Was Juristen so schwer verstehen: Bricht einem Staat, einer Rechtsordnung die grundsätzliche Legitimität und Akzeptanz durch die Mehrheit der Bürger weg, dann helfen auch noch so viele ausgeklügelte Paragraphen und Verfassungsartikel nichts mehr. Politiker und mit ihnen viele sogenannte Intellektuelle verstehen das erst recht nicht. Sie glauben sich durch den von ihnen selbst geschaffenen Paragraphenwall gesichert. Sie halten den westlich-demokratischen Rechtsstaat für einen irreversiblen Fortschritt der Geschichte.
Doch selbst, wenn man ihn – wie ich – als Fortschritt einstuft: Irreversibel ist gar nichts. Die Geschichte und die Konjunkturen der Systeme in ihr ähneln oft mehr einem Kreislauf als einer himmelstürmenden Geraden.
Auch Monarchien, Diktaturen, Theokratien und Oligarchien haben sich oft durchaus ebenso wie Demokratien der Akzeptanz der Bürger erfreuen können. Und alle Systeme können diese verlieren, wie die Geschichte zeigt, wenn sie über eine längere Phase von den Menschen als grob ungerecht, bürgerfeindlich oder unfähig empfunden werden. Dabei sind immer die ökonomische Lage der Menschen, Law und Order im Inneren sowie die Sicherheit nach außen die entscheidenden Beurteilungskriterien.
Es ist auch keine Frage, dass die Menschen im Lauf der Zeit kritischer geworden sind. Je besser die Bildung, umso kritischer ist der Blick auf die Machtstrukturen, auf die Eliten in der Politik und in ihren Vorfeldern, wie etwa in Medien, Justiz oder Interessenvertretungen. Analphabeten lassen sich mehr gefallen als Gesellschaften, in denen die Mehrheit akademisch studiert.
Die große Frage ist heute: Stehen wir wieder einmal vor einem solchen – möglicherweise revolutionären – Umbruch? Sind die westlichen Demokratien ein Auslaufmodell? Haben sie endgültig das Vertrauen der Menschen verloren? Sind Putin oder Erdogan oder (Ägyptens) Sisi die Modelle der Zukunft?
Ich hoffe mit aller Inbrunst nicht. Ich kann das aber bei weitem nicht mehr mit der gleichen Sicherheit ausschließen wie noch vor wenigen Jahren. Die rechtsstaatlichen Demokratien, ihre Politiker, Medien und Justiz haben sich allzu viele Fehler erlaubt, sie werden immer mehr als korrupt und vermorscht empfunden. Der vor einem Vierteljahrhundert auch von mir bejubelte große und fast globale Triumph der Demokratie ist heute mit vielen Fragezeichen zu versehen. Die Menschen sehen hinter diesen vielen Fehlern immer weniger den Nutzen der rechtsstaatlichen Demokratie oder den von freien Medien.
Beispiele für diese Entwicklung, für den Verlust des Vertrauens gibt es zahlreiche. Einige bunt zusammengestellte Beweisbeispiele dafür, die in den letzten Tagen auf meinem Tisch gelandet sind, große und kleine:
- Umfragen in Österreich zeigen, dass nur noch 20 bis 30 Prozent Vertrauen in die Politik haben. Unglaubliche Werte.
- Besonders oft blamieren sich die europäischen Staaten – die ja für sich ein Gewaltmonopol beanspruchen – im Bereich Asyl und Migration. Alle Fernseher haben etwa die peinlichen Szenen gesehen, wie eine Schar illegaler Migranten an der österreichischen Südgrenze die Polizisten, die sie dort aufhalten und kontrollieren wollten, einfach zur Seite geschoben haben.
- Alle Bürger Deutschlands und Österreichs haben in der Folge erschrocken zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich in diesen beiden Ländern in den letzten zwölf Monaten Hunderttausende Menschen aufgehalten haben, von denen man weder Zahl noch Namen noch Verbleib kennt. Und niemand weiß, wie viele es heute noch immer sind.
