Die Zeit der Volksparteien ist vorbei. Das gilt links der Mitte noch mehr als rechts der Mitte. Klassensolidarität, religiöse Bindung, ein Diese-Partei-haben-schon-meine-Eltern-gewählt, Kongruenz der ideologischen Überzeugungen zwischen Wähler und Partei: Nichts davon hält mehr als Kitt Parteien zusammen. So eindeutig das ist, so spannend ist aber die zweite Frage: Was ist heute entscheidend für die Wahlentscheidung der Menschen?
Die Südtirol-Trentiner Landtagswahlen haben erneut die Trends bestätigt, die sich seit einigen Jahren quer durch die Demokratien ziehen. Diese Trends sind aber nicht sonderlich ermutigend für die traditionellen Parteien:
- Vielerorts verschwinden die Altparteien ganz. So ist in Italien keine einzige der Parteien mehr wahrnehmbar, die jahrzehntelang das Nachkriegsitalien beherrscht haben: Democristiani, Kommunisten oder Sozialisten, oder auch Kleinparteien wie Republikaner, Liberale oder Sozialdemokraten. Sie sind tot oder zusammen mit anderen in ganz neuen Parteien aufgegangen. Da ist übrigens die Südtiroler Volkspartei, die jetzt überall als großer Wahlverlierer porträtiert worden ist, mit mehr als 40 Prozent geradezu noch ein imposanter Rest an Beständigkeit, auch wenn sie ein Drittel ihrer Wähleranteile verloren hat. Die Minderheit ist mehrheitlich also noch immer zum "Zusammenhalten" motiviert, wenn auch angesichts suboptimaler Führungspersönlichkeiten schwächer denn einst.
- Am wichtigsten für Wahlerfolge ist der Neuigkeitsfaktor. Etwas Neues muss her. Die Wähler lechzen immer schneller nach einem Reizwechsel. Daher haben neue Parteien oder komplett neugewandete exzellente Chancen. Fast überall. Man denke an Osteuropa, wo schon seit Jahren von Tschechien bis Slowenien völlig neu entstandene Gruppierungen reüssieren. Aber auch in Griechenland oder Spanien drücken neue Parteien die alten ganz an die Wand. Und wenn es schon keine komplette Neugründung ist, dann empfiehlt sich zumindest eine Totalrenovierung, die etwa aus Schwarz ein Türkis macht, aus einer separatistischen "Lega Nord" eine gesamtitalienisch-nationalstolze "Lega", bei der das alte Feindbild des auf Kosten des Nordens den Sonnenschein genießenden Südens völlig verschwunden ist.
Großes Problem dabei: Nach vier Jahren ist das Neue dann halt nicht mehr neu. Und daher oft nicht mehr als gschmackiger Gaumenkitzel für die Wähler wirksam und verschwindet wieder, siehe Stronach, siehe die diversen slowenischen Wahlsieger.
- Ziemlich unwichtig ist hingegen der politische Inhalt. Nicht dass dieser die Wähler nicht interessieren würde. Aber sie spüren, dass sie in einem Punkt mit dieser, im anderen mit einer zweiten und in einem weiteren mit einer dritten Partei harmonieren. Sie wissen vor allem, dass sie in der bloß repräsentativen Demokratie ohnedies keinerlei Chance haben, bei Sachentscheidungen mitzuentscheiden. Wahlprogramme sind außerdem oberflächlich, glatt und austauschbar geworden; sie haben mit dem, was nach der Wahl geschieht, oft erschreckend wenig Ähnlichkeit. Daher schaut man gar nicht, ob es überhaupt eines gibt.
