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Selbstbestimmung oder: Wie ähnlich sind die Krim und der Kosovo?

Absolut faszinierend, wie selektiv viele derzeit argumentieren, wenn sie die Krim und den Kosovo vergleichen. Die einen sehen nur die Gemeinsamkeiten, die anderen nur die Unterschiede. Und die dritten haben überhaupt keine objektiven Maßstäbe.

Viele stehen dort, wo ihre Lager, ihre Länder schon vor hundert Jahren gestanden sind. Prorussisch oder antirussisch. Eine Ausnahme bildet nur die FPÖ, die beklemmenderweise plötzlich zum Parteigänger Moskaus geworden ist. Jenseits der Lager sollte man aber die Fakten nüchtern betrachten und objektiv die einzelnen Punkte vergleichen.

Was gegen Moskau spricht

  • Im Kosovo gab es massive und besonders grausame Menschenrechtsverletzungen durch die serbischen Machthaber unter Milosevic. Dies hat auch das Ausland zum Eingreifen berechtigt. Auf der Krim hingegen gab es solche Menschenrechtsverletzungen in keiner Weise. Selbst die vom Parlament gewünschte Abschaffung des Russischen als offizielle Amtssprache ist nie Gesetz geworden, weil sie vom neuen ukrainischen Präsidenten bewusst nie unterzeichnet worden ist. Ganz unabhängig davon ist mehr als fraglich, ob ein solches Sprachengesetz schon als Menschenrechtsverletzung gelten kann. Es gibt ja völkerrechtlich dazu keine Vorschriften. (Oder verletzt Österreich in Moskauer Sicht auch die Menschenrechte, weil türkisch keine Amtssprache ist?).
  • Die EU versuchte auch noch nach dem Eingreifen im Kosovo (und versucht es bis heute), Serbien zu einem Konsens in Hinblick auf den Kosovo zu bewegen. Womit sie nun auch fast am Ziel sein dürfte (was den Belgrader Machthaber Vucic sogar in die Reihe der Nobelpreiskandidaten bringt). Der Westen hat auch viele Jahre mit einer Anerkennung des Staates Kosovo gezögert. Auf der Krim hingegen hat Russland nicht einmal eine Sekunde lang versucht, einen Konsens oder zumindest ein Gespräch mit der Ukraine zu suchen. Es ist einmarschiert und hat blitzschnell den Anschluss vollzogen und anerkannt.
  • Sämtliche Wahlen im Kosovo haben internationalen Standards entsprochen. Auf der Krim hingegen sind bei der "Volksabstimmung" die meisten Standards verletzt worden: Es hat nur eine Seite Propaganda machen können; die Fragestellung war extrem manipulativ; und nicht einmal das Wahlgeheimnis wurde durch die Art der Abstimmung gewahrt (das ist seltsamerweise ausgerechnet den Freiheitlichen wurscht, die zu Recht die Mariahilfer-Straßen-Abstimmung als in vielerlei Hinsicht undemokratisch kritisieren).
  • Referenden mit einem 97-prozentigen Ergebnis machen prinzipiell einmal skeptisch. Es gibt auf der Krim ja nur rund 60 Prozent Russen. Und Tataren sowie Ukrainer haben mit Sicherheit nicht für Russland gestimmt.
  • Selbst wenn die – durch niemanden objektiv überprüfbare – russische Propaganda stimmen sollte, dass ein Teil der Schüsse in Kiew von Demonstranten gestammt hat, so erfolgte die Absetzung des ukrainischen Präsidenten jedenfalls durch eine klare Parlamentsmehrheit. Daher gab es in Kiew keinen Putsch.
  • Selbst wenn man das nicht so sieht, so gibt keinesfalls eine behauptete innere Verfassungsverletzung dem Ausland das Recht zur Intervention (sonst könnte man ja auch in Österreich ständig intervenieren, wo immer wieder Gerichte eine Verfassungsverletzung feststellen). Überdies hat der frühere Janukowitsch-Innenminister persönlich via Fernsehen zur Gewalt gegen die Demonstranten aufgerufen. Daher zeigt die russische Propaganda nur eines: Moskau hat genauso gute Abhörmethoden wie die NSA und hat längst auch perfekt gelernt, in guter Tarnung Youtube&Co zu benutzen.
  • Russland hat im Gegenzug für den Abbau von Nuklearwaffen aus der Ukraine selbst feierlich die Souveränität der Ukraine beschworen. Es ignoriert also neben dem allgemeinen Interventionsverbot auch seine eigenen Garantien.
  • Wenn ausgerechnet ein so autoritären Staat wie Russland, wo nach der Reihe Oppositionelle und Journalisten eingesperrt werden, sich auf ein "Recht" beruft, sollte man doppelt skeptisch sein.
  • Wenn jetzt Russland sogar ukrainische Schiffe kapert, dann verhält es sich wie ein Seeräuber.
  • Auch noch so vehemente Unterstützer des Selbstbestimmungsrechts (wie der Autor) stellen dieses Recht nicht über die oberste Friedens-Regel, nämlich über das Interventions- und Invasionsverbot. Wenn jedes Land wegen eines – berechtigten oder behaupteten – Selbstbestimmungs-Anspruchs eine Invasion startet, wäre Europa wieder voll von Kriegen.

