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Das britische Dilemma: Ist Cameron der Schuldige?

Die Briten wissen nicht mehr ein noch aus. Das Land hat jetzt zwar drei Möglichkeiten in Sachen EU-Brexit – aber für keine gibt es eine Mehrheit im Unterhaus oder einen Konsens mit Brüssel. Es gibt bei jeder einzelnen dieser drei Varianten nur eine Mehrheit, die ausdrücklich dagegen ist. Für die Briten wie auch für die Rest-EU droht das bittere Zeiten an – wenn es nicht noch zu einer Einigung in letzter Minute kommt. Gleichzeitig treten immer mehr zwei zentrale Fragen in den Vordergrund. Erstens die des Rückblicks: Wer ist schuld am Schlamassel? Zweitens die des Ausblicks: Wie werden wir da noch herauskommen?

Die drei Möglichkeiten:

A. Brexit ohne Deal. Das ist die Default-Lösung, die zwar für alle Seiten die weitaus schlimmsten Folgen hat, aber zu der es quasi automatisch kommen wird, wenn es bis zum 29. März keinen Konsens über eine andere Lösung gibt. Nur minimal schadensmindernd wäre ein auf den Austritt folgender Beitritt der Briten zur Efta (bei der auch Österreich weiland vor der EU-Mitgliedschaft gemeinsam mit den Briten Mitglied gewesen ist) respektive zum EWR (der Europäische Wirtschaftsraum ist gleichsam der Vorhof zur EU). Aber auch da müssen wohl sowohl Brüssel wie auch Westminster zustimmen, plus ein paar andere Länder wie Norwegen.

B. Brexit nach Neuverhandlungen. Diese Variante versucht Theresa May derzeit noch mit aller Verzweiflung. Aber dazu müsste die EU bereit sein, über eine Abänderung des Brexit-Vertrags zu verhandeln, damit die britische Premierministerin vielleicht mit dieser Abänderung doch noch eine Mehrheit bekommt. Darüber einen Konsens unter 27 Mitgliedern herzustellen, scheint aber unmöglich.

C. Verbleib der Briten nach einem neuerlichen Referendum. Das wäre natürlich für ganz Europa die sympathischste Version. Sie wird aber in Großbritannien extrem schwierig zu realisieren sein. Denn selbst wenn heute bei den meisten Umfragen die Mehrheit gegen den Brexit zu sein scheint, so sei daran erinnert, dass auch schon vor dem ersten Referendum die Umfragen ein solches Bild gezeigt haben.

Rund um diese drei denkmöglichen Möglichkeiten haben sich alle Seiten in trotzige und dumm-unnachgiebige Haltungen einzementiert. Diese Verhaltensweisen erinnern an die Blödheit jugendlicher, meist migrantischer Autoraser, die mit Vollgas aufeinander zurasen – wobei jeder spekuliert, dass der andere noch rechtzeitig ausweichen wird. Die Rolle der einzelnen Beteiligten:

