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Die Hegelgasse – ein Exempel des Versagens

Politik ist nicht lernfähig. Das zeigt die aktuelle Bildungsdiskussion. Statt dass da konkrete Lehren aus den Ergebnissen der jüngsten Zentralmatura an bestimmten Schulen gezogen werden, werden diese vertuscht. Die Politik geht nicht einmal in die Problemschulen. Sie versucht gar nicht, dort nach Ursachen zu fahnden. Sondern sie bombardiert uns mit unerträglichen und inhaltsleeren Pauschal-Phrasen, wie dass die Schule „aus einem Guss“ sein müsse. Oder dass es um die „Schule des 21. Jahrhunderts“ gehe.

Ich habe das getan, was die Koalition längst tun hätte sollen. Ich habe mich – natürlich vertraulich, weil das sonst für die betreffenden Lehrer ja existenzgefährdend wäre, – eingehend mit Exponenten jener Schule unterhalten, die vermutlich das schlechteste Ergebnis aller Schulen bei der Zentralmatura hatte: Das ist das Oberstufengymnasium in der Wiener Hegelgasse. Dort haben nur 18 von 90 Schülern die Reifeprüfung im ersten Anlauf geschafft. Also 80 Prozent waren negativ.

Dieses katastrophale Ergebnis hängt nur zum kleineren Teil damit zusammen, dass eine Klasse nachträglich wegen Schummelns aufgeflogen ist, und dass fast die gesamte Klasse die Matura wiederholen muss, weil die Schüler die Beispiele mit dem Smartphone abfotografiert und weil sie dann von Nachhilfelehrern die Lösungen erhalten haben.

Aber auch bei diesem Vorfall ist die Reaktion der Schulbehörden bezeichnend: Der zuständige Lehrer habe da nicht absichtlich, sondern nur „fahrlässig“ weggeschaut, wird behauptet, weshalb er nur eine Ermahnung bekam. Wer‘s glaubt, wird selig oder Stadtschulratsbürokrat.

Die „Erfolge“ der Hegelgassen-Schüler waren jedoch auch in den anderen Fächern und Klassen, wo keine Schwindelei aufgeflogen ist, jämmerlich und weit unter dem österreichischen Schnitt. Was sind die Ursachen dafür?

Bei den Gesprächen kristallisierten sich ganz klar vier zentrale Problemfelder heraus, aus deren Analyse man viel lernen könnte, um es künftig besser zu machen. Wenn man wollte.

1. Schlechtere Schüler als in AHS

Das erste Problemfeld ist das Grundproblem nicht nur der Hegelgasse, sondern aller Oberstufengymnasien: Sie müssen mit 15-Jährigen anfangen, die in diesem Alter als Ergebnis von Haupt- und Gesamtschulen schon weit hinter jenen Altersgenossen zurückliegen, die seit dem 10. Lebensjahr in eine AHS gegangen sind. Lediglich die Kinder aus den ersten Leistungsgruppen der (im Auslaufen befindlichen!) Hauptschulen bilden da meist eine Ausnahme. Es gelingt in den Oberstufenjahren dann nicht mehr, diesen Rückstand aufzuholen oder auch nur zu verkleinern (schließlich ruhen sich ja auch die Langform-Schulen in den gleichen Altersjahrgängen nicht auf irgendwelchen Lorbeeren aus).

Deshalb sind in Oberstufenschulen österreichweit die Ergebnisse deutlich schlechter als im allgemeinen Schnitt. Während bei Langform-Schulen etliche dabei sind, wo Schüler und Lehrer die Zentralmatura-Aufgaben als überaus leicht belächelt haben. Das ist ein geradezu dramatischer Beweis, was für eine Katastrophe es für Österreichs Bildungsniveau wäre, wenn man die Gymnasiums-Langform abschafft. Es hieße, auf die erfolgreichste Ausbildungsform zu verzichten.

2. Hoher Ausländeranteil

Das zweite Problemfeld wird von politisch korrekten Menschen besonders gerne ausgeklammert: Das ist der in Oberstufengymnasien schon recht hohe Ausländeranteil. Die Lehrer kennen da zwar vor allem unter den Ostasiaten brillante Ausnahmen. Aber sonst haben viele Kinder mit Migrationshintergrund Schulprobleme.

Wofür es mehrere Ursachen gibt:

  • Es fehlt vielen Migrantenkindern an Eltern, die bei Schwierigkeiten in irgendeiner Form helfen und eingreifen. Es gibt aber nur wenige Kinder, die nicht irgendwann einmal Schul-Schwierigkeiten haben. An der mangelnden Elternbeteiligung ist die Politik mitschuld. Sie versucht mit allen Mitteln, Mütter in die Berufstätigkeit zu locken. Sie hat Bildung populistisch zur ausschließlichen Aufgabe der Schule zu erklären versucht. Dadurch werden die Eltern viel zu wenig hereingeholt, hereingezwungen, um ihrer Mitverantwortung beim Schulerfolg der Kinder nachzukommen. Das wäre auch dann wichtig, wenn die Eltern selbst ungebildet sind.
  • Es fehlt vielen der kulturelle, bildungsorientierte Hintergrund, den österreichische Kinder osmotisch ganz automatisch außerhalb der Schule aufsaugen. Der ist aber enorm wichtig: Die Pisa-Studien haben herausgefunden, dass man schon alleine an Hand der Laufmeter Bücher in einem Haushalt signifikante Unterschiede im Bildungsergebnis prophezeien kann. Jedes Kind hat einen Schatz an Wissen, an Erfahrungen, an Zusammenhängen, die es lange vor oder neben der Schule erworben hat. Wenn das aber eher ein Drittwelt-artiger Erfahrungsschatz ist, dann würde es der dreifachen Selbstdisziplin und Anstrengung bedürfen, um das aufzuholen. Was bei aufstiegswilligen Kindern und Familien freilich durchaus möglich wäre. (Persönliches Beispiel: Mein Vater hat als Sohn eines analphabetischen Bergbauern nicht nur die Schule, sondern auch das Jus-Studium geschafft.)
  • Es fehlt bei einem Teil der Migrantenkinder die in einer höheren Schule eigentlich mit 15 Jahren unabdingbare perfekte Beherrschung der Unterrichtssprache.
    Ursache eins: In den Familien und im Freundeskreis wird oft nicht Deutsch geredet.
    Ursache zwei: In Schulen wird oft ein Auge zugedrückt, wenn das Deutsch suboptimal ist.
    Ursache drei: Bisher ist immer der Vorschlag als politisch unkorrekt abgelehnt worden, Jugendliche vor Schuleintritt in eigenen Klassen zusammenzuholen, damit sie ihre sprachlichen Defizite intensiv aufholen und dann unbehindert dem Unterricht folgen können.