Auch für Moskau spricht einiges

Das heißt aber nicht, dass nicht auch für die russische Argumentation und die Gleichsetzung Kosovo-Krim einige Punkte sprächen:

  • Es gibt wenig Zweifel, dass sich auch bei einer korrekten Volksabstimmung eine Mehrheit der Krim-Bürger für Russland ausgesprochen hätte.
  • Ethnisch haben Krim und Kosovo ein sehr ähnliches Schicksal: Die Krim war immer russisch oder türkisch und ist ohne objektiven Grund erst seit den 50er Jahren ukrainisch. Der Kosovo war einst eindeutig serbisch, und ist erst im Laufe der Jahrhunderte durch Migration zu 90 Prozent albanisch geworden (was übrigens auch ein zusätzlicher Anlass sein sollte, Migrationsströme besonders kritisch anzuschauen).
  • Es kann sich prinzipiell um keine ganz echte Demokratie handeln, wenn ganze Gebiete gar nicht zu dem Staat gehören wollen, in dem sie mitwählen sollen. In diesem Sinn haben sich freilich nur ganz wenige Länder als echte Demokratien erwiesenen, die eine friedliche Anwendung des Selbstbestimmungsrechts erlaubt haben: Da fallen mir primär nur Großbritannien und die Tschechoslowakei ein. Gerade diese beiden Länder haben früher besonders nationalistisch-imperialistisch gehandelt. Man denke etwa nur an die Verbrechen der Tschechoslowakei gegenüber den Millionen Deutschen Böhmens und Mährens. Gerade die Entwicklung dieser beiden Länder und der friedliche Ablauf der Selbstbestimmung in der Slowakei oder in Schottland machen hoffnungsvoll.
  • Es ist ein schweres Versäumnis der internationalen Staatenwelt, noch immer keinerlei Regeln für die Selbstbestimmung, die Unabhängigkeit eines Gebiets, einer Provinz aufgestellt zu haben. Heute noch sind oft Jahrhunderte alte Herrschafts- und Zugehörigkeitssituationen, also Ergebnisse irgendwelcher feudaler Machtkämpfe, wichtiger als der Wille der Menschen. Es gibt keine definierte völkerrechtliche Methode, wie eine Volksgruppe das Selbstbestimmungsrecht in korrekter Weise wahrnehmen könnten.

Eine echte Selbstbestimmung muss sehr klar und konsistent erfolgen. Weder Moskau noch die Mehrheit des Westens haben dafür aber bisher auch nur irgendwelche Vorschläge gemacht. Der Westen sagt nur immer "So nicht". Aber er sagt nie: Wie sonst. Und Russland handelt einfach, ohne lange nachzudenken. Der Krim-Schock wäre jedoch der ideale Zeitpunkt, sich auf solche Regeln zu einigen. Da eigentlich beide Seiten eine Verrechtlichung dieser Frage wollen.

Dabei wären etwa folgende Eckpunkte der Selbstbestimmung sinnvoll:

  1. Mindestens sechs Monate lang freie Information durch alle Seiten;
  2. Eine international überwachte Abstimmung;
  3. Eine eindeutige, durch internationale Richter bestimmte Formulierung der Referendumsfrage;
  4. Mindestens eine Mehrheit von 50 Prozent der Wahlberechtigten (nicht nur der Abstimmenden) muss sich für neue Grenzen aussprechen;
  5. Auch in allen Untergebieten (Kreisen, Bezirken) muss es eine Mehrheit geben, damit auch diese den Weg der Selbstbestimmung gehen könnten;
  6. Es muss jedenfalls schon vor jeder Selbstbestimmung ein ganz klares Minderheitenschutzrecht gelten;
  7. Eine solche Abstimmung ist im Abstand von sechs Monaten zu wiederholen, damit keine zufälligen Tages-Emotionen mitspielen.

Aber weder diese noch irgendwelche andere Regeln werden auch nur diskutiert. Dabei müssten eigentlich beide Seiten jetzt die Chance dafür sehen, durch Entwicklung und Festlegung solcher Regeln ein neuerliches Krim-Chaos zu verhindern, das ja keiner will. Die einen reden immer nur von Moskaus Rechtsbruch, die anderen reden zwar von der Selbstbestimmung, aber unter völlig unakzeptablen Begleitumständen.

Gar so gern hat man in Moskau übrigens den von Machthaber Putin selbst bei der Invasion formulierten Vergleich mit dem Kosovo inzwischen ohnedies nicht mehr. Denn im Kosovo hat sich Moskau ja eindeutig gegen das Selbstbestimmungsrecht gestellt. Russland agiert also sehr inkonsistent.

Bei allen Vorwürfen gegen die EU und die USA ist letztlich eindeutig: Konkretes Recht gebrochen hat nur Russland.

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