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Der Fasching geht zu Ende. Und mit ihm auch die Zeit Hunderter Bälle mit Damen in langen Kleidern und Herren im Anzug, wenn nicht Frack oder Smoking. Das ist gerade im Jahr der MeToo-Hysterie ein Anlass zu einigen erstaunlichen Beobachtungen.
Gewiss, Fasching vulgo Karneval ist besonders in Deutschland auch die Zeit wild ausgelassener Veranstaltungen, rüder Scherze und nächtlicher Exzesse. Also gewiss keine Jahreszeit, die an sich sonderlich vorbildlich wäre. Von den traditionellen großen Bällen hingegen kann man das schon sagen.
Denn gerade in diesen Bällen schließt ein großer kultureller Bogen die (einstige) aristokratische und die bürgerliche Welt zusammen. Zu diesem Bogen gehört die Welt der Tanzschulen und des guten Benehmens. Unter diesem Bogen werden aus Mädchen und Frauen Damen, werden aus Burschen und Männern Herren, Zwischen ihnen treten ganz genaue Regeln anstelle des früheren "Die Mädchen sind blöd/die Buben sind blöd" in Kraft. Der spannende Prozess des Erwachsenwerdens ist in spannender Art mit einer kulturell-zivilisatorischen Prägung verbunden.
Plötzlich ist körperliches Gepflegtsein wichtig. Bis dahin oft pubertär rüde junge Burschen bemühen sich, zu Gentlemen zu werden, unsichere Mädchen möchten selbstsichere und strahlende Prinzessinnen werden. Und beide beginnen zu begreifen: In der von ihnen neu eroberten Welt ist etwas wichtig, was in vielen Schulen immer weniger wichtig geworden ist: Manieren und Benehmen.
Auch für Familien ist es toll, diesen Prozess der Häutung vom Kind zum Erwachsenen nach Jahren oft schwieriger Entwicklungsprobleme beobachten zu können. Aus der hässlichen Raupe sind strahlende Schmetterlinge geworden. Nichts anderes ist ja gemeint, wenn man von Aufnahme in die Gesellschaft spricht.
Eng verwandt mit der bürgerlich-aristokratischen Welt der langen Abendkleider ist die in den letzten Jahren besonders intensiv boomende Welt der Jäger- und Bauernbälle. Tracht, Dirndl, Lederhose üben einen unglaublich starken Reiz aus. Sie sind ein ganz ähnliches kulturelles und entwicklungspädagogisches Phänomen mit starker und demonstrativer Verankerung in der jeweiligen Tradition.
Diese Tradition ist bei beiden Faschingskulturformen eine typisch österreichische. Dirndl und Lederhose sind ganz eng mit dem Alpenraum verbunden (was natürlich etwa auch Südtirol oder Bayern einschließt). Und die typischen Wiener Bälle sind überhaupt – nach der klassischen Musik – eines der attraktivsten Produkte der Stadt. In zahllose Städte hat man schon Wiener Opernbälle exportiert. Ohne dass freilich auch nur einer an die Bälle in Österreich herangekommen wäre. Ist doch ein Ball nicht etwas, bei dem man bloß zuschaut, das man einfach konsumieren kann wie irgendein Kulturevent, sondern wo sich alle bewusst sind, Akteur und Voyeur zugleich zu sein.
Dieser faszinierende Kulturbogen hat aber auch erbitterte Feinde, vor allem rund um jene Geisteshaltung, die durch die linksradikale Studentenrevolution 1968 geprägt worden ist. Diese Haltung beherrscht heute vor allem die Kultur- und Medienszene sowie einen Teil der Universitäten – nicht zu deren Vorteil, aber das ist hier nicht das Thema.
