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Die großen mittelalterlichen Kathedralen von Notre-Dame bis Sankt Stephan sind die Seelen ihrer Nationen. Wer muss nicht in den Stunden der Verzweiflung über den Brand in Paris an dieses Wort denken? Es sind keineswegs nur die regelmäßigen Kirchgänger – derer gibt es gerade in Frankreich selbst in der Karwoche nicht mehr allzu viele –, denen der Todeskampf des wichtigsten Baus des ganzen Landes in dieser Nacht die Tränen in die Augen getrieben hat. Die zugleich metaphorisch an den Zustand ihres Vaterlandes denken müssen. Die aber auch wieder Hoffnung schöpfen, als gegen Ende der Brandnacht zumindest die Türme und ein guter Teil der Struktur dann doch gerettet sind. Freilich: Was auch immer "gerettet" heißt – seit dem Schicksal von Fausts Gretchen kann ich dieses Wort ja nur noch sehr zweideutig verstehen …
Zufällig zur gleichen Stunde, da in Paris der Brand begann und ich noch nichts davon wusste, ging ich an diesem lauen Frühlingsabend am Stephansdom vorbei. Ich war wieder einmal von der Schönheit, von der Mächtigkeit und zugleich Zierlichkeit des Baus überwältigt. Auch wenn man in dieser Stadt geboren ist, packt es einen fast jedes Mal neu, wenn man aus den engen Gassen oder aus dem Touristenglitzer der Kärntner Straße kommt und plötzlich steht er da und man schaut hinauf und hinauf. Dorthin, wo er hinzeigt.
Wie durch ein Wunder kommt man beim Bummeln durch die Innenstadt an diesem Abend auch auf den traumatischen Brand des Wiener Doms im Jahr 1945 zu sprechen, als sehr, sehr viel kaputt gegangen ist. Als jedoch ebenfalls, so wie in Paris, das Wichtigste stehen geblieben ist – der Turm. Und dann blättert man daheim die Geschichte dieses Wiener Brandes nach, während alle relevanten Kanäle dieser Welt (natürlich nicht der ORF) rund um die Uhr die Flammen aus Paris zeigen.
Der Wiener Brand und seine Folgen zeigen die absoluten Tiefen und Höhen dessen, wozu Menschen fähig sind. Auch die Menschen meiner Heimatstadt. 1945 war der Dom nämlich nicht durch die zahllosen verheerenden Bombenangriffe auf die Stadt zerstört worden, auch nicht durch die Bodenkämpfe in der Stadt, als nur wenige Meter entfernt tagelang der Donaukanal die Frontlinie gebildet hatte, auch nicht, wie eine Zeitlang behauptet worden war, durch Artilleriebeschuss vom Kahlenberg – sondern ausgerechnet durch Plünderer. Also durch miese Kreaturen dieser Stadt, die in den Stunden der Anomie umliegende Geschäfte ausgeraubt und in Brand gesteckt haben. Aber es sind genauso auch Menschen dieser Stadt und dieses Landes, die dann binnen weniger Jahre – es waren die bitterarmen Jahre der Nachkriegszeit! – den großartigen Wiederaufbau des Domes geschafft haben. Wie wenn nie etwas passiert wäre.
Daher kann man auch tief überzeugt sein, dass die Pariser, die Franzosen, die Europäer, die ganze christliche Welt den Wiederaufbau schaffen werden. Und zwar genau so, wie Notre-Dame bis vor wenigen Stunden dagestanden war. Daran kann und darf es keine Sekunde einen Zweifel geben.
Immerhin ist Notre-Dame noch deutlich älter als der Wiener Dom. Immerhin ist an diesem Bau 200 Jahre gearbeitet worden, von Menschen, die naturgemäß den Sinn ihres Tuns immer in der Ewigkeit gelebt und gedacht hatten. Immerhin war Notre-Dame kunstgeschichtlich bahnbrechend. Immerhin finden dort alljährlich deutlich mehr Besucher hin als selbst in das stolze Wahrzeichen im Mittelpunkt Wiens. Immerhin hat der Brand sofort alle innenpolitischen Kontroversen in Frankreich beendet und zumindest vorerst Präsident und Gelbwesten vereint. Immerhin muss ihnen allen das, was sie so scharf getrennt hat, plötzlich selbst ziemlich lächerlich vorkommen. Und immerhin ist Notre-Dame ein Weltkulturerbe im wahrsten Sinn des Wortes.
Dieses Wort führt automatisch wieder nach Wien zurück, wo eine korrupte und kulturlose Politik einem miesen Geschäftemacher die Zerstörung des Weltkulturerbes Wien erlauben will. Wo aber tapfere Menschen und anständige Richter das vorerst und hoffentlich auf Dauer verhindert haben. Auch dieser Gegensatz erinnert unwillkürlich daran, wie mies und wie großartig sich Menschen verhalten können. Nicht nur 1945 und in den Jahren danach.
Und die Ursache? Gott sei Dank, nach allem, was man zur Stunde weiß, war Fahrlässigkeit bei Reparaturarbeiten und nicht Brandlegung die Ursache. An die freilich jeder unwillkürlich als erstes gedacht hat: Gerade in Frankreich. Gerade nach der Geschichte des Landes in den letzten Jahren. Gerade in der Karwoche, also der heiligsten Woche der Christenheit.
Erst vor wenigen Tagen hat eine Reportage beklemmend dargestellt, wie dramatisch die Übergriffe auf katholische Kirchen in Frankreich zugenommen haben: Allein im vergangenen Jahr sind über tausend französische Kirchen geschändet worden (hingegen hundert Gotteshäuser der anderen Religionen zusammen), weit mehr als in den Jahren davor. Ähnliche Berichte gibt es auch aus Deutschland. Da ist es fast ein Segen, dass keine Brandstiftung passiert ist, sondern "nur" einer der Unglücksfälle, wie sie seit jeher zur traurigen Conditio humana und zum Los der Städte gehört haben.
Doch die Frage nach der Seele Frankreichs, nach der Seele Europas bleibt eine brennende, auch wenn die letzten Glutnester gelöscht sein werden. Gibt es die noch? Ist diese Seele noch in der Asche von Notre-Dame zu finden? Hat sie vielleicht in den tapferen Feuerwehrmännern gebrannt, die unter Todesgefahr in die Kathedrale hineingegangen sind, um deren Struktur zu retten?
PS: Eine politisch unkorrekte Fußnote: Wo sind eigentlich die vielen Feuerwehrfrauen, die es nach dem Gewäsch unserer Genderistinnen doch geben müsste? Warum drängen Frauen nicht auch in diesen Beruf? Warum ist die Frauenquote eigentlich nur bei Aufsichtsräten, Universitätsmenschen und Abgeordneten ein Dauerthema, also wohlbezahlten Berufen, deren wirkliche Leistung vorsichtig ausgedrückt nur schwer messbar ist?