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Eine Regierung und fünf verschiedene Antworten auf das „Wohin geht es?“

Es ist ein altes Phänomen: Viele politisch engagierte Menschen sind einmal zur Erkenntnis gekommen, dass sie zur Durchsetzung ihrer Ziele erst den Marsch durch die Institutionen absolvieren müssen. Viele haben daher diesen Marsch angetreten – nur haben aber fast alle dann unterwegs vergessen, weshalb sie das eigentlich getan haben. Dieses oft erlebte Design kommt einem in den Sinn, wenn man über die Perspektiven der neuen Regierung nachdenkt. Erklärt es, wie Schwarz-Blau in die Geschichte eingehen wird? Es gibt aber auch noch vier  ganz andere Narrative der inneren Motivation der neuen schwarz-blauen Regierung.

Narrativ Nummer zwei: Angesichts der befürchteten Widerstände des Auslandes wollen ÖVP und FPÖ vorerst einmal nur eines – möglichst glatt an die Macht kommen. Diesem Ziel wurde alles untergeordnet. Daher hat man auch die Wünsche des Bundespräsidenten erfüllt, obwohl man ihn ja in seiner Irrelevanz, so wie es Schwarz-Blau im Jahr 2000 getan haben, auch blamieren hätte können.

Denn die Macht des Bundespräsidenten steht nur auf dem Papier der Verfassung. Sie endet, sobald eine entschlossene Parlamentsmehrheit anders will als der Mann in der Hofburg. Alexander van der Bellen wäre sogar noch viel prädestinierter für die Rolle des Blamierten als damals Thomas Klestil. Hat er doch in seinem eigenen Wahlkampf einst den Mund sehr voll genommen, als er ausdrücklich gesagt hat, dass er eine Regierungsteilnahme der FPÖ überhaupt verhindern will.

So wie er mit dieser Ankündigung an der Entschlossenheit von Schwarz und Blau, künftig zu kooperieren, gescheitert ist, so hätten ihn die beiden Parteien leicht auch mit seinen sonstigen Wünschen scheitern lassen können. Aber Schwarz-Blau haben mit großer Gelassenheit Van der Bellen den Anschein ermöglicht, dass er zumindest bestimmte Details bei der Regierungsbildung verhindert hat. Dadurch ist er freilich jetzt gezwungen, die beiden Parteien nach außen voll zu unterstützen.

So hat Van der Bellen (in einem argen Fehler) vor ausländischen Botschaftern angekündigt, dass er zwei bestimmte FPÖ-Politiker nicht in die Regierung kommen lasse. Das war leicht erfüllbar: Denn die beiden waren dafür ohnedies gar nicht vorgesehen.

Der Präsident versucht auch den Eindruck zu erwecken, dass er den europapolitischen Kurs der Regierung gerade gerichtet hätte. Dabei entspricht der nun annoncierte EU-Kurs haargenau der Linie, die Sebastian Kurz schon seit längerem ganz ohne VdB eingeschlagen hat: Weniger EU, das dafür effizienter.

Auch H.C. Strache hat sich bei dieser Devise nicht verrenken müssen. Hat er doch schon im Zug seiner Bemühung, als gemäßigter Politiker respektiert zu werden, seit längerem in der FPÖ jedes Nachdenken über einen EU-Austritt strikt verboten. Es war daher purer Unsinn, dass der linke italienische Europa-Staatssekretär Gozi nach der Wiener Regierungsbildung nun allen Ernstes behauptet hat, die FPÖ hätte im Wahlkampf ein Referendum über den EU-Austritt versprochen. Aber wir lernen wieder: Wenn Politiker nicht wissen, warum man gegen etwas ist, oder die wahren Gründe dafür verheimlichen wollen (in Italien sind das für die Regierung eindeutig die zwei "populistischen" Parteien, die davor stehen, haushoch die Wahl gewinnen) erfindet man halt für Öffentlichkeit Gründe.

