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Manche Ideen haben kurze Beine

Die Idee geistert seit ein paar Wochen durch den österreichischen Wahlkampf und durch den Kopf von Sebastian Kurz. Das ist die Idee einer Minderheitsregierung, die mit wechselnden Mehrheiten regiert. Eine Idee, die ganz auf der Linie von Kurz liegt: "Etwas Neues ausprobieren".

Der ÖVP-Chef wörtlich in einem Interview: "Die Frage ist, kann man eine breite Zusammenarbeit im Parlament suchen. Ich glaube: Ja. Und das würde ich auch versuchen." Und noch konkreter: "Sollte ich Erster werden, würde ich versuchen, möglichst viele Parteien zu finden, die bereit sind, mit uns Projekte umzusetzen. Ob das nun eine klassische Koalition ist oder etwas völlig Neues, müssen wir uns dann anschauen."

Nach den Erfahrungen der großen Koalition der letzten zehn Jahre, aber auch nachdem davor bei Schwarz-Blau die FPÖ trotz der großen Erfolge der ersten Jahre die Nerven weggeschmissen hat, ist es mehr als verständlich, dass Kurz von etwas Neuem träumt.

Das Modell wechselnder Mehrheiten klingt auch logisch: Zwischen ÖVP und FPÖ gibt es einen breiten Konsens in Sachen Migration, Bildung, Islamisierung und Sicherheit (auch wenn die FPÖ zuletzt rätselhafterweise Nein zu dem von der Polizei verlangten Sicherheitspaket gesagt hat). Zwischen ÖVP und Neos gibt es einen breiten Konsens in Sachen wirtschaftlicher und sozialer Reformen. Daher: einmal mit diesen und einmal mit jenen gehen und sinnvolle Beschlüsse fassen, sofern es das Wahlergebnis erlaubt.

Da wäre dann vieles möglich: eine echte Abschaffung der stillen Progression; Abschaffung oder Milderung des teuren Kammerzwanges für Arbeitnehmer; Abschaffung der Fernsehpflichtgebühren; wirksame Migrationsbremsen; Reduktion des Wohlfahrtsstaates; usw.

Wenn man es geschickt darzustellen vermag, hätte ein solches System wechselnder Mehrheiten in der Bevölkerung große Sympathien. Dort herrscht ja derzeit die Stimmung vor: "Alles besser, als so weiter wie bisher." Deswegen hat auch keine andere Partei vorerst ob des Kurz-Vorschlages wild aufgeheult.

Es gibt auch einige (wenige) internationale Beispiele, wo das funktioniert. Etwa in Norwegen – wo gerade gewählt wird – gab es zuletzt ein Kabinett aus Konservativen und Fortschrittspartei (eine Partei, die in vielerlei Hinsicht mit der FPÖ verwandt ist), obwohl es keine Mehrheit im Parlament hatte. Aber es konnte dort in der Regel auf Christdemokraten und Liberale zählen, sodass die Sache ganz gut funktioniert hat. Wobei freilich hinzuzufügen ist: In Norwegen ist ob des Ölreichtums recht leicht zu regieren. In Norwegen haben solche Modelle auch Tradition.

Noch etwas scheint für das Modell Minderheitsregierung zu sprechen: Die Rolle der Nummer Zwei in der Regierung ist extrem schädlich für eine Partei. Man schaue nur die Nachkriegsgeschichte an. Die SPÖ hat in den großen Koalitionen unter ÖVP-Führung nie den Durchbruch an die Spitze zur Nummer Eins geschafft, sondern beide Male erst aus der Oppositionsrolle heraus. Umgekehrt ist auch der ÖVP bei keiner Wahl als Vizekanzlerpartei der Vorstoß von Platz Zwei auf Platz Eins gelungen. Zumindest nicht bis zum Amtsantritt von Sebastian Kurz. Und auch die FPÖ hat in ihren Koalitionsjahren sowohl mit Rot wie mit Schwarz verloren.

Es ist fast ein Naturgesetz: Die Nummer Zwei wird für alles, was schlecht läuft, was Wähler frustriert, was an Konsens in der Regierung fehlt, mitverantwortlich gemacht. Kanzlerbonus, Dank für das, was gut läuft, gibt’s hingegen immer nur  für die Nummer Eins. Und wenn es schlecht läuft, wenn eine Regierung unbeliebt ist, wechseln die Wähler lieber zu einer Oppositionspartei. Das hat seit 30 Jahren immer der FPÖ genutzt, wenn sie in Opposition war; und meist auch den Grünen, den Liberalen und der Stronach-Partei.

Erst Kurz scheint es durch die Neupositionierung seiner "Bewegung" gelungen zu sein, diese Gesetzmäßigkeiten zu brechen. Das ist aber hier nicht das Thema. Die Frage ist vielmehr: Wird eine, werden mehrere andere Parteien bereit sein, ein neues Regierungs-Spiel gemäß den Vorstellungen von Kurz mitzuspielen?

