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Europa muss sich wieder den großen internationalen strategischen Fragen stellen, ob es will oder nicht. Die Zeiten, da Streitigkeiten um EU-Budgets, Glühbirnen, Agrarförderung, Pensionsansprüche, Auslandstudenten oder Atomkraftwerke die wichtigsten Themen auf der EU-Agenda waren, sind vorbei. Europa muss sich heute in einem schwierigen Kräftespiel zwischen den USA, Russland, der Türkei, China und vielen kleineren Akteuren in der Welt positionieren. Es müsste das zumindest, wenn es nicht endgültig trotz seiner theoretischen Größe marginalisiert werden will.
Es müsste wieder imstande werden, eigene – und gemeinsame! – Interessen zu definieren. Es müsste lernen, Prioritäten zu setzen. Am Anfang waren ja die wichtigsten Notwendigkeiten eindeutig klar:
Diese beiden Aufgaben wurden brillant gemeistert. Danach aber hat Europa offensichtlich an das Ende der Geopolitik geglaubt. Es hat verlernt, in großen Zusammenhängen zu denken. Es gibt aber heute viele neue geopolitische Herausforderungen, die in sehr komplizierten Zusammenhängen vernetzt sind. Und die eindeutig die politischen und intellektuellen Fähigkeiten der heute dominierenden Akteure übersteigen. Europa hat aber keinen Adenauer mehr, keinen Kohl, Schmidt, De Gaulle, Mitterrand, Hallstein, Delors, Churchill und keine Thatcher. Sie waren wahrscheinlich auch deswegen so herausragende Staatsmänner, weil sie alle noch persönlich durch die schwärzesten Zeiten der europäischen Geschichte geprägt worden waren.
Heute aber sind ihre schwächlichen Erben mit der nüchternen wie schmerzhaften Tatsache konfrontiert: Man kann nicht auf alle Länder gleichzeitig böse sein, sich alle wichtigen Akteure zum Feind machen, sich als Lehrmeister der ganzen Welt geben. Das kann man vor allem dann nicht, wenn man so sehr in einer multiplen Krise steckt wie die EU. Wenn man militärisch so schwach geworden ist, wie es die EU-Länder heute sind, wenn man sowohl beim Wirtschaftswachstum wie der Währungspolitik schlicht und einfach versagt hat, wenn man absurde Details überreguliert hat, statt sich auf Prioritäten zu konzentrieren.
Dann kann man nicht gleichzeitig:
Gewiss, eigentlich sollte man vieles davon gleichzeitig tun (außer die fünf erstgenannten Punkte, die mehr dümmlich als klug sind). Natürlich hätte man gerne, dass jedes einzelne europäische Land offen und mutig gegen alles Unrecht und Böse in der Welt vorgeht oder zumindest klar Stellung nimmt.
Nur: Das geht leider nicht. Damit macht man sich angesichts der heutigen Schwäche Europas nur noch lächerlich.
Selbst die viel stärkeren Vereinigten Staaten haben sich lange an eine eiserne, wenn auch eigenwillige Regel gehalten: Es gibt jeweils nur einen Hauptfeind – auch wenn dieser wechseln kann. Alle anderen Kräfte sind Verbündete gegen diesen Hauptfeind, bei denen man daher auch über kleinere oder größere Defizite hinwegsieht. So haben die USA einst keine Sekunde lang Kritik an Diktaturen geübt, wenn diese ihre Verbündeten in der großen Ost-West-Auseinandersetzung waren. Henry Kissinger hat dieses Denken dann ziemlich brillant zu globalen Gleichgewichts-Konstruktionen weiterentwickelt.
In den letzten 25 Jahren sind sie allerdings in das andere Extrem verfallen, in das Nation building, also in den Versuch, von außen fremde Länder zu demokratisieren. Erst in allerjüngster Zeit versuchen sie davon wieder wegzukommen. Und die Trump-Kampagne ist eine massive Absage an das Nation building.
Noch deutlicher ist der Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg: Weil Hitler und der deutsche Nationalsozialismus damals die größte Bedrohung für die ganze freie Welt waren, hat man im Krieg mit der anderen großen Bedrohung kooperiert, mit Stalins Kommunismus. Obwohl Stalin 1939 mit Hitler ein verbrecherisches Abkommen zur Aufteilung Osteuropas geschlossen hatte. Obwohl bei den Pariser Friedensverträgen nach dem ersten Weltkrieg noch von allen Westmächten einhellig der Bolschewismus als die alles überragende Gefahr der Zukunft angesehen worden war (nur Frankreich fürchtete damals Deutschland mehr).
Aber die Kooperation mit Stalin ist im Krieg notwendig geworden, um Hitler zu besiegen. Was sich gut begründen lässt: Der Kommunismus war zwar genauso totalitär, mörderisch und menschenvernichtend wie der Nationalsozialismus, aber er hat damals nicht so wie Hitler andere Länder offensiv militärisch überfallen (sondern – erfolglos – nur auf die Revolution des „Proletariats“ in anderen Ländern gesetzt). Unbestreitbar ist jedoch ebenso, dass der Kommunismus in späteren Jahren dann sehr wohl mit militärischer Brutalität andere Länder erobert hat, etwa Südvietnam, Laos, Kambodscha und Afghanistan. Unbestreitbar ist auch, dass die Amerikaner zu und nach Kriegsende völlig unnötigerweise den Sowjets große Teile Europas ausgeliefert haben.
Aber zurück zum heutigen Dilemma der EU: Sie sollte sich angesichts ihrer eigenen Schwäche dringend entscheiden, welche der Bedrohungen und Rechtsverletzungen am schlimmsten sind, und mit welchen man sich notgedrungen arrangieren muss. Was zwar nicht heißt, dass man nur eine einzige Herausforderung annehmen und bekämpfen darf, aber eben ganz sicher, dass man nicht allen gleichzeitig entgegentreten kann.
Jedoch: Es gibt in diesem Europa weit und breit keinen Konsens zu diesen Fragen, zu den notwendigen Prioritäten. Jedes Land hat da eine andere Meinung (oder wie viele Mitgliedsstaaten gar keine, weil man genug landeseigene Probleme hat wie etwa Spanien und Italien; weil man einfach zu klein ist, um genügend intellektuelle Kapazität für geopolitische Analysen zu haben wie etwa Österreich).
Damit droht die allerschlimmste Variante zur wahrscheinlichsten zu werden: Europa schafft überhaupt keine gemeinsame Strategie, keine Rückkehr zur Geopolitik.
Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.