweiter wieder zum Ersten in der ÖVP-Gruppe werden könnte. Aber da Karas sofort wieder zu polarisieren begonnen hat, wird er auch dann nicht sonderlich viele Chancen haben.
Edtstadler hat jedenfalls derzeit das weitaus größte politische und moralische Anrecht, österreichische Kommissarin zu werden. Dafür spricht das Vorzugsstimmen-Ergebnis. Dafür spricht ebenso der Umstand, dass (auch) in Brüssel das Frau-Sein bei Bewerbungen aller Art sehr schnell auf die Überholspur hilft. Dafür könnte auch die Tatsache sprechen, dass die Ex-Staatssekretärin ein gutes Verhältnis zu Herbert Kickl hatte, ihrem (Ex-)Minister und dem starken Mann der FPÖ (was zumindest dann wichtig wäre, wenn die FPÖ wie seit Montag in die mehrheitliche Willensbildung eingeschlossen bleiben sollte).
Allerdings ist völlig offen, wie groß jetzt der Rachezorn Kickls auf alles ist, was aus dem Stall von Sebastian Kurz kommt. Und ebenso offen ist, wieweit der grüne Bundespräsident da nicht hinter den Kulissen versuchen wird, einen seiner Gesinnungsgenossen ins Spiel zu bringen.
Auch abgesehen von der Edtstadler-Karas-Frage hat sich das ÖVP-Modell bewährt und sollte eigentlich von allen Parteien nachgeahmt werden. Es ist weit sinnvoller und demokratischer als Vorwahlen oder Parteitags-Entscheidungen. Nicht nur weil es ein erster substanzieller Schritt zu mehr Mitentscheidungsrecht für die im Repräsentativ-System ja weitgehend ohnmächtigen Bürger ist (auf die weiteren – versprochenen – Schritte zur direkten Demokratie haben ÖVP und FPÖ freilich vergessen). Sondern auch weil es die parteieigene Basis jeweils für "ihre" Kandidaten ins Rennen gebracht hat.
Die Basis ist naturgemäß vor allem für die Kandidaten aus dem jeweils eigenen Bundesland gelaufen. Das ist aber alles andere als undemokratisch, sondern ein gesundes Gegengewicht zur medialen Überpräsenz der Spitzenkandidaten aus der Machtelite.
Durch das Vorzugsstimmensystem kommen jetzt gleich zwei andere Kandidaten der ÖVP ins EU-Parlament, als der Reihung auf dem Stimmzettel entsprechen würde. Und das ist nicht nur eine Bestätigung für das Konzept, sondern bedeutet darüber hinaus Erfreuliches:
Erstens ist dadurch jetzt die Mehrheit der ÖVP-Kandidaten weiblich. Gerade wenn man undemokratische Idiotien wie Quote und Reißverschluss für den völlig falschen Weg hält (die von den Linken erfunden worden sind, aber auch zum Teil in die ÖVP Einzug gehalten haben), kann man es umso legitimer loben, wenn Frauen eben nicht durch ihr Geschlecht, sondern ganz demokratisch über die Wahlurne die Mehrheit schaffen. Darauf kann eine erfolgreiche Frau jedenfalls zehnmal stolzer sein, als wenn sie bloß als armes Quoten-Hascherl irgendwo hineinkäme.
Zweitens ist einer der hinausgeflogenen Männer ein ehemaliger ORF-Star. Und auch dessen Scheitern ist mehrfach gut (ohne dass ich ihn persönlich kennen würde).
Nun werden manche sagen: Der Fall Strache ist doch das Gegenteil vom Fall Karas und dürfe daher nicht in denselben Topf geworfen werden. Hat doch Karas überraschend wenig Vorzugsstimmen bekommen, der Ex-FPÖ-Chef hingegen überraschend viele, und daher demokratischen Anspruch auf ein Mandat. Das brauche er überdies ja auch deshalb, weil er über Nacht kein Einkommen mehr hat; als Dentist wird er wohl nach so langer Pause nicht mehr unterkommen.
Das ist ein juristisch korrektes, aber für die Glaubwürdigkeit der Freiheitlichen absolut vernichtendes Argument. Während diese bisher zu Recht sagen konnten, aus dem unerträglichen Verhalten von Ibiza seien zweimal hundertprozentige Konsequenzen gezogen worden, eben die totale Trennung beider von allen Ämtern, so wäre bei der von Strache offensichtlich seit zwei Tagen angedachten Annahme des Mandats – und vor allem bei seiner Aufnahme in eine FPÖ-Fraktionsgemeinschaft! – auf ewige Zeiten die Glaubwürdigkeit der Partei zertrümmert. Dabei hat diese gerade noch von vielen Wählern ob tätiger Reue im letzten Augenblick eine Absolution erhalten. Aber jetzt würden sich viele Wähler übel hineingelegt fühlen, wenn Strache schon wieder bei der Hintertür hereinkäme.
Aus einem schweren individuellen Fehlverhalten würde so ein schweres Bleigewicht am Fuße der ganzen Partei schaden. Der Strache-Gudenus-Exzess war eben keiner der von FPÖ-Hassern hochgezwirbelten "Einzelfälle" voll heißer Luft. Ihr Verhalten war vielmehr ein ganz schweres, möglicherweise auch strafrechtliches Delikt gegen jeden Anstand in öffentlichen Ämtern.
Dieses Delikt muss – so tragisch es persönlich auch ist – lebenslänglich die Rückkehr in politische Ämter unmöglich machen. Schließlich verlieren auch Ärzte oder Rechtsanwälte oder Beamte nach einem gravierenden Fehlverhalten lebenslänglich das Recht, ihren bisherigen Beruf weiter auszuüben, selbst wenn ihr Vergehen strafrechtlich nicht fassbar ist. Zu verachtenswert – und dumm – war das, was im Rausch aus Strache hervorgesprudelt ist.
PS: Manche werden sich erinnern, dass das Tagebuch auch prophezeit hat, die widersprüchliche Doppelgesichtigkeit Karas vs. Edtstadler würde der ÖVP schaden. Was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Das ist richtig. Aber das war erst nach Ibizagate und der folgenden Eskalation so. Ibiza hat zweifelsfrei etliche Stimmen von Blau zu Schwarz getrieben.