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Viktor Orbán kann sich die Hände reiben: Er hat zollfrei das ins Haus bekommen, was fast jeden erfolgreichen Wahlkampf ausmacht: einen klar erkennbaren Gegner, der zugleich weithin unbeliebt ist. Bloße Wohlfühlwahlkämpfe funktionieren längst nicht mehr. Der ungarische Premier hat in Person von Jean-Claude Juncker einen viel tauglicheren Gegner gefunden, als es der bisher allein im Schussfeld gestandene Georg Soros gewesen ist. Und noch wichtiger: Für die Kritik Orbáns an Juncker gibt es viel konkretere Beweise als im Falle Soros.
Die Attacken auf den betagten Altungarn mit amerikanischer Staatsbürgerschaft hatten immer den unguten Verdacht erweckt, dass Orbán damit unterschwellig antisemitische Gefühle ansprechen will. Es ist allerdings Tatsache, dass auch der israelische Ministerpräsident Netanyahu mit ganz ähnlichen Vorwürfen ein vehementer öffentlicher Kritiker von Soros ist. Was den Antisemitismus-Vorwurf weitestgehend relativiert.
Beide Regierungschefs attackieren Soros, weil er von Amerika aus in ihren Ländern gezielt linksliberale, regierungsfeindliche und migrationsfördernde NGOs und andere Einrichtungen finanziert. Politische Einmischung aus dem Ausland wird in den meisten Ländern aber gar nicht gern gesehen. Und ist in manchen überhaupt verboten:
Orbán hat offensichtlich das Problem seiner allzu monothematischen Soros-Kampagne erkannt. Er plakatiert deshalb neuerdings neben Soros auch den EU-Kommissionspräsidenten Juncker als Feindbild und Förderer der unerwünschten Zuwanderung.
Dank der massiven Überreaktion aus dem EU-Hauptquartier auf die ungarischen Plakate ist Orbáns Rechnung nun voll aufgegangen. Nunmehr weiß ganz Ungarn, dass der europäische Minusmann Juncker Hauptgegner Orbáns ist. Das ist wahlkampftechnisch ideal. Den ungarischen Wählern wird durch diese Überreaktion Brüssels vermittelt: Was für einen mutigen Ministerpräsidenten haben wir, ist er doch Hauptgegner des Chefs der EU-Kommission! Das erinnert viele daran, wie sich Orbán einst als junger Studentenführer furchtlos den sowjetischen Besatzern entgegengestellt hat.
Juncker, wie auch jene konservativ-christdemokratischen Unterstützer aus Deutschland, die sich jetzt für ihn stark machen, hätten wissen müssen, dass genau eine solche Überreaktion Orbán hilft.
Juncker ist nämlich "der" ideale Gegner: Er ist zwar in einer hohen Funktion, aber eigentlich schon eine lahme Ente, die in wenigen Wochen Geschichte sein wird. Überdies ist der Großteil der Europäer überzeugt, dass Juncker ein massives Alkoholproblem hat, und verachtet ihn schon deshalb. Viele andere Europäer halten Juncker wiederum seine blamable Rolle bei der Brexit-Katastrophe vor. Tritt doch unter seiner Präsidentschaft erstmals ein Land aus der EU aus; noch dazu das zweitgrößte. Juncker ist dafür tatsächlich mitverantwortlich (auch wenn viele EU-begeisterte Journalisten das nie ansprechen), hat er doch gegenüber London immer präpotent auf hart gespielt und den Briten die notwendigen Konzessionen verweigert.
Noch viel entscheidender trägt aber Junckers Rolle bei der Migration dazu bei, dass es so leicht ist, ihn als Minusfigur im Wahlkampf zu attackieren. Juncker ist beim – nicht nur für Ungarn –allerwichtigsten Thema Europas der letzten Jahre auf der falschen Seite gestanden. Er ist alles andere als ein Kämpfer gegen die Migration gewesen, auch wenn er und seine Verteidiger das jetzt erstaunlicherweise leugnen. Aber alle Europäer haben jahrelang gesehen, dass Juncker nichts gegen die illegale Immigration unternommen hat, dass er in seiner Abgehobenheit die Sorgen der meisten EU-Bürger nicht einmal begriffen hat.