Das einzige, was an diesen Vorwürfen von Gozi&Genossen stimmt: Unter jenen Parteien, mit denen die FPÖ in einer EU-Fraktion sitzt, sind etliche, die zumindest zeitweise den Austritt ihres Landes aus der EU gefordert haben. Allerdings sind diese Rufe seit den Brexit-Problemen größtenteils sehr leise geworden. Und außerdem sitzen auch in anderen EU-Fraktionen Parteien zusammen, die in zentralen Fragen total unterschiedlich positioniert sind. Man denke etwa an die Europäische Volkspartei, in der sowohl Angela Merkel wie auch Viktor Orban beisammen sind. Die Gemeinsamkeiten halten sich in engen Grenzen.

Zurück zu Narrativ Nummer zwei, dass ÖVP und FPÖ deshalb so leise treten, weil sie um jeden Preis negative Reaktionen oder gar Sanktionen des Auslands vermeiden wollten. Solche Reaktionen haben freilich gar nicht gedroht. Ganz im Gegenteil.

Spätestens seit der geradezu euphorischen Reaktion des amerikanischen Außenministers auf Schwarz-Blau und etlichen positiven Reaktionen aus jüdischen Kreisen war klar: Der Faschismus-Schmäh zieht nicht mehr. Es sind nur noch einige wenige ganz unverdrossene Linksradikale und die – nicht ganz so wenigen – Linksmedien, die diesen Schmäh in ihrer Argumentationsnot immer wieder aus der Mottenkiste hervorzuholen versuchen.

Diese Sichtweise wird allerdings scheinbar dadurch bestätigt, dass die ÖVP (oder der Bundespräsident) aus lauter Angst vor negativen Auslandsreaktionen der von der FPÖ nominierten Außenministerin die EU-Agenden entzogen haben. Aus welchen Gründen immer das geschehen ist: Es war ein geradezu genialer Trick. Denn die EU-Agenden des Außenministeriums stehen seit Jahren nur noch auf dem Papier des Ministeriengesetzes.

Seit der letzten EU-Reform sind die Außenminister nämlich auf EU-Ebene weitestgehend entmachtet. Die oberste EU-Macht liegt jetzt beim Europäischen Rat, also dort, wo die Regierungschefs sitzen und die Außenminister gar nicht mehr dabeisein dürfen. Und ansonsten sind die Räte der einzelnen Fachminister die entscheidenden Organe. Sie sind zusammen mit Kommission und EU-Parlament damit auch die Schuldigen an den vielen überflüssigen Regulierungen und Richtlinien. Im Vergleich dazu sind die Treffen der Außenminister geradezu unbedeutend. Deren Ministerien sind heute weitgehend auf bloße administrative Briefträgerfunktionen reduziert.

Daher war es für Kurz und Strache völlig problemlos, diesen Transfer der "EU-"Kompetenzen" anzukündigen. Aus welchen Gründen immer sie das getan haben, um eventuell geäußerte Bedenken von Bundespräsident oder Ausland zu entkräften, oder um Kurz aufzuwerten.

Das einzige echte außenpolitische Problem der FPÖ ist ihre Nähe zur russischen Regierungspartei, mit der sie sogar ein Freundschaftsabkommen abgeschlossen hat. Diese Partei hat leider mit Demokratie und Rechtsstaat gar nichts am Hut. Interessanterweise ist aber ausgerechnet dieser Aspekt international – auch in den negativen Kommentaren – bisher kaum beachtet worden.

Dennoch sollte klar sein: Es wäre für die FPÖ wichtiger, wieder mehr Abstand zu Putins Machtpartei zu halten, die ihre Gegner einsperrt und andere Völker überfällt, als aus der EU-Fraktion auszutreten, wie manche jetzt von der FPÖ fordern. Denn jedenfalls sitzen in dieser Fraktion demokratische Parteien, an Moskaus Machthebeln nicht.

Der dritte Narrativ zur neuen Regierung lautet wiederum ganz anders: Blau und Schwarz seien ohnedies viel gestaltungs- und veränderungswilliger, als es auf Grund der großteils sehr vagen Formulierungen im Regierungsprogramm scheint. Wirklich effiziente politische Veränderungen kündigt man jedoch nicht langmächtig an, bevor man die entsprechenden Maßnahmen im Detail fixiert hat.

