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Schlusspunkt unter Europa

„Lange wird es die EU nicht mehr geben, ist meine Meinung.“ Ziemlich schockierend, wie trocken und schnörkellos das da auf meinem Bildschirm zu lesen ist. Noch gravierender ist, dass es in einem Mail eines österreichischen Beamten steht, der es mir – natürlich unter vollem Quellenschutz – zugeschickt hat. Und besonders dramatisch: Der Mann (die Frau) arbeitet seit mehreren Jahren als einer der offiziellen Vertreter Österreichs bei der EU in Brüssel, kann sicher nicht als ein stadtbekannter Querulant abgetan werden.

Das Mail bestätigt meine Befürchtungen: In dieser Union sind Desintegrations-Prozesse mit großer Dynamik in Gang, die noch vor kurzem absolut niemand für möglich gehalten hat. Auch ich nicht, obwohl ich schon vor elf Jahren in einem längeren Essay angesichts etlicher Fehlkonstruktionen erstmals dringend geraten habe: „Europa neu gründen“. Europa wurde natürlich nicht neu gegründet. Vielmehr hat die EU seither noch viel mehr und schlimmere Fehlentwicklungen durchgemacht, insbesondere in der Euro-Krise, aber auch durch absurde Überregulierungen und die Leichtfertigkeit bei der Aufnahme korrupter Staaten.

Am verheerendsten aber für Europa wirkt nun der Flüchtlingsansturm, wie die  seit einem Jahr in Gang befindliche Völkerwanderung euphemistisch von manchen gerne genannt wird. Dabei wurde ein besonders katastrophaler Fehler schlagend: Die EU hat zwar in den letzten Jahrzehnten die Binnengrenzen im sogenannten Schengenraum zertrümmert, was vielfach als großer Erfolg bejubelt worden ist, sie ist aber außerstande gewesen, gleichzeitig effektive Außengrenzen zu errichten. Was aber die absolut zwingende Folge einer Aufhebung der inneren Grenzen sein hätte müssen.

Die EU-Politiker haben sich lieber Phrasen, Wunschträumen und der Sucht nach billigen Tages-Schlagzeilen hingegeben. Die harten Notwendigkeiten eines Außengrenzschutzes vor allem in sensiblen Zonen wurden jedoch ignoriert. Die europäischen Politiker begreifen mit wenigen Ausnahmen wie Viktor Orban und David Cameron (sowie den Regierungen der Visegrad- und der baltischen Staaten) nicht mehr den allerwichtigsten Zweck, weshalb es in der Menschheitsgeschichte überhaupt zur Gründung von staatsartigen Gebilden gekommen ist: Das war eindeutig der Schutz einer Gemeinschaft nach außen, zuerst personell, dann auch territorial.

Der zweite, ebenso wichtige Zweck war die Errichtung und Durchsetzung einer Rechtsordnung im Inneren. Nur wegen dieser beiden Aufgaben haben Menschen überhaupt Staaten gebildet, und nicht zum Zweck der Pensionsversicherung oder des Baus von Kindergärten oder der Finanzierung von Theatern, die heute so dominierend scheinen. Alle Staaten, die eine dieser beiden historischen Hauptaufgaben vernachlässigt haben, sind daran früher oder später zugrunde gegangen.

Doppeltes Kollabieren

Die EU hat die Staaten zwar auf allen Ebenen zurückgedrängt, ihnen immer mehr Aufgaben aus der Hand genommen. Sie war aber außerstande, an Stelle der Staaten auch nur eine der beiden zentralen Notwendigkeiten wirklich zu erfüllen. Sie ist es heute sogar weniger denn früher.

So ist insbesondere im Euro-Raum die innere Rechtsordnung zur Lachnummer degeneriert: Man hat zwar den beteiligten Staaten die eigene Währung genommen, aber weder sind die feierlich und rechtlich beschworenen Maastricht-Kriterien noch das ebenso rechtsgültige Bailout-Verbot eingehalten worden, obwohl sie die Fundamente der Ersatzwährung sein sollten. Klare rechtliche Regelungen wurden zugunsten von schwammig-emotionalen Begriffen wie „Solidarität“ und „Hilfsbereitschaft“ einfach aufgegeben. Und die Höchstgerichte haben ein bisschen gejammert, aber letztlich zugeschaut.

Noch schlimmer ist das Versagen beim Schutz der Grenzen der EU (oder genauer: des Schengen-Raums) nach außen. Dieser findet einfach nicht mehr statt. Jetzt kann man lange streiten, ob die EU-Institutionen daran schuld sind oder Italien, Griechenland und Slowenien, die allesamt die EU-Außengrenze nicht schützen, nicht kontrollieren. Man kann auch streiten, wie sehr Österreich und Deutschland daran mitschuldig sind, die durch ihre unselige Willkommenskultur eine gigantische Sogwirkung auf Millionen illegale und unkontrollierte Einwanderer entwickelt haben.

Tatsache ist, dass andere Länder, etwa Spanien und Ungarn, sehr wohl zum Schutz europäischer Außengrenzen imstande waren und sind. Daher sind sicher die zuvor genannten Länder in erster Linie schuldig. Aber sie sind auch nie von irgendeiner EU-Instanz gemahnt oder getadelt worden.

Wir sehen ein doppeltes Kollabieren der EU, sowohl bei der Außensicherung wie bei der Durchsetzung innerer Normen. Auch die Hoffnungen, dass einer der fast schon im Nonstop-Rhythmus stattfindenden EU-Gipfel und Sonderministerräte noch eine Umkehr bewerkstelligen kann, sind längst verschwindend gering geworden.