Man denke an die Freien Wähler in Bayern, von denen wohl kein einziger Wähler sagen kann, wofür die eigentlich genau stehen. Man denke an den Südtiroler Köllensperger als den soeben erst aufgegangenen Stern: Seine Partei wurde aus dem Nichts zweitstärkste – und zwar weil (nicht obwohl!) auch bei intensivster Suche kein wirkliches Programm auffindbar ist. Ein sympathischer Typ, der sich bei den linkschaotischen Fünf Sternen nicht so richtig wohlgefühlt hat, Unternehmer mit bürgerlichem Background – das ist alles. Da ist kein Inhalt zu finden – aber damit naturgemäß auch kein Inhalt, der irgendjemanden abschrecken könnte. Und wenn schon ein Inhalt kommuniziert wird, dann am besten nur ein monothematischer, wie es die AfD in Deutschland tut. Sie weiß: Würde sie beginnen, sich zu allen Sachfragen konkret zu positionieren, würde sie dadurch weit mehr Wähler abschrecken als gewinnen.
- Ganz wichtig ist hingegen eine zumindest kurzfristig überzeugende Führerfigur: Man denke etwa an die Namen Macron, Kurz, Köllensperger, Tsipras, Babis, Pilz, Salvini. Man sollte den Wählern diese Führerfixierung aber keineswegs vorwerfen. Sie wählen das, was sie am ehesten sehen: den Spitzenkandidaten. Man entscheidet nach Sympathie, nach Glaubwürdigkeit, nach Auftreten, nach Aussehen, nach Ausstrahlung, nach Tatkraft. Und eben danach, ob einer eh nicht irgendetwas sagt, was abschreckt. Dieser Spitzenmann muss deshalb freilich ein Doppelgesicht zeigen: Einerseits soll er zielbewusst-tatkräftig wirken – andererseits soll er eben keine wichtige Wählergruppe abschrecken. Und dennoch muss er zugleich jedenfalls authentisch wirken. Der Wähler muss das Gefühl bekommen: ja, das ist er selber und nicht bloß ein Agenturprodukt. Musterbeispiel Donald Trump: Da ist jedem Wähler klar: Der ist noch nicht durch zehn Pressesprecher und Berater zur Unkenntlichkeit glattgeschliffen worden.
- Von den Sachthemen ist nach wie vor das Migrationsthema das Wichtigste. Lega, AfD, wie auch niederländische, österreichische, skandinavische, tschechische Wahlergebnisse bestätigen das. Ungarns Viktor Orban hat aus der Ablehnung von Migration sogar eine schier uneinnehmbare Festung zu bauen verstanden, in der er auch mit Begeisterung wiedergewählt wird, obwohl er selbst wirklich kein neues Gesicht mehr ist.
- Zweifellos ist auch – eng damit verwandt – Law and Order ganz wichtig. Brasilien, Philippinen, die USA, aber auch Russland zeigen, dass ein starker Mann, der aufzuräumen verspricht, für viele Wähler das verkörpert, was sie wollen, und wo sie auch das oberste Staatsziel sehen.
- Die klassischen Medien (Zeitungen, Fernsehen, Radio) verlieren alljährlich weiter an Stellenwert, auch wenn sie von vielen Wahlkämpfern noch sehr ernst genommen werden. Aber inzwischen haben die meisten Parteien begriffen, dass das Internet als Kampffeld immer wichtiger wird. Wobei die FPÖ europäischer Spitzenreiter ist, die sich mit Erfolg eine eigene Medienwelt aufgebaut hat, die mit hohen Einschaltquoten an den klassischen Medien vorbei kommuniziert. Im Wesentlichen ganz ähnlich, wenn auch durch die persönliche Unmittelbarkeit noch viel wirksamer ist der täglich über Twitter seine Meinungen zu allem und jedem absetzende Donald Trump (der aber dabei natürlich nie etwas sagt, was wichtigen Wählergruppen unangenehm sein könnte). Zugleich punktet Trump mit ständig gezeigter Aversion gegen die klassischen Medien, die ja so wie die klassische Politik einen gewaltigen Vertrauensverlust erzielt haben, die ihm durch ihre allzu offen gezeigte Feindschaft letztlich nur nutzen.
