Wenn einem das Wasser nicht mehr nur bis zum Hals, sondern schon bis zu den Nasenlöchern steht, scheinen manche vernünftiger zu werden. Etwa jetzt ÖVP-Chef Mitterlehner. Plötzlich sagt er Dinge, die zumindest einige der Zentralprobleme Österreichs ansprechen. Die freilich schon seit Jahr und Tag bekannt sind. Daher ist es keine große Erkenntnis, sondern nur Grund, „Na endlich“ zu sagen, wenn auch Mitterlehner jetzt einige der Probleme anspricht. Aber es ist dennoch überraschend, weil der jetzige ÖVP-Chef ja bisher in vorderster Front mitverantwortlich war für das, was er jetzt geißelt.
Wider alle Vernunft bleibt uns ohnedies nichts anderes über, als zu hoffen, dass das, was Mitterlehner jetzt in einem „Kurier“-Interview gesagt hat, auch irgendetwas mit der Realität zu tun haben wird. Der Vizekanzler wünscht sich darin von den Sozialpartnern eine „Umorientierung“. Sie müssten sich „komplett“ ändern. „Ich empfehle ihnen einen Umorientierung auf das, was Österreich braucht, und nicht, was die jeweilige Gruppe gerade braucht.“ Die Sozialpartner müssten „die Interessen des Standortes und die internationale Ebene in den Fokus rücken, nicht nur das, was sie der eigenen Klientel gerade günstig verkaufen können“.
Derzeit würden die Sozialpartner nur fordern, so Mitterlehner weiter. „Die Arbeitnehmer-Vertreter fordern ständig Ausweitungen sozialer Rechte und Schutzbestimmungen. Die Arbeitgeber fordern ein Riesen-Paket an Maßnahmen und Steuererleichterungen, ohne die Gegenfinanzierung darzustellen.“
Aber sobald er auf konkrete Notwendigkeiten, etwa bei den Arbeitszeiten oder der Gewerbeordnung angesprochen wird, treffen wir in diesem Interview schon wieder auf den alten Nur-nicht-konkret-werden-Mitterlehner. Er wolle nicht ins Detail gehen, „denn das würde der neuen Partnerschaft widersprechen“. Logisch sei aber, „dass wir in den Bereich der Tabus hineingehen müssen“.
Er sagt nur nicht, welche Tabus. Und niemand kann sich erinnern, dass er in der alten Partnerschaft, also mit Faymann, jemals konkret geworden wäre.
Man ist aber bescheiden geworden: Man freut sich schon über ein paar vernünftige Aussagen, auch wenn diese noch viele Meilen von der Realisierung entfernt sind. Aber auch diese kleine Freude verfliegt, je mehr man nachdenkt. Denn:
- Bei Mitterlehner besteht – so haben wir in den letzten zwei Jahren gelernt – immer die Gefahr, dass auf eine einzige starke Ansage wieder viele Wochen voller Rückzieher und Koalitionskuschelei kommen.
- Eigentlich regieren laut Verfassung in Österreich Regierung und Parlament, nicht die Sozialpartner. Also hätte die (noch) regierende Koalition durchaus nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar das exklusive Recht, selbst Arbeitszeiten und Gewerbeordnung zu ändern (Bei den Arbeitszeiten würde völlig ein Gesamtjahres-Stundenkonto genügen, innerhalb dessen je nach Auftragslage die Arbeitszeit verteilt wird. Und bei der Gewerbeordnung bräuchte es nur deren Abschaffung – oder maximal einen Befähigungsnachweis bei wirklich gefährlichen Berufen.)
- Mitterlehner war viele Jahre in der Wirtschaftskammer, wo man mit jeder Faser seit Jahrzehnten das Sozialpartner-Denken realisiert. Wo man einst aus Rücksicht auf den Sozialpartner sogar verhindert hat, dass Schwarz-Blau die Zwangsbeiträge zur Arbeiterkammer ähnlich der Reduktion der Wirtschaftskammer-Beiträge kürzt. Und auch seit Eintritt in die Regierung war er immer ein Sozialpartner-Ideologe geblieben. Dass er die Sozialpartner ganz offensichtlich auch weiterhin als Überregierung sieht, verrät schon seine Wortwahl: Er „empfiehlt“ den Sozialpartnern etwas, was er mit seinem Koalitionspartner ganz alleine ohne diese Sozialpartner verwirklichen könnte.
- Mitterlehner fürchtet sich (so wie die SPÖ) primär vor der Gewerkschaft. Das ist der WKO tief in die Gene übergegangen: Kaum brummt ein Gewerkschaftsboß von möglichen Kampfmaßnahmen, gibt die WKO immer sofort nach.
- Die Gewerkschaft ist in Wahrheit zwar längst ein Papiertiger mit ständig schrumpfenden Mitgliederzahlen; sie ist nur noch im öffentlichen Bereich kampffähig. Sie muss sich daher aber stark und unnachgiebig geben, damit man eben nicht erkennt, wie schwach sie ist.
- Mitterlehner war auf ÖVP-Seite der Hauptschuldige an dem vor einem Jahr dekretierten Steuer-Schlamassel, das bezeichnenderweise einzig auf Druck der Gewerkschaft beschlossen worden ist.
- Er hat auch sonst immer gemeinsam mit der SPÖ viele heikle Fragen - etwa die Mieten- und Wohnbauproblematik - gern den Sozialpartnern zugeschoben (und nicht begriffen, dass diese schon lange nichts Sinnvolles mehr zusammengebracht haben).
- Wenn aber Mitterlehner ernstlich glaubt, dass sein neuer Koalitionspartner Kern zu einem Anti-Sozialpartner-Kurs bereit wäre, dann übersieht er, dass Christian Kern bei einer Konfrontation mit den Gewerkschaften unweigerlich sofort große innerparteiliche Turbulenzen hätte. Haben doch sämtliche sozialdemokratische Regierungsparteien Europas scharfe Konfrontationen mit den Gewerkschaften bekommen, sobald sie ernsthaft Reformen versucht haben (was bis hin zu einer Abspaltung der „Linken“ von der SPD gegangen ist).
- Es gibt kein einziges Indiz, dass Kern dazu bereit wäre. War er doch auch in seinem letzten Job der einzige ÖBB-Chef, an den ich mich erinnern kann, der kein einziges Mal einen Konflikt mit der übermächtigen Bahngewerkschaft gewagt hat.
- Und zu schlechter Letzt ein bezeichnendes Detail aus dem Wiener Rathaus, der Hochburg der österreichischen Sozialdemokratie. Dieses ist ja finanziell ein besonders dringender Sanierungsfall geworden. Daher muss man jetzt dringend gewaltige zehn Prozent vom Budget einsparen. Dabei, so liest man in der „Presse“, versuchen die roten Machthaber nun, die Zustimmung der Gewerkschaft einzuholen. Und zwar dazu, dass man ein paar Beamte, die in Pension gehen, nicht nachbesetzt. Das zeigt: Diese Partei wagt nicht einmal einen so läppischen (wie notwendigen) Schritt, der keinem einzigen Beamten wehtut, ohne Zustimmung der Gewerkschaft.
Und von so einer Gewerkschaft, so einer Partei erwartet sich Mitterlehner jetzt eine Umorientierung. Süß.
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