Die beiden Parteien wollen auch zweifellos vor vier wichtigen Landtagswahlen im Frühjahr nicht allzuviel Wirbel um noch gar nicht gelegte Eier aufkommen lassen. Daher hat man nur die Reformen im Bereich Asyl/Migration/Missbrauch des Sozialsystems sowie im Bildungsbereich detaillierter angekündigt, die jedenfalls mehrheitsfähig sind. Alles andere will man zügig beraten, fixieren und umsetzen – oder auch nicht, wenn man sich nicht einigen kann. Aber jedenfalls redet man vorerst noch nicht darüber.

Schließlich sind die Herren Kurz und Strache alles andere als Typen, die sich jetzt fünf Jahre mit diesem Programm begnügen wollen. Die so wie die Regierungen der letzten Jahre im Stillstand gleichsam ersticken wollen.

Zum vierten Narrativ: Die Gestaltungskraft der beiden Herren könnte mit diesem Regierungsprogramm auch schon erschöpft sein. Sie könnten nur die Reformen in den beiden Großbereichen Bildung und Migration vorhaben, sonst aber keine.

Dennoch – oder gerade deshalb – fürchten die beiden Parteien die (eindeutig viel größere) Gestaltungskraft der Bürger. Daher haben sie typischerweise sofort begonnen, die direkte Demokratie geringzuschätzen, seit sie selber an der Macht sind, obwohl sie davor, am Weg zur Macht, sich noch als deren Vorkämpfer erwiesen haben.

Tatsache ist, dass fast noch jeder Politiker anders zu denken begonnen hat, sobald er einmal wirklich im Amt war.

Der fünfte Narrativ: Die FPÖ wird bald eine tiefe innere Krise entwickeln, sobald die Landtagswahlen zeigen, dass die Partei wie auch 2002 von vielen Protestwählern verlassen worden ist. Das zumindest ist fast unvermeidlich. Möglicherweise unvermeidlich ist aber auch, dass es dann bald aus sein wird mit jeder reformfreudigen Politik, auch wenn das nicht unbedingt wie 2002 zu einer neuen Parteigründung führen muss.

Noch einmal zurück zum erstgenannten Narrativ: Kurz und Strache wollen erklärtermaßen lang regieren. Sie sehen ihr Projekt auf mindestens zwei Perioden angelegt. Daher lassen sie sich Zeit. Daher ist es ihnen jetzt einmal wichtig, alles zu forcieren, was dem Machterhalt dient (dramatische Einschnitte bei ORF, Wienerzeitung, Arbeiterkammer und überwiegend rot dominierten Gebietskrankrenkassen – die zwar kaum im Regierungsprogramm stehen, die aber durch dessen vage Andeutungen auch keineswegs ausgeschlossen werden).

Die großen Strukturreformen können dann erst später kommen, wie etwa direkte Demokratie oder Privatisierungen. Mit denen braucht man sich vorerst noch gar nicht zu beschäftigen.

Welcher der fünf Narrative ist nun der richtige? Welche Identität stimmt? Welche Frage aufs "Wozu" wird die Koalition geben? Das werden wir alles erst am Ende des kommenden Jahres wirklich wissen. Wahrscheinlich haben sich Sebastian Kurz und H.C. Strache auch selbst noch nicht eindeutige Antworten auf diese Frage gegeben. Wahrscheinlich muss eine komplett neue Regierung, wo einander  manche vorher noch nie gesehen haben, auch als Kollektiv ein Gefühl für die eigene Identität, für den eigenen Lebenszweck bekommen.

Zur Erinnerung:

  • Narrativ eins: ÖVP und FPÖ sind ambitioniert, werden diese Ambitionen aber bald vergessen.
  • Narrativ zwei: ÖVP und FPÖ wollen vor allem internationale Protestwellen vermeiden.
  • Narrativ drei: ÖVP und FPÖ sind ambitioniert und haben viele Pläne, wollen aber vorerst nicht viel darüber reden.
  • Narrativ vier: ÖVP und FPÖ haben außer den beiden Schwerpunktbereichen Migration und Bildung keine wirklichen Schwerpunkte.
  • Narrativ fünf: Die FPÖ wird es im Stress des Regierens bald zerreißen.

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