Für diese Gegenkultur ist die ganze Welt von Frack bis Lederhose, von Abendkleid bis Dirndl total verachtenswert. Alles, was an Österreich erinnert – neuerdings singen sie bei Balleröffnungen sogar die Bundeshymne, die Hymne an die "Heimat großer Söhne" mit! – ist für die 68er Welt unerträglich, widerlich, nationalistisch. Sie hat statt dessen als ihre Werte handfeste Pornographie und wilde Promiskuität propagiert. Selbst im ärgsten Drogenrausch würden viele linke StudierendInnen nicht zu einem Ball welcher Art immer zu bringen sein. Bälle wie gutes Benehmen zu verachten – oder vielleicht sogar dagegen zu demonstrieren – gehört in etlichen Szenen geradezu zur Selbstverständlichkeit.
Das führt heute freilich zu einer reichlich absurden Diskrepanz in dieser Szene. Denn zumindest in ihrem weiblichen und meist in die Jahre gekommenen Teil brandet neuerdings eine massive Welle der Empörung über schlechtes Benehmen, über fehlende Manieren und üble Umgangsformen von Männern hoch. Das ist total widersprüchlich. Einerseits hat man die bürgerlich-konservative Welt der guten Manieren und Umgangsformen jahrelang verachtet, andererseits ist man empört, wenn sich Männer alles anders als bürgerlich- oder religiös-konservativ benehmen, wenn sie sich bewusst proletarisch-revolutionär verhalten.
Der Welt der 68er liegt die andere Welt von Tanzschule, wo man lernt, wie respektvoll und ganz anders als unter Mitschülern man Damen zu behandeln hat, von Benehmen und bürgerlichem Anstand oder gar von christlicher Enthaltsamkeit und Heiratsantrag ferner als der Mars mit seinen Männchen. In der Welt der proletarischen Revolution haben es viele Männer durchaus als Teil ihrer progressiven Attitüde und der notwendigen Weltveränderung gesehen, dass man sich Sex ohne langes Getändel einfach holt. Und sind sie nicht willig …
Aus der bürgerlichen Welt von Ball und Tanzschule würden sich hingegen Männer selbst geradezu hinauskatapultieren, wenn sie dort Frauen gegen ihren Willen attackieren. In dieser Welt bangen Mädchen eher, ob es genug Männer gibt, die mit ihnen tanzen wollen, sind diese doch vielfach Tanzmuffel.
Die MeToo-Bewegung begreift nicht den Zusammenhang zwischen der linken Verachtung für bürgerliche Werte und Verhaltensnormen und den von ihr neuerdings aufgespießten Verhaltensformen. Natürlich ist ein verbaler oder praktizierter Handkuss nicht lebenswichtig. Aber er ist doch körpersprachlich ein so eindeutiges Symbol des Respekts, das sich nicht mit einem Griff zwischen die Schenkel verbinden lässt.
Da die derzeitige Aufregung oft jahrzehntelang zurückliegende Ereignisse betrifft, liegt die Vermutung nahe, dass das auch mit subjektiven Veränderungen der MeToo-Rufenden zu tun haben könnte:
Viele der heutigen Aufregungen sind also psychologisch durchaus verständlich, wenn auch oft nicht sonderlich edel. Wirklich widerlich wird die Aufregungswelle aber dann, wenn streng zu bestrafende Verbrechen wie Vergewaltigungen oder sexuelle Erpressungen oft mit bloßen Formen schlechten Benehmens gezielt und ununterscheidbar vermischt werden.
Wer solche Verhaltensweisen vermischt, verharmlost die wirklich schlimmen Vorfälle, die aber eben nur einen Teil der jetzt Jahrzehnte später beklagten Fälle sind. Ganz abgesehen von dem in jedem Rechtsstaat geltenden Prinzipien der Unschuldsvermutung und des "Im Zweifel für den Angeklagten".
Und noch etwas ist am mancherorts noch für modisch gehaltenen linken Zeitgeist absurd: Einerseits erregt man sich maßlos über auch Jahrzehnte zurückliegende Belästigungen. Andererseits erregt man sich in der gleichen linken Szene maßlos, weil die Regierung – im Einklang mit der Mehrheit der Bevölkerung – die Fälle sexueller Gewalt strenger bestraft wissen will.
Logik? Fehlanzeige. Aber andererseits: Wann waren Linke schon jemals logisch?