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Brexit und Algerien: zwei sehr gute Nachrichten – zur Halbzeit

Dass Algeriens Revolutionsmethusalem jetzt doch freiwillig geht, ist eine extrem gute Nachricht. Dass die EU den Briten in Sachen Grenze zu Irland jetzt doch nachgegeben hat, ist ebenfalls eine sehr gute Nachricht. Beides sind aber – um die Fußballsprache zu verwenden – letztlich nur Halbzeitstände. Und in der zweiten Halbzeit kann sich alles noch wenden (mit nachträglicher Ergänzung).

Vor allem in Algerien steht es offenbar ziemlich gut für eine positive Entwicklung auch in der zweiten Halbzeit. Gleich aus mehreren Gründen, zu denen eine Vielzahl von Akteuren beigetragen hat:

  1. Bouteflika geht – oder genau gesagt: wird von seinen Hintermännern zum Rücktritt "motiviert" –, ohne dass es Blutvergießen gibt. Wie positiv hätten sich die Dinge etwa in Syrien oder Libyen entwickelt, wie viel Leid wäre verhindert worden, wenn auch dort die Diktatoren rechtzeitig erkannt hätten, dass es Zeit zu gehen ist.
  2. Die Demonstranten, die wochenlang diesen Rücktritt verlangt haben, waren zahlreich, waren lautstark – aber sie waren komplett friedlich geblieben. Wieder ein dramatischer Unterschied zu vielen anderen arabischen Ländern, wo die Regimegegner nicht nur Demonstrationen, sondern auch eine Revolution gemacht haben.
  3. Die Armee hat wohl die entscheidenden Weichen gestellt. Sie hat sich dabei klug und verantwortungsbewusst verhalten. Sie hat Bouteflika verabschiedet – aber darauf gewartet, bis dieser einmal seinen Daueraufenthalt in europäischen Kliniken unterbrochen und nach Algerien zurückgekehrt war, sodass das Ganze nicht wie ein typisch afrikanischer Militärpusch aussieht, der immer dann stattfindet, wenn der Präsident im Ausland ist.
  4. Ohne einen konkreten Beweis zu haben, bin ich überdies ziemlich sicher: Bei diesen Entwicklungen hat Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, hinter den Kulissen tüchtig mitgeholfen. Aber das tat es friedlich und nicht dummdreist militärisch wie noch in Libyen.

Wie konnte es zu diesem vierfachen algerischen Wunder kommen? Das hat wieder eine doppelte Wurzel.

  • Die eine war die Entwicklung in zahlreichen anderen islamischen Ländern während der letzten Jahre, mit jahrelangen Kriegen und Chaos. Absolut allen genannten Akteuren war im Fall Algerien klar: Eine algerische Wiederholung dessen wollen sie nicht.
  • Die zweite Wurzel ist die eigene algerische Geschichte. Erst 2002 ist der zehnjährige Bürgerkrieg zu Ende gegangen, der fast 200.000 Todesopfer gefordert hat. Und 40 Jahre davor hat der Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich mit einer noch viel größeren – wenn auch nicht genau bekannten – Opferzahl nach ebenfalls fast zehn Jahren geendet. Die Erinnerung an diese Kriege ist so traumatisch, dass alle vernünftigen Algerier sagen: Nein, nicht schon wieder!

Vor allem die Erfahrungen des Bürgerkriegs dürften auch zeigen, wohin jetzt die Reise geht. Damals hat die Armee nur mit großer Mühe die Islamisten niedergerungen, die davor erstmals eine Wahl gewonnen und sofort begonnen hatten, Demokratie und Rechtsstaat zu demontieren. Daher wird auch jetzt die Armee eine sehr "geordnete" Nachfolgelösung herbeiführen und keinesfalls die Islamisten wieder hochkommen lassen.

Die algerische Lösung wird wohl sehr stark an das zweite große nordafrikanische Land erinnern, an Ägypten. Auch dort ist es der Armee nach etlichem Chaos und einem schlimmen islamistischen Intermezzo geglückt, eine Stabilisierung und Beruhigung herbeizuführen. Sie bekommt dafür zum Glück jetzt etliche Unterstützung aus dem Westen, aus Europa (auch Sebastian Kurz hat sich da engagiert), aus Amerika, aus Israel. Das Interessanteste: Sogar bei den europäischen Linken ist die Unterstützung für die Islamisten – pardon, sie sagen: für die Demokratie – sehr, sehr leise geworden.

Dass man sich für diese Länder keine normale, völlig offene Demokratie wünschen kann, ist freilich traurig, aber richtig. Aber, wie es der frühere österreichische Botschafter in Tunesien, Gerhard Weinberger, in einem mutigen und klaren Buch vor kurzem geschrieben hat: "Mit dem Koran ist kein Staat zu machen". Das hat auch Kemal Atatürk, der Gründer der neuen Türkei nach dem Ersten Weltkrieg, erkannt. Er hat aus dieser Erkenntnis heraus die Türkei in eine positive Entwicklung gelenkt, die fast ein Jahrhundert gehalten hat, bis dann doch mit Präsident Erdogan – wider alle Sperrversuche der türkischen Verfassung – der Islamismus an die Macht gekommen ist. Und gleich auch Demokratie und Rechtsstaat beseitigt hat.