Dabei zeigen viele Forschungen, dass nur während der ersten 12 oder 14 Lebensjahre eine zweite Sprache wirklich in der gleichen Qualität wie die Muttersprache gelernt werden kann. (Als positives Beispiel wieder eine persönliche Erinnerung: Ich habe immer meine Texte jahrelang jenem Kollegen zum Gegenlesen gegeben, der die Sprache am perfektesten beherrscht hat – das war ein geborener Ungar, der erst mit acht Jahren nach Österreich migriert ist und Deutsch gelernt hat. Ein gegenteiliges Beispiel ist Henry Kissinger: Obwohl schon mit 14 nach Amerika gekommen, hat er bis heute in den Ohren der Amerikaner – bei all seiner sonstigen Genialität – einen deutschen Akzent).

3. Druck auf die Lehrer, nicht zu streng zu sein

Das dritte Problemfeld ist das Schulsystem selbst: Jahrelang ist auf die Lehrer Druck ausgeübt worden, nur ja nicht zu streng zu sein, nicht zu viele negative Noten zu geben. Dieser Druck ist sowohl von der Direktorin als auch von Landesschulinspektoren gekommen. Diesem Druck haben sich dann letztlich die meisten Lehrer gebeugt. Schlechte Noten sind vielen linken Schulbürokraten ideologisch verhasst; Direktoren meinen, eine hohe Durchfallquote würde ihr Image beschädigen; und manche wollen auch aus Gutherzigkeit den Kindern nicht dadurch schaden, dass man sie durchfallen lässt (und begreifen nicht, dass sie dadurch allen anderen Schülern viel mehr schaden).

Die völlig falsche, weil für alle schädliche Milde, welche heute in den Schulen regiert, zeigt sich auch in rein disziplinärer Hinsicht. Es wirkt sich aber langfristig verheerend aus,

  • wenn Gewalt gegen Lehrer oder Mitschüler, wiederholtes Schulschwänzen oder ständige Sabotage des Unterrichts letztlich fast immer folgenlos bleiben;
  • wenn auf solche Aktionen immer verständnisvoll statt konsequent reagiert wird;
  • wenn die früher vielleicht zu große Allmacht eines Lehrers nun durch deren Ohnmacht abgelöst worden ist;
  • wenn immer öfter Vorgänge in Schulen zu langwierigen juristischen Instanzenzügen statt zu sofortigen Reaktionen führen.

4. Falsche Inhalte der Zentralmatura

Das vierte bei den Gesprächen genannte Problemfeld hat mich hingegen nicht ganz überzeugen können. Denn es trifft ja auch alle anderen Schulen genauso: Das ist die seltsame und komplizierte Struktur der Zentralmatura. Zwar ist sicher extrem zweifelhaft, dass die neue Mode der „Kompetenzorientierung“ irgendein positiver Beitrag zu Bildung oder Ausbildung ist. Zwar ist es ein absoluter Wahnsinn, dass in Deutsch die drei einzig relevanten Aspekte total zurückgedrängt und zugunsten von Gimmicks abgewertet worden sind:

  1. Die Fähigkeit, einen gut durchargumentierten Aufsatz mit einem roten Faden und in akzeptablem Stil schreiben zu können;
  2. Die Fähigkeit, diesen Text  in Grammatik, Rechtschreibung und auch Interpunktion weitgehend fehlerfrei abzufassen;
  3. Und ein gewisser Mindestkanon an literarischen Kenntnissen.

Diese inhaltlichen Fehlentwicklungen der Zentralmatura gehören gewiss rasch wieder ausgemerzt (auch das wäre eine eminent wichtige Aufgabe einer echten Bildungsreform!). Aber sie können die schlechten Leistungen einzelner Schulen nicht so schlüssig erklären, wie die ersten drei Problemfelder es tun.

Die genannten Problemfelder zeigen jedenfalls einen unendlichen Handlungsbedarf. Aber die regierungsoffizielle Kommission ignoriert sie und streitet lieber, ob eine (schwer überforderte) Unterrichtsministerin mit einem (schwachen) Beamtenapparat oder ob (zum Teil geistig tief provinzielle) Landeshauptleute am Ende mehr Macht über die Schule haben sollen. Und das einzige, was der Unterrichtsministerin zur Kompetenzaufwertung der einzelnen Schulen einfällt, ist das Recht, über die Pausen zu entscheiden.

 

Ich schreibe regelmäßig Kommentare für die unabhängige und rund um die Uhr aktuelle Informationsseite „Vienna.at“.

 

 

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