Die Volkspartei hat ihren Evolutionsprozess nun in einen konkreten Fragebogen komprimiert. Das ist prinzipiell mutig und gut. Die Fragen teilen sich freilich in vier sehr unterschiedliche Kategorien. In überaus lobenswerte, wo die (zu erwartenden) Antworten freilich so gar nicht in eine Koalition mit Retro-Sozialdemokraten passen werden; in Fragen, deren Formulierung nur inhaltloses oder widersprüchliches Gewäsch ist, was automatisch auch die Antworten völlig sinnlos macht; in bedeutungslose No-Na-Fragen; und in die trotz lebhafter Debatten während des Evolutionsprozesses nicht gestellten Fragen. Diese wären aber freilich die allerwichtigsten.
Da ist ganz offensichtlich eine Parteiführung auf halber Strecke vom Mut zu mehr Demokratie wieder abgesprungen.
Aber zuerst die eindeutig positiven Fragestellungen, die bisweilen überraschen, und die man daher umso mehr lobend hervorheben sollte.
- Da wird ein „verbindliches Vorzugsstimmenmodell“ abgefragt. Ein solches hat die ÖVP ja bisher nur bei niederösterreichischen Landtagswahlen gewagt. Es entmachtet Funktionäre und Bünde. Es ist ein wichtiger Schritt zu mehr Demokratie. Der entscheidende Kern ist sehr gut wie knapp formuliert und lässt eigentlich keine Ausflüchte zu: „Die Kandidaten mit den meisten Stimmen erhalten das Mandat.“
- Da wird – mit positivem Unterton – die „Einführung von Selbstbehalten bei gleichzeitiger Reduktion der Sozialversicherungsbeiträge“ im Gesundheitsbereich abgefragt. Bravo! Nur in diese Richtung kann eine sinnvolle Reform gehen (mit dieser Frage ist übrigens auch die jüngste „Gesundheitsreform“ endgültig als unbrauchbar entlarvt, für die sich die Herrn Stöger und Schelling selbst noch so belobt haben).
- Da wird mit sehr guten Formulierungen ein klares Bekenntnis zur „Vater-Mutter-Kind“-Familie als Leitbild abgefragt. Wobei auch die Haltung zu schwulen Beziehungen klar ist: „Wir schreiben den Menschen aber nicht vor, wie sie zu leben haben.“ Jedoch das Wichtigste ist: „Das Wohl der Kinder hat dabei Vorrang vor allen anderen Interessen.“
- Da wird auch eine klare Absage an Vermögens- und Substanzbesteuerungen abgefragt (was freilich im Gegensatz zu den vielen Äußerungen des Parteiobmanns steht, die eigentlich diesbezüglich einen bevorstehenden ÖVP-Umfaller für die nächsten Wochen erwarten haben lassen).
- Da geht es – freilich eine Spur zu vage – um die Zustimmung zu Maßnahmen, wenn Kinder „vor dem Schuleintritt“ keine ausreichenden Deutschkenntnisse haben.
- Da wird mutig, tapfer und richtig nach Studienbeiträgen und Uni-Zugangsregelungen gefragt.
- Da wird nach der Zustimmung zu einem „differenzierten Schulsystem“ gefragt (im Gegensatz zum Verlangen der Tiroler und Vorarlberger Schwarzen nach einem Gesamtschul-Einheitsbrei!).
- Da wird – freilich eine Spur zu vage – nach einem „Sicherungsmechanismus“ gefragt, der die steigende Lebenserwartung im Pensionssystem widerspiegeln soll.
- Da wird nach einer Flexibilisierung der Arbeitszeit gefragt.
Das sind alles Fragen, bei denen die (erwartbaren) Antworten der vielfach unklar gewordenen ÖVP-Linie in diesen Bereichen wieder Rückgrat einziehen sollten. Die Parteiführung wird bei Einlangen der Antworten dann endlich wieder wissen, was ihre Wähler wollen, und sie sollte sich dann nicht mehr dauernd durch ahnungslose bis linke Zeitungskommentare verwirren lassen. Freilich bleibt die Sorge lebendig, dass die Parteiführung unter Bezug auf angebliche Koalitionszwänge – oder gar zur Rettung des netten kleinen Bundeskanzlers mit der hohen Stimme – bald wieder die Ergebnisse der Mitgliederabstimmung zynisch ignorieren wird.