Wir lernen aus all dem: Völker sind durchaus lernfähig – freilich hält die Wirkung von Lehren aus der Geschichte nur wenige Generationen. Bis dem Wahnsinn wieder Tür und Tor geöffnet werden.

Wechsel zur zweiten positiven Nachricht: Nach frustrierenden Monaten ohne Fortschritt gibt es offensichtlich erstmals eine neue konkrete Einigung zwischen Großbritannien und der EU, und zwar über das Hauptproblem des gesamten Verhandlungsprozesses, über die irisch-britische Landgrenze. Offenbar haben sich die Briten durchgesetzt, und es soll auf der irischen Insel jetzt doch eine echte EU-Außengrenze geben.

Das schafft – auch wenn da noch viel dazwischenkommen kann – gute Aussichten, dass es zu keinem "harten" Brexit ohne Vertrag kommt. In Irland ist man zwar entsetzt, weil dort will man, dass Nordirland so fugenlos wie möglich mit Irland verbunden bleibt. Aber in Wahrheit müsste auch jeder vernünftige Ire begreifen, dass die Grenze zum britischen Nordirland (Ulster) noch viel härter wäre, wenn es keine vertraglich vereinbarte Grenzlösung gibt.

Die merkwürdigen Geheimkontakte des EU-Unterhändlers Barnier in den letzten Tagen – er war ja auch bei Bundeskanzler Kurz, ohne dass man erfahren hätte, warum eigentlich – und die seltsamen Behauptungen der letzten Tage, dass Europa nichts zu verhandeln hätte, haben die nunmehrige EU-Konzession geschickt vorbereitet und bis zur letzten Stunde vernebelt. Nach allem, was man zur Stunde weiß, scheint da anerkennenswertes diplomatisches Geschick am Werk gewesen zu sein. 

Hut ab vor Herrn Barnier, der die Karten gerade noch rechtzeitig auf den Tisch gelegt hat.

Noch tiefer Hut ab vor Frau Theresa May. Sie hat den Poker mit der EU gewonnen. Offenbar haben die Briten zum zweiten Mal in ihrer Geschichte eine unglaublich toughe Lady, die sich zielgerade ihren Weg bahnt, obwohl sie schon x-mal totgeschrieben ist, obwohl ihr viele den Erfolg nicht gönnen. Ihr hat bisher vor allem genützt, dass ihre landesinternen Gegner zwar alle gegen sie sind, aber untereinander noch viel mehr uneins sind: Die einen wollen ganz in der EU bleiben; andere wollen so hart wie möglich ausscheiden; und die dritten wollten wiederum um jeden Preis May stürzen. Da hat nichts zusammengepasst.

Jetzt könnte man seitenweise schreiben, an welchen Faktoren ein geordneter Austritt immer noch scheitern könnte: etwa am selbstmörderischen Widerstand der Iren; etwa am EU-Wahlkampf; etwa an einigen weiterhin querschießenden Konservativen im britischen Unterhaus; und vor allem an der britischen Labour-Partei, deren Führer unfassbarerweise schon wenige Minuten nach dem Bekanntwerden der Einigung May-Barnier sofort gerufen hat: "Nein, wir sind dagegen!" Wir sehen: Labour hat in typisch sozialistischer Manier keine Zeit verschwendet, den Inhalt und die Konsequenzen der Einigung zu prüfen. Es hat nicht nachgedacht, was ein harter Brexit an Schaden auslösen wird. Es hat einfach Nein gesagt.

Jetzt kann man nach guter alter britischer Art wirklich nur noch: Abwarten und Tee trinken.

Bei allem Aufatmen, dass die Katastrophe eines harten Brexits vermeidbar geworden ist, kann man allerdings keinesfalls fröhlich sein. Denn das späte Tor für die Vernunft vor der Halbzeit bedeutet keine sichere Führung, bedeutet in Wahrheit vielleicht nur ein Unentschieden. Tatsache bleibt vor allem: Die EU ist ohne Briten eine viel schlechtere EU. Nicht weil sie kleiner wird, sondern weil die Briten unter den drei EU-Großen immer die Vernünftigsten waren.

Und traurig stimmt auch, dass man den Traum von einer Ideallösung jetzt wohl ganz aufgeben muss. Die hätte geheißen: Die Briten bleiben, aber die EU wird massiv redimensioniert auf das, was sie kann, wozu sie gut ist, und wozu wir sie brauchen. Also als Gemeinsamer Markt, als Wirtschaftsgemeinschaft, als Binnenmarkt mit Beschränkungen für die Personenfreizügigkeit, als Vorkämpfer eines globalen Freihandels ohne Handelskriege, als starke Macht, die die Herkunftsstaaten der Migranten zu deren Rücknahme zwingt. Und auch als Verteidigungsunion. Aber sonst als nichts – auch wenn Frankreich und Italien noch so sehr träumen, dass wir ihre Schulden mitübernehmen.

Nachträgliche Ergänzung: Der Rechtsberater der britischen Regierung hat inzwischen in einem Gutachten die Zugeständnisse der EU als doch nicht hundertprozentig wasserfest eingestuft. Damit dürften die Aussichten auf einen geordneten Bexit doch wieder kleiner geworden sein.

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