- Ebenso als lächerliche Versager vorgeführt werden gerade diese beiden Staaten bei den Versuchen, nach langwierigen Verfahren schließlich wenigstens ein paar der illegalen Migranten abzuschieben. Jedoch: Deren Heimatländer nehmen diese im letzten Moment unter fadenscheinigen Vorwänden nicht auf (etwa weil die Abschiebung nicht in einer Linienmaschine erfolgt ist!); oder man kann das Heimatland eines Migranten gar nicht eindeutig identifizieren (die Regierungen tolerieren es ja, dass die Asylwerber ihre Pässe wegwerfen!); oder die Migranten haben ein in ihrer Heimat mit Todesstrafe verfolgtes Verbrechen begangen; oder sie sind homosexuell; oder die Piloten weigern sich, widerwillige Menschen mitzutransportieren; oder die Abzuschiebenden sind im letzten Moment plötzlich unauffindbar.
- Aber auch im innerstaatlichen Bereich von Justiz und Polizei geht es so schlimm zu, dass jegliches Vertrauen zu diesen Institutionen und damit zum Staat zertrümmert wird (auch wenn die Polizei selbst noch halbwegs gute Umfragewerte hat). Vor zwei Jahren sind beispielsweise bei der letztlich nur durch 1500 Polizisten möglich gewordenen Beendigung einer Hausbesetzung in der Wiener Leopoldstadt zahlreiche Gewalttaten begangen worden. 19 Hausbesetzer konnten festgenommen werden. Die Staatsanwaltschaft hat sie aber alle nach einer Nacht gehen lassen. Jetzt sollte wenigstens gegen einen ein Prozess beginnen (mit den restlichen – nur – als „Zeugen“). Ergebnis: Kein einziger der 19 ist mehr greifbar. Wie immer sieht der Justizminister keinen Grund, dieses peinliche Versagen seiner Staatsanwaltschaft auch nur zu thematisieren.
- Ende Juli zeigte ich in einem Schreiben beim Journaldienst des Bundeskriminalamts Wien eine Straftat an, nämlich die Anstiftung zum Organhandel (das durch ein Posting auf diesem Tagebuch erfolgt ist). Die freche und wohl rechtswidrige Antwort des Bundeskriminalamtes lautet: „Wenn Sie den Verdacht auf eine Straftat haben, begeben Sie sich bitte in eine Polizeiinspektion und erstatten dort eine entsprechende Anzeige.“ Im Gesetz steht freilich: „Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft sind im Rahmen ihrer Aufgaben verpflichtet, jeden ihnen zur Kenntnis gelangten Anfangsverdacht einer Straftat … in einem Ermittlungsverfahren von Amts wegen aufzuklären.“ Aber was kümmert die Polizei noch das Gesetz…
- Gewiss, die Polizei hat in diesem Fall wenigstens geantwortet. Die Staatsanwaltschaft hingegen hat nicht einmal reagiert, als ihr ein Fall eines Konto-Betrugs schriftlich angezeigt worden ist. Der Bürger lernt: Es hat eh keinen Zweck mehr, auf Polizei oder Justiz zu vertrauen. Sie ignorieren die Bürger einfach.
- Eine linke Demonstrantin gegen einen Grazer FPÖ-Ball wird dabei wegen einer Verwaltungsübertretung festgenommen. Sie will sich auch danach nicht einmal identifizieren. Dennoch werden am nächsten Tag all ihre erkennungsdienstlich aufgenommenen Daten wieder gelöscht. Datenschutz und so. Gegen einen so lächerlich agierenden „Rechtsstaat“ waren sogar die Schildbürger zielorientiert und rational agierend.
- Ein anderes Beispiel, das zeigt, wie weit Österreich schon hinter dem Balkan liegt: Ein österreichischer Polizist will von einem Autofahrer – einem persönlichen Freund von mir – wegen Schnellfahrens ein Strafmandat von 70 Euro kassieren. Der weigert sich und verlangt eine Anzeige. Worauf der Polizist sagt: „Wieviel wollen Sie denn zahlen?“ und sich schließlich mit 30 Euro zufrieden gibt.