Die Schuldigen: Regierungen, Gerichte, Medien

Die Ursachen dieser gefährlichen Entwicklung sind vielfältig und komplex. Sie sind bei vielen Regierungen zu finden, bei vielen nationalen wie europäischen Gerichtshöfen; sie liegen in ganz besonders hohem Ausmaß beim EU-Parlament, das die Regierungen ständig an billigem linkem Populismus zu übertreffen versucht; sie liegen auch bei vielen Medien.

Aber warum handeln Gerichte, Politiker, Medien so? Die eigentliche Hauptursache ist die geistige Deformation durch 70 Jahre Frieden und einen ein historisch noch nie dagewesenen schier immerwährenden Aufstieg, in dem alles immer nur besser wird. Daraus entstand die verweichlichte Dekadenz einer konsumdominierten Gesellschaft. Daraus entstand die Schwäche eines überalterten, langsam aussterbenden Kontinents.

Westeuropa hat völlig vergessen, dass staatliches Handeln manchmal auch harte, schmerzhafte, unangenehme Entscheidungen bedeutet und nicht nur Opportunismus. Man hat sich immer tiefer in den Irrglauben eingegraben, dass die weitere Entwicklung nur in immer noch mehr Wohlfahrt, in immer noch weniger Militär, in immer mehr „Humanität“, in immer weniger unangenehmem Durchgreifen, in immer mehr Rechten und immer weniger Pflichten besteht. Man hat verlernt, was verantwortungsvolles Handeln heißt.

Man hat alte und uralte Weisheiten vergessen, wie etwa:

  • „Summum ius summa iniuria“ (also: Wenn man das Recht jedes Einzelnen immer mehr auf die Spitze treibt, entsteht dadurch das allergrößte Unrecht);
  • „Je mehr Wohlfahrt in einem Staat, umso mehr Grenzen braucht es um den Staat“;
  • „Ultra posse nemo tenetur“ (niemand kann zu etwas verpflichtet sein – etwa jeden Einwanderungswilligen aufzunehmen, jedem Schuldnerland immer weitere Kredite zu geben –, was seine Kräfte übersteigt);
  •  „Klare Grenzen, ,Einfriedungen‘ sind die unabdingbaren Voraussetzungen von ,Frieden‘“.

Politiker und Richter wollen unter dem Beifall der Medien immer noch sozialer, großzügiger, humaner, liebenswerter werden – bis nichts mehr zu verteilen da ist, bis das, was sie eigentlich zu schützen und verteidigen hätten, nämlich Staat, Recht und Ordnung, zusammengebrochen ist. Vor lauter Rücksicht auf den Einzelfall vergisst man in populistischer Kurzsichtigkeit die Allgemeinheit. Und schadet damit langfristig einer viel größeren Zahl von „Einzelfällen“.

Wenn Griechenland seine Kredite nicht zurückzuzahlen braucht, warum soll es dann künftig noch ein anderes Land tun? Wenn in einem einzigen Jahr mehr als eine Million ohne jeden Nachweis einer persönlichen Verfolgung ins österreichische, deutsche oder schwedische Wohlfahrtssystem einwandern können, mit welcher Begründung will man dann künftig hunderten Millionen weiterer Afrikaner und Arabern die Einwanderung verweigern?

Was die letzten Zukunftsoptionen wären

Weil man in Einzelfällen unangenehmen und harten Konsequenzen aus dem Weg gegangen ist, stehen jetzt noch viel härtere Konsequenzen bevor. Oder man verzichtet darauf, Europa noch aus dem Kollaps, aus der Anomie noch zu retten. Dabei geht es wohlgemerkt nicht nur um die Institutionen der EU, dabei geht es wie am Ende des römischen Reiches oder der k. und k. Monarchie längst auch um eine Verhinderung des Zusammenbruchs aller anderen gesellschaftlichen Strukturen.

Was konkret angesichts der Völkerwanderung zu tun wäre, hat der deutsche Staatssekretär Spahn (er wird am liberalen Flügel der CDU eingeordnet) in einem soeben erschienenen  und Aufsehen erregenden Buch (Ins Offene: Deutschland, Europa und die Flüchtlinge) sehr anschaulich auf den Punkt gebracht: „Wir dürfen nicht die alten Fehler von falsch verstandener Toleranz gegenüber anderen Traditionen und Kulturen wiederholen. . . Wir sollten aufhören, uns zwischen 'Multikulti' und den eigenen, teils auch selbst erst mühsam in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Freiheiten und Werten zu verheddern.“

Und weiter in Hinblick auf die notwendigen Abschiebungen von illegal über die offenen Grenzen nach Europa Eingewanderten, die seit längerem nicht mehr stattfinden: „Das erfordert ohne Zweifel auch die Bereitschaft zur Härte, es wird auch unschöne Bilder, schreiende Kinder und Frauen geben. . . Aber nur so wird die ehrliche Botschaft auf dem Balkan und in der Welt ankommen, dass nicht jeder in Deutschland und Europa bleiben kann.“

Solche mutigen Männer wie Spahn lassen wieder hoffen. Aber hat Europa insgesamt noch genügend Politiker, die zu den noch rettenden Konsequenzen imstande wären? Ich zweifle. Sie sind im Fall Griechenlands in der Minderheit geblieben, vor allem im ausschlaggebenden Land Europas, also Deutschland. Und sie sind das offensichtlich erst recht im Falle der Völkerwanderung, die dabei ist, den Schlusspunkt unter eines der einst schönsten Projekte der Geschichte zu setzen.

Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.

 

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