- Wer mit proeuropäischer Begeisterung in einen Wahlkampf zieht, muss schon sehr mutig oder ahnungslos sein. Denn Wahlen sind damit nirgendwo mehr zu gewinnen. Freilich machen auf der anderen Seite die britischen Brexit-Konflikte die Chancen jeder EU- oder Euro-Austrittsbewegung derzeit völlig chancenlos. Also lautet das Rezept: scharfe EU-Kritik – aber kein Wort von Austritt.
- Hingegen haben in Zeiten der wirtschaftlichen Hochkonjunktur und des Fehlens von Kriegen irgendwo (die Ukraine wird nicht mehr als Krieg wahrgenommen, und Syrien ist deutlich abgeflaut) der bloße Appell an das Stabilitätsbedürfnis, der Verweis auf die eigene Erfahrung und der so oft verwendete Slogan "Keine Experimente!" massiv an Wählerwirksamkeit verloren. In solchen Zeiten probiert man einfach gerne mal etwas Neues, ein neues Gesicht. Aber kaum werden die Zeiten wieder schlechter, werden solche Slogans wohl wieder Erfolg haben.
- Auch Wirtschaftskompetenz ist derzeit für die Wähler unwichtig, weil es fast allen ziemlich gut geht. Und die Warnungen vor den gewaltigen längerfristigen Gefahren (Verschuldung, nachhaltig zum Scheitern verurteiltes Pensionssystem, Euro-Krise durch Hilflosigkeit gegenüber undisziplinierten Staaten …) sind schon zu oft ausgesprochen worden, als dass sie noch wirken könnten.
- Demographiekrise, also das Aussterben der Europäer? Das könnte überhaupt erst dann zum Thema werden, wenn es passiert ist. Und dann ist es natürlich erst recht kein Thema mehr. Es gibt noch viele anderen Themen, die versucht werden, aber nicht ziehen: Armutsbekämpfung, Globale Erwärmung, Emanzipation. Und in Südtirol war es zuletzt auch die Forderung nach der doppelten Staatsbürgerschaft: Man wählt zwar noch immer streng nach ethnischen Linien getrennt, aber die ethnische Polarisierung ist in den Hintergrund getreten. Was freilich schlagartig anders werden könnte, sobald das Schuldenpolitik-Experiment der römischen Regierung scheitert.
So repräsentativ diese Analyse auch für viele europäische Wahlgänge ist, so sehr sollte man sich bewusst sein: Vielleicht schon im nächsten Jahr könnten neue Trends, neue Notwendigkeiten, neue Bedrohungen das Stimmungsbild völlig ändern.
Wenn man aber prüft, ob das gegenwärtige Politikbild eigentlich insgesamt eine gute Entwicklung zeigt, dann ist dazu keineswegs ein volles Ja zu sagen, auch wenn manches optimistisch stimmt.
Denn die immer stärkere Konzentration aller Parteien auf "den" inhaltslosen Spitzenmann ist gefährlich. Der Glaube an den Messias ist in der Politik immer noch schiefgegangen, auch wenn es durchaus ansprechende Politiker wie Sebastian Kurz gibt, die derzeit einen sehr guten Eindruck machen.
Aber auch Kurz ist nicht der liebe Gott, der allwissend und fehlerfrei agieren könnte. Daher wäre es zweifellos viel beruhigender, wenn die Macht nicht nur auf einem Paar Schultern, sondern auf vielen läge, wobei es natürlich trotzdem gute Entscheidungsmechanismen bräuchte, die Klarheit schaffen, die endlose Dauerkonflikte verhindern könnten.
Idealerweise sollte es in Österreich sechseinhalb Millionen Schultern geben, auf denen das Land lastet. Denn nur die Möglichkeit, wirklich mitentscheiden zu können, führt zum Bewusstsein von Mitverantwortung. Aber bis das die Mächtigen akzeptieren, wird es noch länger dauern.
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