- Ein besonderes Gustostückerl ist die Causa „Top Team“, in dem ein tapferer Staatsanwalt den Kärntner Landeshauptmann Kaiser wegen dubioser Scheinrechnungen anklagen wollte. Das Justizministerium plädiert jedoch auf Einstellung! Wir lernen: Machthaber unter sich tun einander doch nicht weh. Der daraufhin befasste „Weisenrat“ hat nun eine typisch österreichische Lösung empfohlen: Weder Anklage noch Einstellung, sondern weitere Ermittlungen. Damit ist die Causa wohl auf weitere Jahre verräumt. Oder gar endgültig, nur ein bisschen eleganter, als es das Ministerium vorhatte.
- Extrem erstaunlich ist auch die Praxis des Versammlungsrechts. Bei diesem Punkt sind der Verfassungsgerichtshof und die Wiener Polizei hauptschuldig. In Wien werden nämlich auch rechtswidrige und unangemeldete Demonstrationen nicht aufgelöst. Eine solche – anderswo durchaus übliche – Auflösung würde angeblich der Versammlungsfreiheit widersprechen. Das hat prompt zu schweren Gewalttaten geführt.
- Auch die Fülle von staatsanwaltschaftlichen Vorverfahren von sieben oder zehn Jahren zeigt: Der Staat funktioniert nicht mehr.
Das ist eine ganz zufällige Sammlung von kleinen und großen Begebenheiten, die aber alle am Ende die gleiche Wirkung haben: Europas Bürger müssen einfach jeden Respekt, jedes Vertrauen in ihre – sind es noch „ihre“? – Regierungen, in Polizei und Justiz verlieren. Dazu kommt die gleichzeitige, in diesem Text aber ausgeklammerte schwere Krise der EU.
Dieser Vertrauensverlust auf fast allen Ebenen führt nicht nur zum kometenartigen Aufsteigen neuer Parteien (und oft auch zu deren baldigem Wiederabsturz), die von den alten Parteien als links- oder rechtspopulistisch beschimpft werden, obwohl sie selber meist genauso populistisch sind. Das führt nicht nur zur Atomisierung einst staatstragender Parteien (man denke etwa an den Untergang der italienischen und spanischen Christdemokraten oder an den steilen Abstieg fast aller klassischen Sozialdemokraten).
Dieser Vertrauensverlust äußert sich in der Folge auch bei fast sämtlichen Volksbefragungen. Um nur die aktuellsten drei hier zu erwähnen:
- So haben die Niederländer das EU-Abkommen mit der Ukraine abgelehnt. Obwohl wohl kaum ein Niederländer an sich etwas gegen die Ukraine hat.
- So haben die Briten mehrheitlich für den EU-Austritt gestimmt. Obwohl den Bürgern das ökonomisch unbestreitbar schaden muss.
- So droht dem italienischen Premier Renzi im Herbst eine bittere Niederlage beim Referendum über die Verfassungsänderung, das Zentralstück seiner oft versprochenen Reformen. Obwohl alle Experten einig sind, dass nur mit dieser Reform die totale Immobilität und Erneuerungsunfähigkeit der italienischen Strukturen möglich wäre.
Und ganz ähnlich fürchten Österreichs und Deutschlands Regierungen, dass sie ein Referendum über die Freihandelsabkommen Ceta und TTIP verlieren würden, obwohl diese für die Wirtschaft enorm wichtig wären und obwohl die anderen Völker Europas inständig auf deren Inkrafttreten hoffen.
Nichts geht mehr. Es gibt Null Vertrauen zu den Regierungen. Das ist durch zahllose Beispiele wie die hier aufgezählten ausgelöst worden, ebenso wie das Mehrfach-Versagen der Politik angesichts von Völkerwanderung, Euro- und Schuldenkrise, angesichts maßloser Überproduktion von Normen, die dann aber vom System selbst nicht ernst genommen oder nur noch gegen politische Gegner exekutiert werden.
Mit diesem Multiorganversagen der repräsentativen Demokratie rückt unweigerlich immer mehr die Systemfrage ins Zentrum. Das führt zu höchstwahrscheinlich traurigen Konsequenzen – es sei denn, die Antwort auf diese Krise wäre weder anomischer Zerfall noch irgendwelche starken Männer, sondern ein volle direkte Demokratie.
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