Zwar sprechen die angeführten Gründe dafür, dass mehrere Parteien darauf einsteigen. Dennoch sollte man lebhaft daran zweifeln. Denn auch wenn die Rolle einer Nummer Zwei in der Regierung offensichtlich fast stets die Rolle eines Verlierers ist, so ist dennoch für österreichische Parteien die Funktion eines bloßen parlamentarischen Mehrheitsbringers ohne Ministerposten noch viel unattraktiver als die eines Juniorpartners in einer Koalition. Aus mehreren Gründen:

  1. Jenseits der Gesetzgebungsebene hat ein Minister autonom viel Gestaltungsmöglichkeit: durch Verordnungen, durch Weisungen an seinen ganzen Ministerialapparat, durch Ernennungen, durch unglaublich viele Personalbesetzungen auch außerhalb seines Ressorts.
  2. Jeder einzelne Minister kann in der Regierung, wo ja nur mit Einstimmigkeit etwas beschlossen werden kann, mit einem Veto viele Maßnahmen anderer Ressorts blockieren. Selbst der Verkehrsminister kann die Ernennung eines neuen Botschafters etwa für Mexiko verhindern.
  3. Minister in Österreich genießen im Gegensatz zum nüchternen Norwegen in der Öffentlichkeit eine fast feudale Ehrerbietung. Davon möchten fast alle Politiker hierzulande gerne mit profitieren, auch wenn es keiner jemals öffentlich zugeben würde.
  4. Minister in Österreich haben auch viel mehr internationale Macht als etwa ein norwegischer Minister. So sitzen sie in diversen EU-Räten als europaweiter Mit-Gesetzgeber, wo in den letzten 20 Jahren vor allem linke Minister viel mehr Wünsche durchgebracht haben als daheim. Norwegen als Nichtmitglied kann da hingegen nicht mitstimmen, sondern muss de facto stets nachvollziehen, was die EU beschließt.
  5. Österreichische Minister haben auch viel mehr Möglichkeiten, am Parlament vorbei Gelder zu verschieben. Man denke etwa an den ganzen Subventionsbereich, dessen Umfang in Österreich Weltspitze ausmacht (wobei allerdings die Bundesländer noch viel ärgere Sünder sind als Ministerien). Man denke insbesondere an den gewaltigen Umfang der alljährlich ohne Ausschreibung, ohne Rechnungshofkontrolle vergebenen Bestechungsinserate. Jeder, der derzeit Zeitungen durchblättert, merkt, wie sehr deren Umfang jetzt in Vorwahlzeiten sogar massiv angewachsen ist. Wobei in letzter Zeit keineswegs mehr nur die SPÖ der einzige Übeltäter ist, auch wenn es die Gemeinde Wien weitaus am schlimmsten treibt.
  6. Noch gravierender aber ist folgender Grund: Warum soll eine Partei, die nicht mit in der Regierung sitzen darf, unpopuläre Gesetze mitverantworten? Es gibt zwar viele Gesetze, wo man problemlos zustimmen kann. Aber Regieren ist völlig unmöglich, wenn man nicht bisweilen auch für solche Maßnahmen eine Mehrheit findet, die wenig Beifall einbringen. Etwa für eine Reform des angesichts der steigenden Lebenserwartung, des medizinischen Fortschritts und der immer längeren Ausbildungszeiten vom Kollaps bedrohten Pensions-, Gesundheits- und Pflegesystems. Warum soll da eine Partei mitgehen, wenn sie keine substanziellen Gegenleistungen bekommt?

Die Formel Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten wird aus all diesen Gründen in Österreich wohl nicht funktionieren.

Viel eher könnte etwas anderes "Neues" gelingen, das Kurz früher selbst immer wieder angeregt hat, das insbesondere die Freiheitlichen und Grünen immer wieder gefordert haben: Das wäre ein Umbau Richtung Direkte Demokratie, Richtung Schweizer Modell. Die Schweiz funktioniert, österreichische Koalitionen haben hingegen meist nicht funktioniert. In der direkten Demokratie ist es fast Nebensache, wer Ministerposten besetzt. Daher könnten dann genauso Allparteien- wie Minderheitsregierungen denkbar werden.

Das einzige, was gegen die direkte Demokratie spricht: Im Gegensatz zum Kurz-Modell eines Regierens mit wechselnden Mehrheiten bräuchte es dafür eine großangelegte Verfassungsänderung und die Mehrheiten dafür. Zwar ist es durchaus möglich, dass die SPÖ, die keinerlei Sympathien für die direkte Demokratie zeigt, eine Zweidrittelmehrheit verhindern kann. Aber dennoch bräuchte dieser Schritt so viele Energien, so viele Detail-Überlegungen, so viele Vorbereitungen, bräuchte die Überwindung von so viel Widerstand der Machtträger – pardon: "Experten" in Justiz und Verwaltung, dass es mehr als zweifelhaft ist, dass da wirklich etwas zustande kommt.

Außerdem scheint Kurz leider nicht mehr sehr an dem Gedanken der direkten Demokratie zu hängen. Er erwähnt ihn jedenfalls kaum mehr. Außerdem sehe ich auch bei Blau und Grün keine tiefergehenden Überlegungen in diese Richtung, sondern bloße Schlagworte. Außerdem fehlt in der Bevölkerung trotz verbreiteter Missstimmung vorerst noch die notwendige Unterstützung für einen so tiefgehenden Systemwechsel.

Wir werden also nicht wirklich "Neues", keinen echten Systenwechsel bekommen, sondern beim Alten bleiben müssen.

Das heißt halt: Wir werden wohl wieder eine Koalition bekommen, die mit viel Elan beginnen wird, wo sich dann bald beide Seiten gegenseitig blockieren, und die mit noch mehr Frust enden wird.

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