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Nur die wenigsten Menschen empfinden lebenslang stürmische Liebe für ein und denselben Menschen – obwohl sich die meisten danach sehnen. Aber wenn es nicht gelingt, aus wilder (meist hormonell initiierter) Leidenschaft eine ruhige, gefestigte, als selbstverständlich empfundene, vernunft- und kompromissgesteuerte Partnerschaft zu machen, dann wird die Beziehung scheitern. Dieses Scheitern heißt dann: Scheidung, hasserfüllte Frustrationsehe oder noch Schlimmeres. Genau dasselbe Muster findet sich auch in der großen Politik wieder, im Beziehungsgeflecht zwischen einzelnen Nationen, Regionen und Staaten. Dieses Muster und diese Ähnlichkeiten zu verstehen, ist vor allem in Hinblick auf die EU notwendig, wenn man ihre Vergangenheit begreifen und ihr eine gute Zukunft bauen will. Das zeigt diese kleine Geschichte der Vergangenheit und Zukunft Europas.
Die Zukunft Europas hängt nämlich nicht von der Häufigkeit inbrünstig abgespielter Beethoven-Takte oder der Zahl der flatternden Europafahnen ab. Sondern einzig davon, ob es gelingt, aus der Europäischen Union eine gefestigte, vernunft- und kompromissgesteuerte Partnerschaft zu machen, in der sich alle Beteiligten mit einem positiven Gefühl wiederfinden können, die kein alles erstickender Leviathan ist. Aber genau dieses Gelingen ist heute zweifelhafter denn je.
Wohin aber muss, wohin müsste Europa gehen, damit am Ende nicht nur Beziehungsfrust bleibt? Um eine Antwort auf diese zentrale Frage zu geben, muss man zuvor schonungslos die Vergangenheit und Gegenwart der europäischen Integration analysieren. Man muss vor allem begreifen, dass Integration nicht schon an sich ein Wert ist, sondern, dass sie nur in bestimmten Bereichen positiv ist.
Die Gründungsväter am Beginn der Integration wussten vermutlich um die Ähnlichkeiten zu Ehe und Partnerschaft. Sie wussten jedenfalls, wie wichtig es ist, schon bei den Erwartungen nüchtern zu bleiben und nicht zu glauben, dass der gesamte Horizont voller Geigen hängt, oder gar, dass das immer so sein wird. Daher legten sie bewusst den Erwartungshorizont niedrig. Daher sprachen sie nicht hochtrabend von "einer immer enger werdenden Union" wie die Europa-Utopisten der letzten zwei Jahrzehnte.
Sie gründeten vielmehr nüchtern eine "Wirtschaftsgemeinschaft", eine "Gemeinschaft für Kohle und Stahl" sowie eine für die zivile Nutzung der Atomkraft. Das waren handfeste Projekte ohne Gefühlsraserei. Aber: Die Gründungsväter waren gerade wegen ihres nüchternen Ansatzes erfolgreich.
Die Europa-Begeisterung wurde damals nicht von oben angeordnet, sie entstand ganz von selber in den europäischen Völkern. Auf Grund der jeweiligen Vorgeschichte der einzelnen Länder, also:
Heute jedoch ist bei Europas Völkern keine Begeisterungsraserei mehr zu spüren. Die wird nur noch von hauptberuflichen Eurokraten betrieben. Bei den Bürgern hingegen ist fast überall frustrierte Ernüchterung eingetreten. Sie haben entdeckt, dass die EU in vielerlei Hinsicht schlecht konstruiert ist. Sie spüren wachsenden Frust über diese EU. Aus verschiedenen Gründen, die sich in den folgenden sechs großen Linien zusammenfassen lassen:
Zwei oft übersehene Faktoren haben diesen tristen Zustand ausgelöst und ermöglicht, in dem sich die EU heute befindet:
Institutionell hat vor allem der EU-Gerichtshof diese Zentralisierung seit den letzten Vertragsänderungen vorangetrieben. Er ist zum wichtigsten Instrument der Machtanballung geworden. Seit sich dieser EuGH mehrmals auch über die deutschen Höchstrichter aus Karlsruhe hinweggesetzt hat, die der EU und der Zentralbank EZB eine Überschreitung der Kompetenzen vorgeworfen haben, hat der Zug Richtung ungebremster Zentralisierung keine funktionierenden Bremsen mehr.