Gewäsch-Formulierungen
Bei einer ganzen Reihe von Fragen ist durch offenbar bewusst unklare oder unsinnige Formulierungen der Koalitions-Kompromiss hingegen schon vorweggenommen worden. Oder man hat nicht einmal in der Fragestellung die internen Meinungsverschiedenheiten in der Volkspartei überbrücken können (was natürlich in Kontrast zum Anspruch steht, einen Staat führen zu können).
- Da heißt es verschwurbelt und in Gendersprache: „Soll das Leistungsprinzip das entscheidende Element bei der Integration von Migrantinnen und Migranten sein? Das heißt, dass es bei der Integration nicht darum gehen soll, woher jemand kommt, sondern was jemand in Österreich zu leisten bereit ist.“ Was soll das heißen? Geht es bei der Integration nicht immer um Leistung? Was würde es heißen, wenn man da „Nein“ antwortet? Und was will die ÖVP mit denen tun, die nicht zu Leistungen bereit oder (etwa bildungsmäßig) imstande sind?
- Da heißt es: „Die duale Lehrlingsausbildung ist ein wichtiger Erfolgsfaktor im globalen Wettbewerb. Soll sich die ÖVP für eine Weiterentwicklung der dualen Ausbildung und eine deutliche Verbesserung des Stellenwerts der Lehre in der Gesellschaft einsetzen?“ Was soll das konkret heißen? Wie setzt man sich für die „Verbesserung“ eines „Stellenwerts“ ein? Wie soll die duale Ausbildung weiterentwickelt werden? Oder ist das nur belanglose Wahlkampflyrik für die WKO-Wahl?
- Da heißt es reichlich undeutsch: „Soll sich die ÖVP für eine Aufgaben- und Leistungsreduktion des Staates einsetzen, die eine nachhaltige Senkung der Abgabenquote finanziert (Stichwort: „weniger Staat, weniger Steuern“)?“ Ja eh – aber irgendeinen Aussagewert erhalten doch solche Phrasen nur, wenn man endlich konkret sagt, welche Aufgaben, welche Leistungen reduziert werden sollen. Sonst stehen diese Frage und die erwartbare Antwort darauf ja nur auf dem Niveau der Leitartikel in Gratiszeitungen.
- Da heißt es: „Soll sich die ÖVP beim Umbau des Energiesystems für eine Stärkung von Erneuerbaren Energien, von Versorgungssicherheit und Wettbewerb aussprechen, und den Schwerpunkt vermehrt auf Energieeffizienz und die Förderung der dezentralen Energie- und Eigenversorgung (z.B. Photovoltaikanlage am Dach) legen?“ Abgesehen von der köstlichen Devotion, dass die ÖVP das Adjektiv in „Erneuerbaren Energien“ – wie etwa beim Heiligen Geist – nur noch groß zu schreiben wagt, fragt man sich: Warum verwischt diese Formulierung die einzig relevante Problematik, nämlich dass „Versorgungssicherheit und Wettbewerb“ der eindeutige Gegenpol zur gleichzeitig signalisierten Euphorie für erneuerbare Energien und deren Subventionierung sind? Begreift man nicht den Widerspruch? Warum werden Petitessen wie „Eigenversorgung (z.B. Photovoltaikanlage am Dach)“ ausdrücklich angesprochen, während die viel umstritteneren Windkraftanlagen hingegen nicht einmal genannt werden? Damit gleicht die Frage freilich der gesamten europäischen Energiepolitik: Herumgerede . . .
- Da heißt es: „Soll sich die ÖVP für mehr Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger einsetzen, mit dem Ziel, eine Kultur der Bürgerbeteiligung zu schaffen?“ Eine Null-Phrase ohne jeden Inhalt.
- Da heißt es: „Soll sich die ÖVP dafür einsetzen, dass die Grundprinzipien unserer Gesellschaft (Eigentum, Freiheit, Sicherheit, …) auch in der digitalen Welt gelten?“ Und schon wieder eine absolute Null-Phrase ohne jeden Inhalt, die nur Widersprüche zudecken soll. Denn das Pochen der Urheber auf das „Eigentum“ an ihrem Werk steht in totalem Gegensatz zum Verlangen vieler User nach „Freiheit“ für jeden denkbaren Zugriff, auf Musik, auf Filme, auf Pornos. Und was heißt „Sicherheit“? Den Kampf gegen den Internet-Missbrauch durch Islamisten und Terroristen oder den Kampf gegen Spionage-Zugriffe auf alle digitalen Inhalte? Beides firmiert ja in der gesamten Debatte als "Sicherheit".