Es gibt viele konkrete Beweise dafür, dass Juncker diese von Ungarns Regierungspartei plakatierte und kritisierte Pro-Migrations-Rolle tatsächlich gespielt hat:
Angesichts all dieser Fehler ist die ungarische Kritik an Juncker absolut gerechtfertigt. Auch wenn sie nicht der in internationalen Beziehungen üblichen Höflichkeit entspricht. Aber gerade Juncker kann sich über Unhöflichkeit nicht beschweren. Hat er doch selbst EU-Regierungschefs durch Kopfstücke, Wangentätscheln und Bezeichnung als "Diktator" beleidigt. Daher ist es nur lächerlich, wenn Juncker jetzt die ungarische Kritik so empört zurückweist.
Dass Ungarn eine besonders große Rechnung mit Juncker offen hat, ist seit langem klar gewesen. Hat doch die EU-Kommission ein Strafverfahren gegen Ungarn unter völlig diffusen Vorwürfen betrieben (etwa dass Orbán bei Gesetzesänderungen nicht die "NGOs" befragt habe …).
Orbán hat sich als gewiegter Stratege seine Rache jedenfalls gezielt für die Tage des EU-Wahlkampfs aufbewahrt.
Nun steht die Europäische Volkspartei vor dem großen Dilemma: Soll sie trotz allem dem Druck von Juncker, aber auch der verbliebenen Merkel-Anhänger in CDU und ÖVP (wo es zumindest einen noch gibt, nämlich Othmar Karas) nachgeben und Orbáns Partei ausschließen, weil diese den ja aus der EVP kommenden Juncker so heftig angreift? Das würde freilich die Aussichten der EVP schmälern, am ersten Platz zu landen und damit Anspruch zu haben, den nächsten Kommissionspräsidenten zu stellen.
Derzeit hat sie ja noch gute Aussichten darauf – trotz der erwartbaren schweren Verluste. Denn die noch an zweiter Stelle liegenden Sozialdemokraten werden noch viel schwerere Verluste erleiden.
Nach einem Ausschluss Orbáns würden der EVP aber nicht nur die Mandate der ungarischen Fidesz fehlen, um den – ohnedies jämmerlich schwachen – EVP-Spitzenkandidaten Weber an die Spitze zu bringen. Es besteht auch die Gefahr, dass sich dann noch viel mehr derzeit schwankende Wähler anderer Länder von der Europäischen Volkspartei abwenden und den Weg Orbáns gehen werden.
Dieser würde wohl schon am Tag nach einem EVP-Ausschluss mit großem Jubel bei der Allianz zwischen Le Pen, Salvini und Strache Einzug halten, also bei jener Gruppe, die jetzt schon mit Sicherheit die weitaus größten Zugewinne aller EU-Fraktionen erzielen wird.
Bei einem Ausschluss Orbáns ist auch die riskante Doppelstrategie von Sebastian Kurz endgültig in Trümmern. Lässt er doch auf der ÖVP-Liste zwei Spitzenkandidaten, die absolut nichts gemeinsam haben, miteinander – eigentlich gegeneinander antreten. Den Juncker-Merkel-Mann Othmar Karas auf der einen Seite und auf der anderen die in jeder inhaltlichen Frage ganz mit Orbán deckungsgleiche Staatssekretärin Edtstadler. Aber wenn Orbán hinausgeworfen wird, wird es wohl auch die ÖVP-Liste zerreißen.
Dabei ist ja jetzt schon zweifelhaft, wie Edtstadler und Karas, wie Merkel und Berlusconi, wie Juncker und Orbán auch nur irgendwie zusammenpassen und zur gleich Partei gehören sollen. Viele Wähler werden sich selbstkritisch fragen, ob sie mit dem Ankreuzen der EVP nicht genau jene Hälfte dieser EU-Partei stärken, die sie nicht wollen.