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Es ist ein besorgniserregender Prozess: Immer öfter werden in vielen Regionen der Welt politische Auseinandersetzungen nicht mehr im Parlament, nicht über den Austausch von Argumenten, nicht auf rechtlichem Weg, sondern auf der Straße ausgetragen. Dabei glaubten viele noch vor einigen Jahren an einen unaufhaltsamen Siegeszug von Rechtsstaat, Parlamentarismus und Demokratie – insbesondere nach dem Zusammenbruch (fast) aller kommunistischen Diktaturen.
Auf diesen Zusammenbruch war dann ja auch rasch die Entmachtung vieler Drittwelt-Herrscher gefolgt. Diese konnten sich ab 1989 ja nicht mehr als Bollwerk gegen den Kommunismus verkaufen (was freilich auch vorher nur selten gestimmt hat). In letzter Zeit jedoch toben in dutzenden Ländern wilde Kundgebungen und Besetzungen, die sich über Monate oder auch Jahre hinziehen, wenn auch mit auf- und abschwellender Intensität.
Um nur einige Beispiele für solche Entwicklungen im letzten Jahr zu nennen: Ägypten, die Türkei, Russland, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, Italien, Spanien, Schweden, Portugal, Deutschland (siehe etwa Stuttgarter Bahnhof, siehe Berliner Asylantenheime), Chile, Brasilien, Tunesien. Und wenn man etwas länger zurückgreift, kommen einem auch wilde Krawalle in Ländern wie Iran, Frankreich und Großbritannien in den Sinn.
Dabei geht es um durchaus unterschiedliche Entwicklungen: Proteste gegen die Sparzwänge; dumpfer jugendlicher Protest in Ghetto-artigen Vorstädten; bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen zwischen Islamisten, Regierungen und Gemäßigten; Proteste gegen Studienreformen; Sorgen über eine rapide zunehmende Zuwanderung; Profilierungssucht schwuler Aktivisten; Widerstand gegen Machthaber, denen es trotz irgendwelcher Scheinwahlen völlig an Legitimität mangelt.
Trotz aller Unterschiede lassen sich erstaunlich viele Gemeinsamkeiten finden. Fast immer ziehen kühl-strategische Drahtzieher im Hintergrund die Fäden, während im Vordergrund wilde Emotion kocht. Dementsprechend ist es etwa Ägypten zumindest kurzfristig gelungen, die kampfeslustigen islamistischen Demonstranten auszubremsen, indem man die Drahtzieher ins Gefängnis gebracht hat. Das hat mehr gewirkt als die ebenso wilden Gegendemonstrationen der Anti-Islamisten.
Befeuernd für immer mehr Demonstrationen der letzten Zeit war der Umstand, dass im – vermeintlichen – arabischen Frühling Machthaber tatsächlich durch die Straße gestürzt werden konnten. Dabei war freilich in Wahrheit der westliche Druck auf die Machthaber in Tunesien und Ägypten sowie in Libyen die militärische Intervention des Westens entscheidend für den Rücktritt. Und nicht die Straße. Aber jedenfalls ging aus jenen Ländern ein Signal in die Welt (vor allem die islamische, in der es ja nirgendwo funktionierende Staaten gibt): Demonstrieren hilft. Wenn man nur ein paar Wochen durchhält, dann stürzen sogar Diktaturen. Und man kann auch sonst alles durchsetzen.
Dieser Glaube hat nun an vielen Orten zahllose Protestaktionen gegen alles Mögliche ausgelöst. Diese Eskalation der Unruhen war freilich das Gegenteil dessen, was am Beginn der arabischen Turbulenzen Europa und Amerika durch ihre Intervention erreichen wollten. Jetzt stehen sie ziemlich belämmert da und können zu den jüngsten Ereignissen in Ägypten nur noch hilflos herumstottern. Das ist wie bei Goethes Zauberlehrling und seinem Besen.
Die vielleicht stärkste Gemeinsamkeit hinter all diesen verschiedenen Manifestationen ist aber die Rolle der Medien. Die meisten Kundgebungen werden überhaupt primär für die Medien gemacht. Man kann solcherart gratis Sympathien, Mitläufer und Zuhörer sammeln und finden. Oder eben auch ausländische Mächte, die den eigenen Staatschef stürzen.
Wo es hingegen keine Kameras gibt, wird viel weniger demonstriert. Das passiert dann nur, wenn es um wirklich existenzielle Fragen geht. Polit-PR-Agenturen raten ihren Klienten daher gerne, möglichst wilde Demonstrationen zu veranstalten. Und fast immer werden die Medien als wichtigste Teilnehmer schon alarmiert, bevor eine solche Demonstration überhaupt anfängt.
Insbesondere das Fernsehen hat weltweit fast nur noch dann Platz und Lust, in seinen Nachrichten über bestimmte Vorgänge zu berichten, wenn es dramatische Bilder gibt. Und nicht dann, wenn es vielleicht wichtig ist. Auch in den Zeitungen laufen die Dinge ähnlich: Es wird viel intensiver als sonst berichtet, wenn es Photos martialisch wirkender Straßenkundgebungen gibt.
Das verlockt natürlich: Willst du dein Anliegen in die Öffentlichkeit bringen, musst du auf die Straße gehen. Wenn Frauen bereit sind, vor Kameras ihren Busen zu entblößen, muss man überhaupt nur ein halbes Dutzend Aktivistinnen positionieren. Das bringt derzeit die meiste mediale Beachtung. Das hat die beste Kosten-Nutzen-Relation. Hingegen findet inzwischen das 200. Greenpeace-Transparent auf einem feindlichen Kraftwerk schon viel weniger Beachtung.