Diese Entwicklung hat auch einen – ebenfalls wenig wahrgenommenen – ideologischen Antriebsmechanismus. Rund um die Jahrtausendwende haben nämlich (zuerst) die Sozialdemokraten und (dann) die Grünen ihre Haltung zur EWG/EG/EU komplett geändert: von total dagegen auf total dafür.
Die Linke war ja am Anfang dem Projekt skeptisch bis feindlich gegenübergestanden (ein damaliger SPÖ-Chef hatte es sogar als "Bürgerblock" denunziert). Inzwischen hat sich diese Haltung aber komplett gewandelt, nicht zuletzt weil in dieser Zeit die Linken das Übergewicht in Europa errungen haben. Das schien anfänglich auch eine durchaus positive Entwicklung zu sein, schon deshalb, weil sie viel Konfliktpotenzial herausnahm. Das führte dazu, dass die Absolventen linker Studienrichtungen, für die sonstwo kaum Nachfrage besteht, wie Politologen, Soziologen, Publizisten & Co zu Tausenden in die gut bezahlten europäischen Jobs strömten.
Aber dann zeigte sich, dass die Linke die EU keineswegs so fortführen wollte, wie diese von den Konservativen und Liberalen entwickelt worden war. Sie begnügten sich nicht damit, die EU von einer wirtschaftsorientierten Union zu ökologischen Möchtegern-Vorzugsschülern zu verwandeln, die plötzlich die "Klimarettung" als ihre Hauptaufgabe ansehen, die bei dieser "Rettung" (zum Gelächter der übrigen Welt) sogar Vorreiter sein wollen.
Die Linke will aber noch viel mehr: Mit einer zentralistisch vereinheitlichten EU und mit totalitärer Regulierung kann das alte Ziel des "Proletarischen Internationalismus", der "Internationalen Solidarität", des Zurückdrängens und Auslöschens der nationalen Identitäten auch ohne die inzwischen fast ausgestorbenen Proletarier und ohne den "real existierenden Sozialismus" der Sowjetmacht effizienter denn je angesteuert werden.
Kurzer Themenwechsel in die Weltgeschichte: Diese zeigt, dass multinationale Großreiche, so mächtig sie auch scheinen, immer über kurz oder lang auseinanderbrechen. Auseinanderbrechen müssen. Die Beispiele reichen vom Römischen Reich bis zum deutschen Kaiserreich Karls des Großen (das mit über tausend Jahren bis zum Habsburger Franz II. am längsten von allen Reichen gehalten hat). Sie reichen von der Sowjetunion bis Jugoslawien, vom einstigen großen Reich der Schweden bis zur Tschechoslowakei des 20. Jahrhunderts. Auch die kolonialen Imperien der Briten, Franzosen oder Portugiesen gehören in diese Reihe ebenso wie die multinationale k. und k. Monarchie.
Die Ursachen ihres Zerfalls waren zwar in den Details unterschiedlich, aber im Grund immer sehr ähnlich: Man lebte sich auseinander; die Imperien übernahmen sich; sie litten an ihrer Größe, an einem "overstretching", wie es die englische Sprache anschaulich ausdrückt; die mit Gewalt zusammengehaltenen Völker fühlten sich zunehmend kolonialisiert und unterdrückt. Die zentrifugalen Tendenzen und das Freiheitsstreben wurden letztlich so stark, dass die Imperien zerfielen.
Dieser Prozess scheint sich immer wieder zu wiederholen. Siehe den Brexit, siehe die schottischen und katalanischen Sezessionswünsche, siehe die starken Wünsche Norditaliens, sich vom als fremd empfundenen Süden zu trennen.