- Da heißt es: „Soll sich die ÖVP für sinnvolle (Teil-)Privatisierungen mancher staatlicher Beteiligungen, die nicht der Sicherung der Daseinsvorsorge dienen, aussprechen?“ Noch schwächer hätte man diese Frage nach einem einstigen Kern schwarzer Identität wohl nicht mehr formulieren können. Hat man dabei mehr vor der SPÖ oder mehr vor dem Boulevard Angst gehabt?
- Da heißt es in erneut holprigem Deutsch: „Soll die ÖVP die Möglichkeit schaffen, an regelmäßigen Abstimmungen zu bestimmten Themenfeldern (z.B. über die Homepage, Apps, …) teilzunehmen und Meinungen einzubringen?“ Aus dieser Formulierung spricht letztlich die ganze Präpotenz der politischen Klasse, die irgendwie übersehen haben dürfte, dass der Neoabsolutismus schon eineinhalb Jahrhunderte vorbei ist. Schämt sich niemand, die Bürger dadurch zu verhöhnen, dass man ihnen jetzt ernstlich anbietet, „Meinungen einzubringen“? Weiß bei der ÖVP niemand, dass schon jedes Bezirksblatt seit gut zehn Jahren Abstimmungen über seine Homepages macht (die keinerlei Wert haben, weil sie von Lobbys grenzenlos manipulierbar sind)?
Fast jeder dieser Fragen merkt man das Gezerre in der Parteispitze an, das am Schluss nur noch inhaltsfreie Formelkompromissen oder lächerliche Nullaussagen erlaubt hat.
Das Wichtigste fehlt
Noch schlimmer ist, dass diese Parteimechanismen, die Ängste der Partei vor dem Bürger die allerwichtigsten Fragen und Themen überhaupt hinausgekickt haben. Das fällt besonders deshalb auf, weil sehr wohl Platz war für viele (hier nicht erwähnte) No-Na-Fragen. Für das Wesentlichste hatte man jedoch keinen Platz mehr.
- Überhaupt nicht angesprochen wird die noch vor den letzten Wahlen zumindest von der Jungen ÖVP offen verfochtene Direkte Demokratie. Also die Einführung verpflichtender und bindender Volksabstimmungen, sobald das eine bestimmte Anzahl von Bürgern verlangt.
- Überhaupt nicht angesprochen wird der Bereich Zuwanderung und Islamisierung, der bürgerliche Wähler von Monat zu Monat mehr bewegt. Und zwar auch schon vor dem verheerenden Anschlag von Paris. Denn das im Fragebogen vorkommende Wort „Integration“ befasst sich ja nur mit einem kleinen Sektor dieses Problemkreises, dem am wenigsten problematischen.
- Überhaupt nicht angesprochen wird das Stichwort Euro-„Rettung“ und die laufende Enteignung der Sparer zugunsten der Staaten (von Griechenland bis Österreich). Damit also vor allem die Enteignung vieler traditioneller ÖVP-Wähler.
- Überhaupt nicht angesprochen wird auch die ebenfalls im Evolutionsprozess verlangte Abschaffung von Zwangsgebühren für den ORF.
- Erwartbar war hingegen die Tabuisierung eines weiteren Themenfelds gewesen: die Zwangsmitgliedschaft in Arbeiter- und Wirtschaftskammer.
In der Gesamtsicht kann man nun natürlich streiten, ob das ÖVP-Glas halbvoll oder halbleer ist. Aber jedenfalls ist es umso wichtiger, das Fehlen dieser zentralen Punkte anzusprechen, als man sich über die oben gelobten Fragen (beziehungsweise die dadurch ermöglichten Antworten) zwar durchaus freuen, jedoch auch hier ein Umfallen der ÖVP-Führung nicht ausschließen kann. Die Erfahrung der GroKo-Jahre mahnt ja zu reichlicher Vorsicht.
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