  • Die meisten EU-Staaten lehnen (vorerst?) ein neuerliches Verhandeln als Schwäche und Zerstörung eines mühsam austarierten Kompromisses ab. Viele EU-Fundamentalisten fürchten den Präzedenzfall, dass dann auch andere Länder Lösungen verlangen würden, die ohne den absoluten Vorrang des EU-Rechts auskommen. Ihre Haltung verringert die Chancen auf Variante B stark.
  • Etliche EU-Regierungen hoffen überdies insgeheim, dass durch ein europäisches Hartbleiben Labour in London an die Macht kommt. Sie beschädigen lieber Europa dauerhaft (denn auch die Rest-EU würde ja durch einen No-Deal-Brexit massiv leiden). Das verringert die Chancen auf Variante B zusätzlich.
  • Die Iren wollen den Briten keine Konzessionen machen, um weiterhin eine unsichtbare Grenze Richtung Nordirland zu haben. Diese irisch-nordirische Grenze war auch schon bei den langen Brexit-Verhandlungen der weitaus schwierigste Punkt. Die Iren riskieren damit aber, dass es zu einer noch viel härteren Grenzziehung als Folge eines No-Deals kommt. Werden sie im letzten Moment doch noch erkennen, dass das gerade für sie die allergrößte Katastrophe wäre?
  • Die britische Labour-Partei hat zwar keine klare und vor allem keine einheitliche Haltung zum EU-Austritt. Einig scheinen sich aber alle Labour-Abgeordneten zu sein, dass sie keinesfalls der Regierung die Hand zu einer Lösung reichen wollen. Daher blockieren sie sowohl Variante B wie C. Sie wittern die Rückkehr zur Macht – und opfern alles diesem Ziel. Oder begreift Labour im letzten Augenblick doch noch, dass es dadurch mit Sicherheit zur Variante A kommen wird, obwohl auch bei den britischen Sozialisten diese niemand wollen kann? Denn ein No-Deal-Exit wäre für Großbritannien die schlechteste aller Entwicklungen. Aber sie ist die einzige, bei der May wahrscheinlich nicht die Unterstützung von Labour-Abgeordneten bräuchte. Bei der sie daher auch den Sturz als Premierministerin vermeiden könnte.
  • Die militanten EU-Gegner bei den britischen Konservativen wollen aus ganz anderen Motiven, nämlich wegen ihrer Ablehnung jeder Bindung an die EU, ebenfalls weder B noch C. Sie riskieren sogar lieber Neuwahlen – selbst unter Inkaufnahme der realistischen Gefahr, dass dann Labour übernimmt und sehr wohl alle Bedingungen der EU akzeptiert.
  • Die EU-Befürworter im Unterhaus wiederum taktieren bis zuletzt sowohl gegen Variante A wie auch B. Sie wollen unbedingt ein neues Referendum.
  • Theresa May sieht ihre einzige Überlebenschance in einem Pokern bis zum letzten Moment, bis vielleicht dann zwei Minuten vor Zwölf EU, Iren, Labour oder die EU-Gegner in den eigenen Reihen doch noch die Nerven verlieren und nachgeben.
  • Die Austritts-Befürworter hätten in der Kampagne vor einem eventuellen zweiten Referendum ein zusätzliches, emotional sehr wirksames Argument: "Die Politik will uns solange abstimmen lassen, bis ihr das Ergebnis gefällt! Das ist doch zutiefst undemokratisch!" Das lässt die britische Regierung vor der Variante C zurückschrecken.

Es ist eine dramatische gegenseitige Blockade aller Akteure, die an die Tragödien der griechischen Antike erinnert, wo die Menschen aus der gegenseitigen unheilvollen Verstrickung keinen Ausweg finden. Zusätzlich tragisch ist die Entwicklung, weil mit Rumänien ausgerechnet die unfähigste und korrupteste Regierung Europas während der letzten Monate vor dem Austrittsdatum die Präsidentschaft übernimmt.

Man kann das Brexit-Drama auch mit den Wochen und Monaten vor Ausbruch des ersten Weltkriegs vergleichen, wo ebenfalls aus Dummheit, geistiger Unbeweglichkeit und Bluffen bis zum Ende heraus (sowie damals zusätzlich wegen des nationalen Expansionsstrebens Frankreichs, Russlands, Serbiens und Italiens) keine Seite zum Nachgeben, Verhandeln und Kompromisse-Schließen bereit war – weshalb dann vier Jahre lang so viele Europäer einen sinnlosen Tod auf den Schlachtfeldern gefunden haben. Jeden Tag wieder 6000.

Auch wenn es angesichts dieser Situation wenig Chancen für die Vernunft gibt, so sollte dennoch Sebastian Kurz in den letzten Wochen der EU-Präsidentschaft unverdrossen eine Pendelmission zwischen London, Dublin und Brüssel starten. Nutzt‘s nichts, so schadet’s nichts. Er könnte dann wenigstens mit der Autorität dieses Amtes all jene beim Namen outen, die verantwortlich sind, wenn die schlechtestmögliche Variante Wirklichkeit wird.

Die zweite jetzt immer drängender werdende Frage ist eine der Ursachenforschung: Wer ist eigentlich schuld, dass es so weit kommen konnte? Hier macht es  sich jeder viel zu einfach, der sich mit Nennung eines Schuldigen begnügt – und in den meisten Fällen David Cameron nennt. Der Vorgänger von May hatte ja einst das Austritts-Referendum angesetzt. Er hatte geglaubt, mit einer Flucht nach vorne die immer lauter und immer stärker werdende Front der EU-Gegner in Großbritannien zum Schweigen bringen zu können.