Ja, es zeigt sich sogar ganz eindeutig: Je kleiner eine staatliche Einheit, umso stabiler, umso lebensfähiger ist sie. Die Schweiz, Singapur, Hongkong, Luxemburg, Liechentstein oder die skandinavischen Staaten (und wohl auch Österreich, Ungarn oder Tschechien: Die Kleinen sind die erfolgreichsten; sie sind politisch stabil; sie sind funktionierende Rechtsstaaten (wenn dieser in Hongkong auch durch ein großes Imperium bedroht ist); sie sind sozial harmonisch und liegen wirtschaftlich in den meisten Rankings an der Weltspitze. Viele Statistiken zeigen, dass sich von den einst kommunistischen Staaten ausgerechnet die drei allerkleinsten weitaus am schnellsten entwickelt haben: Estland, Lettland, Litauen. Ähnlich exzellent ist auch die Entwicklung in der Mongolei verlaufen – sie ist zwar geographisch sehr groß, aber bevölkerungsmäßig besonders klein.
Dabei haben die meisten dieser Staaten keine Bodenschätze, die ihnen Reichtum bringen würden. Aber sie haben fleißige und fokussierte Menschen, die wissen, dass es nur auf ihre Leistung und ihren Zusammenhalt ankommt, dass ihnen keine imperiale Größe helfen kann. Sie wissen, dass sie auf sich selbst gestellt sind. Sie identifizieren sich besonders eng mit ihrer kleinen Heimat. Sie haben eine weit höhere innere Harmonie als alle großen Staaten dieser Welt. Sie haben ein ihrer Situation total angepasstes System.
Und sie haben noch etwas: eine eindrucksvolle Offenheit, eine massive Orientierung hin auf Weltwirtschaft und internationalen Handel. Da sind sie plötzlich nicht mehr lokal, sondern sehr global. Und sie wissen zugleich, dass sie vom globalen Frieden abhängig sind, dass sie niemals zündeln dürfen, dass sie ständig konstruktiv zur globalen Sicherheit beitragen müssen, sei es durch eine eigene starke Armee, sei es durch kooperatives Einfügen in internationale Strukturen.
Genau diese Lehre aus dem globalen Exkurs führt nun wieder zurück zur EU. Diese Lehre sollte Europa helfen, den richtigen Weg in die Zukunft zu finden. In einem Satz: Je weiter unten Macht und Entscheidungen liegen, umso besser, umso stabiler, umso widerstandsfähiger ist ein System. Nur in zwei Bereichen ist es ganz anders: bei der Wirtschaft und bei der militärischen Sicherheit (oder mit anderen Worten: bei Handel und Frieden). Dort gilt: Je globaler, umso besser.
Das haben auch die Gründungsväter Europas genau gewusst. Der strahlende Anfang der europäischen Integration wurzelte in einer umfassenden Öffnung gerade und nur auf wirtschaftlichem Gebiet, beim Handel, bei der Öffnung der Finanzströme. Die Eigenstaatlichkeit, die kulturelle und gesellschaftliche Identität, die nationale Gesetzgebung, soweit sie nicht den Handel betraf, wurde hingegen in den ersten Integrationsjahrzehnten nicht angetastet. Wenn sich die EU dieser Polarität wieder besinnt, sieht auch ihre Zukunft nicht so trübe aus, wie es die eingangs skizzierten Entwicklungen erwarten lassen.
Daher sollten wir darum kämpfen, die EU wieder auf die richtigen Geleise zu bringen. Wir sollten das gerade aus der Kenntnis der skizzierten Gefahren und Fehlentwicklungen heraus tun.
Das fast einzig Wichtige für ein Gelingen Europas ist der gemeinsame große Binnenmarkt. Je freier es beim Austausch von Waren, Energie, Kapital oder Dienstleistungen zugeht, umso besser ist das für die Europäer. Nur darauf sollte sich Brüssel konzentrieren, und nicht auf absurde Überregulierungen aus einem naiven Gutmenschentum heraus.