Diesen Mechanismus hat sich einst übrigens auch Richard Lugner zunutze gemacht, wenn auch auf einer anderen Ebene: Er hat durch alljährliches Opernball-Ankarren eines bekannten Skandalgesichts oder einer italienischen Prostituierten gratis so viel mediale Werbung bekommen, wie er sie nie bezahlen hätte können. Sein simpler Trick: Er hat einfach Material für Kameras organisiert.
Hingegen ist Tatsache: Nicht einmal die allerklügste Rede, das kreativste Pamphlet, die spannendste parlamentarische Debatte, der sensationellste Vortrag, die prominenteste Podiumsdiskussion bringt heute in der Regel eine Idee, ein Anliegen, ein Problem in die Medien. Aber ein paar schreiende oder halbnackte Menschen schaffen das. Wo es keine „schönen“ (=wilden, dramatischen, aktionsreichen, neuartigen, lautstarken) Fernsehbilder gibt, darüber wird nicht berichtet. Eigentlich ist das absolut widerlich. Aber so funktioniert die Medienwelt halt einmal. Immer hektischer Aufregungen präsentieren – und jetzt zum Wetter.
Natürlich kommen auch noch andere Faktoren dazu, etwa die ideologische Sympathie: Wenn Linke demonstrieren, genügen dem ORF ein paar Dutzend Menschen auf der Straße, um zu berichten; wenn es hingegen konservative oder christliche Gruppen sind, reagiert der Staatssender frühestens ab ein paar Tausend Demonstranten.
Auch das journalistische Herdenverhalten spielt eine große Rolle: Die meisten Medien halten erfahrungsgemäß primär das für berichtenswert, worüber auch die anderen berichten; solcherart glauben die unsicheren und verunsicherten Redaktionen, keinen Fehler zu machen.
Auch in Wien wird ja fast jeden Samstag durch irgendeine meist extremistische Randgruppe Mariahilferstraße oder Ring blockiert. Verstärkend wirken sich hier auch eine seltsame Judikatur des Verfassungsgerichtshofs und das Verhalten der Wiener Polizei aus. Beide interpretieren die Demonstrationsfreiheit extrem weitgehend. In Wien darf man de facto auch ohne Anmeldung demonstrieren. Kundgebungen dürfen vereinbarte Routen verlassen. Und schon gar nicht hält man die Demonstranten dazu an, nur auf Gehsteigen oder in Fußgängerzonen zu bleiben.
Aber das nur am Rande. Österreich ist nicht das zentrale Thema dieser Analyse.
Die Vorgänge in immer mehr Staaten vermitteln eine klare Erkenntnis: Demokratie und die dabei notwendigen Umgangsformen können den Menschen nicht einfach per Anordnung, per Dekret, per Verfassung aufgestülpt werden, wie man insbesondere in den USA lange geglaubt hatte. Sie muss ebenso wie der Rechtsstaat vielmehr tief in Köpfen und Herzen der Menschen als die weitaus beste Methode des gesellschaftlichen Zusammenlebens verankert sein. Rechtsstaat und Demokratie funktionieren nicht primär durch Gesetze, sondern nur, wenn die große Mehrzahl begreift, dass legales Verhalten auch zu ihrem eigenen Nutzen ist – damit es alle anderen auch so tun.
Die Menschen müssen dabei aber auch Vertrauen haben, dass auch friedliche Äußerungen gehört werden. Sie müssen Vertrauen in den korrekten technischen Ablauf von Wahlen haben, in die Justiz, in die Polizei. Wenn dieses Vertrauen nicht – nicht mehr oder noch nicht – da ist, dann hat keine Verfassung der Welt eine Chance. Dann suchen die Menschen unweigerlich früher oder später den Kampf auf der Straße. Und die Sträksten setzen sich durch.
Das passiert natürlich auch dann, wenn die Unterdrückung durch ein Unrechtsregime als nicht mehr tragbar angesehen wird. Aber um das legitime Widerstandsrecht gegen Diktaturen, die anders nicht beseitigt werden könnten, geht es heute in Wahrheit nur in einer Minderheit der Fälle.
Kann man diese skizzierte Entwicklung bremsen oder umkehren? Auf Selbstdisziplin in den Fernseh- und Bildredaktionen zu hoffen, wäre total realitätsfremd. Film- und Bildberichte zu verbieten, wäre eine absolute Zertrümmerung unserer Meinungsfreiheit. Und umgekehrt würde es jeden Staat zusammenbrechen lassen, allen per Demonstration betriebenen Anliegen nachzugeben.
Pessimisten glauben daher, dass sich das demokratische System solcherart selbst ad absurdum führen wird. Was ja übrigens eines Tages auch als Folge der ständig teurer werdenden Wählerbestechungen in wirtschaftlicher Hinsicht droht.
Optimisten sehen aber zumindest einen Ausweg: Das ist die Direkte Demokratie. Wenn wie in der Schweiz eine Bürgermehrheit in geordneter Form über wirklich jede Frage entscheiden kann, dann führt das nicht nur zu offensichtlich viel besseren politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ergebnissen. Dann wird es vor allem reichlich sinnlos, ständig zu demonstrieren oder gar zu versuchen, Parlamente zu besetzen. Dann hat vor allem das liberal-aufgeklärte Ideal wieder Platz: Es zählt das Argument und sein Austausch unter zuhörenden Bürgern, nicht die Lautstärke und Aggressivität.
Es scheint, das ist die einzige Rettung der Demokratie. Nur die meisten der eigentlich mit dem Schutz der Demokratie beauftragten Politiker begreifen das nicht.
Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.