Diese Kalkulation ist kräftig schiefgegangen. Dennoch ist das Abladen der kompletten Schuld auf Cameron ein wenig zu einfach. Denn es ist völlig klar: Hätte er nicht das Referendum versucht, dann wäre der EU-Austritt das alles dominierende Thema bei den nächsten Unterhauswahlen geworden. Denn die Anti-EU-Stimmung hat sich in Großbritannien emotional immer mehr aufgeheizt. Und irgendwann hat sie den Zeitpunkt erreicht, wo es nicht mehr geht, gegen das Volk zu regieren.

Am Schluss sind immer die Bürger die entscheidende Kraft, selbst wenn man glaubt, sich über sie hinwegsetzen zu können. Gegen den Willen der Menschen zu regieren, geht aber immer nur sehr begrenzt und kurzfristig.

Das erlebt in diesen Tagen und Wochen auch der französische Präsident. Genauso, wie es schon seit längerem die deutsche Bundeskanzlerin erfahren hat müssen oder die frühere italienische Linksregierung.

Daher muss die eigentliche Frage viel tiefer gehen: Warum hat sich die Stimmung der Briten im Juni 2016 so stark gegen die EU gerichtet, haben sie doch vorher trotz ihres Hangs zur noblen Isolation die Mitgliedschaft jahrelang mehrheitlich durchaus positiv gesehen? Die Antwort heißt ganz eindeutig: Das entscheidende Ereignis, das die Mehrheit kippen ließ, war die Völkerwanderung aus Asien und Afrika.

Nie zuvor waren so viele Menschen aus der Dritten Welt als angebliche Flüchtlinge einfach in die EU einmarschiert wie in den zwölf Monaten vor dem britischen Referendum. Allein in diesem Zeitraum hat die Zahl der Immigranten  die Millionengrenze deutlich überschritten. Gerade in diesem Zeitraum hat sich die völlige Hilfslosigkeit der europäischen, wie auch der deutschen und österreichischen Behörden besonders anschaulich gezeigt. Auch die britischen Bürger haben immer wieder die schockierenden Szenen zu sehen bekommen, wo Einmarschierende die Polizisten an der Grenze einfach zur Seite geschoben haben.

Dieses Versagen der EU-Kommission und der mitteleuropäischen Regierungen hat auch und gerade bei den Briten Entsetzen ausgelöst. Sie haben von dort an Stelle wirksamer Abwehrmaßnahmen nur das Verlangen gehört, die illegalen Migranten einfach auf ganz Europa umzuverteilen. Sie haben mit Schrecken die Berichte aus Calais verfolgt, wo Tausende bedrohliche Gestalten monatelang wild campiert und immer wieder versucht haben, auf irgendwelchen illegalen Wegen den Tunnel Richtung Großbritannien zu durchqueren. Dabei war dieser Tunnel eigentlich einst das stolze Symbol der Anbindung der britischen Inseln an den Kontinent. Jetzt aber war das, was er bringt, zur gefürchteten Bedrohung geworden.

Auch wenn es die österreichischen und deutschen Medien noch immer weitgehend verschweigen, auch wenn dort das Brexit-Referendum als motiv- und ansatzloser Ausbruch kollektiver Dummheit der Briten erscheint, haben britische Analysen längst klar gemacht: Ohne Völkerwanderung wäre das Referendum anders ausgegangen. Aber naturgemäß haben Medien, die diese Völkerwanderung damals lautstark bejubelt haben, keine Motivation, all die vielen katastrophalen Folgen aufzuzeigen, die durch diese Völkerwanderung ausgelöst worden waren.

Die Massenmigration hat das ohnedies schon gestiegene Unbehagen vieler Briten über andere Entwicklungen in der EU zum Überlaufen gebracht. Also über Tausende Beispiele der Überregulierungen, über die Schulden-Politik vieler EU-Länder, über die Nichteinhaltung vieler EU-Regeln - an die sich die Briten selbst korrekt halten! - vor allem in den südlichen EU-Ländern, über die intensiven und immer wieder ein Stück vorankommenden Anläufe vor allem der sechs EU-Gründungsmitglieder, aus einem Binnenmarkt doch noch Vereinigte Staaten von Europa zu machen, und auch über den Eindruck, dass Franzosen und Deutsche als "die Chefs" der EU auftreten.

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