In den genannten Bereichen ist der Binnenmarkt auch noch durchaus ausbaubedürftig. In einer anderen Abteilung des Binnenmarktes ist Europa aber eindeutig zu weit gegangen: nämlich bei der unbeschränkten Personenfreizügigkeit. Es war falsch, auch diese zum essenziellen Bestandteil des Binnenmarktes zu erklären.
Dieser Fehler bringt nämlich gewaltigen Sprengstoff. Denn die Überfremdung vieler europäischen Regionen löst unweigerlich negative Abwehrreaktionen bei den Menschen aus, die auch die positiven Bereiche bedrohen. Es wird zum Problem, wenn zu viele Deutsche ihre Pension auf Mallorca verbringen wollen, wenn Zehntausende Roma aus der Slowakei oder Rumänien in jeder westlichen U-Bahn-Station und vor jedem Supermarkt betteln. Es war der in Großbritannien ständig zitierte polnische Installateur und die Aversionen der Briten gegen ihn, die eine Schlüsselrolle in der Anti-EU-Propaganda vor dem Brexit gespielt haben.
Zum endgültigen Sprengstoff ist die europaweite Personenfreizügigkeit aber geworden, als einige EU-Staaten – aus Naivität, aus Gutmenschtum, aus Schwäche der Staatsapparate, aus linker Ideologie heraus – die Tore für Millionen Migranten aus Afrika und Asien ins europäische Wohlfahrtsparadies geöffnet haben. Da die Briten genau zum Höhepunkt der Migration über einen Brexit abgestimmt haben, haben die Bilder, auf denen die Migrantenmassen an den österreichischen Grenzen die Polizisten zur Seite geschoben haben, dann endgültig den Sieg des britischen Austritts-Referendums sichergestellt.
Ein Weitergehen dieser Entwicklung und die gleichzeitige Untätigkeit der EU-Kommission könnten mittelfristig überhaupt den Todesstoß für die europäische Integration bedeuten.
Den wir aber vernünftigerweise unbedingt verhindern sollten. Daher seien zum Abschluss zehn Gebote formuliert, mit deren Hilfe Europa doch noch einen guten Weg gehen könnte, mit deren Hilfe die EU wieder so populär und beliebt werden könnte wie einst die EWG. Gewiss klingen manche dieser Wünsche utopisch. Aber ohne die Verwirklichung positiver Utopien wird es mit der EU ganz sicher weiter bergab gehen. Bis sie ganz zerschellen könnte.
Gewiss, auch ich weiß, dass da vieles utopisch ist. Dass manche Leser über den einen oder anderen Punkt erstaunt sein werden. Dass man zusätzlich eine mindestens ebenso lange Wunschliste an den Euroraum als Untergruppe der EU und an die Zentralbank EZB formulieren müsste.
Aber ebenso gewiss ist, dass nur in die Richtung dieser Utopien ein Überleben eines gemeinsamen Europas möglich sein wird. Europa muss seine Bürger überzeugen. Und das kann es nur, wenn es liefert, wenn es in jenen Bereichen, wo es Gemeinsamkeit wirklich braucht, diese energisch vorantreibt. Wenn es zugleich Tausende überregulierende, Prokrustesbett-artige Richtlinien wirklich kübelt. Wenn es von Subsidiarität nicht immer nur redet, sondern wirklich Kompetenzen in die kleineren Gemeinschaften zurückverlagert.
Jene Eurokraten, die immer noch erwarten, ja verlangen, von den Menschen Europas geliebt zu werden, statt endlich ein nüchternes und sachliches, aber Mut erforderndes Fundament zu zimmern, auf dem die Menschen mit ihnen wieder eine gemeinsame Zukunft haben könnten, werden eines Tages die schockierende Wahrheit hören: Das britische Scheidungsbegehren wird nicht das letzte gewesen sein. Zumindest dann nicht, wenn es den Briten nach dem Trennungsschmerz in zwei Jahren wieder gut und frei gehen sollte.
Dieser Text ist in ähnlicher Form im Magazin "Frank und Frei" erschienen.