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Wie man zugleich unter Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel leiden kann

Eine seltsame Diskrepanz: Die ILO prophezeit Europa gewalttätige Unruhen wegen der wachsenden Arbeitslosigkeit. Insbesondere in Deutschland klagt man hingegen über einen zunehmenden Mangel an Kellnern, Installateuren oder Pflegekräften und an Arbeitskräften in mehr als hundert anderen Berufen. Wie passt das zusammen? Der europäische Bürger ist verwirrt.

Wenn man dem Weltarbeitsmarktbericht der Internationalen Arbeitsorganisation ILO glaubt, dann kann man sich eigentlich nur noch fest anschnallen und hoffen, dass es nicht ganz so schlimm sein wird wie beim letzten Mal. Das war nämlich in den 30er Jahren, als die Arbeitslosigkeit (eine Folge der Kosten des ersten Weltkriegs und der darauf entstanden Inflation) in Deutschland und Österreich eine wichtige Mitursache der bürgerkriegsartigen Unruhen und der Machtergreifung der Nationalsozialisten gewesen ist. Arbeitslose Menschen sind damals auf der Straße gestanden mit dem Schild "Nehme jede Arbeit", sie haben als "Ausgesteuerte" keinen offiziellen Groschen mehr erhalten, und haben in den Höfen der Häuser durch Gesang ein paar Münzen erbettelt.

Die – gewerkschaftsnahe, aber als UNO-Organisation getarnte – ILO sieht heute in nicht weniger als 46 Staaten ein wieder gestiegenes Risiko solcher sozialer Unruhen. Insbesondere in Europa hat sich laut ILO dieses Risiko signifikant erhöht.

Eine dramatische Prognose, da sie ja zumindest unterschwellig diese historischen Bezüge ins Spiel bringt. Eine Wiederholung der 30er Jahre ist jedenfalls das Allerletzte, was man sich wünschen kann. Sie zu vermeiden ist fast jeden Preis wert - nur nicht den eines bloßen Hinausschiebens unangenehmer Konsequenzen, das dann zu noch größeren Risiken führt.

Jedenfalls befindet sich die Eurozone schon seit 2011 in einer Rezession, sie hat also die 2007/08 begonnene Krise alles andere als überwunden. Noch bedenklicher aber ist der Umstand, dass es heute zwar schon wieder global durchaus signifikante Investitionen gibt – nur finden diese überwiegend in den Schwellenländern und (seit der dortigen Verbilligung der Energie) in den USA statt.

Europas Realität zeigt hingegen ein ganz anderes Bild. Noch immer werden in diesem Kontinent 50 Prozent aller weltweiten Wohlfahrtsausgaben getätigt – dabei stellt Europa nur acht Prozent der globalen Bevölkerung. Und wenn man die Programme zumindest der deutschen und österreichischen Wahlkämpfe anschaut, dann droht sogar ein weiterer Ausbau der unfinanzierbaren Wohlfahrtsleistungen.

Mangelware Kellner und Installateure

Ein toskanischer Unternehmer vermittelt dieser Tage bei einer privaten Plauderei ein erstaunliches Bild: "Die italienischen Universitäten produzieren Unmengen von Politologen und Soziologen, die dann zwangsläufig arbeitslos werden. Aber wenn man eine Putzhilfe sucht, findet man keine."

Das mag gewiss ein subjektives Bild sein. Es wird aber jedenfalls durch die jüngste Untersuchung des "Instituts der Deutschen Wirtschaft" in Hinblick auf die Bundesrepublik bestätigt. Darin wird für Deutschland ein besonderer Engpass auch bei Berufen mit einer - formal gesehen - eher geringen Qualifikationsanforderung konstatiert: insbesondere bei Kellnern, Installateuren und Pflegekräften. Fast ebenso Mangelware sind Ärzte, Vermessungstechniker oder Mechatroniker. Insgesamt zählt das Institut schon 119 Mangelberufe! Beim deutschen Bundesinstitut für Berufsbildung bezeichnet man die Lage in vielen Branchen deshalb sogar schon als "dramatisch".

Diese Diskrepanz zwischen einem Mangel und einem ebenso dramatisch scheinenden Überfluss an Arbeitskräften in ein- und demselben Währungsraum wirkt absurd. Die Erklärung für diesen Widerspruch heißt in der Fachsprache "geringe Mobilität". Das heißt: Wenn in Europa irgendwo (geographisch oder branchenmäßig) ein Mangel an Arbeitskräften vorhanden ist, dann müssten eigentlich nach allen Gesetzen der Logik die Arbeitssuchenden - die ja nach etlichen Medienberichten total verzweifelt sind - dorthin strömen. Sie tun es aber nicht. Sie demonstrieren vielleicht, aber ziehen nur zu einem sehr geringen Prozentsatz um.

Wenn hingegen in Amerika die Arbeitslosigkeit in einer Stadt (jüngstes Beispiel: Detroit) explodiert, dann ziehen die Menschen halt wo anders hin auf dem riesigen Subkontinent. Irgendwo boomt es nämlich fast immer. In den verlassenen Städten sinkt die Bewohnerzahl dann des öfteren auf weniger als die Hälfte. Kein Amerikaner sieht darin jedoch einen Grund zur sonderlichen Aufregung, zumindest solange es eben andere Orte oder Branchen mit deutlich mehr Chancen gibt.

Die Ursachen der Immobilität

Was sind nun die konkreten Ursachen der Immobilität der Europäer, die dazu führt, dass diese eben nicht den Arbeitsplätzen nachwandern?

  • Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache oder Zweitsprache macht ein Übersiedeln oft schwierig. Die EU hat zwar immer viel von der Förderung der Sprachkenntnisse gesprochen. Aber sie hat sich – vor allem auf Grund französischer Eitelkeiten – nie darauf einigen können, welche Sprache eigentlich als erste Fremdsprache zu lehren wäre. In einem gemeinsamen Markt sollten aber alle zumindest die Zweitsprache gemeinsam haben. Das kann im Grund natürlich nur Englisch sein, jetzt schon in Europa wie global die relativ meistgelernte Zweitsprache. Diese sollten in einem gemeinsamen Arbeitsmarkt alle, auch Menschen mit bloßem Pflichtschulabschluss, zumindest in einem brauchbaren Mindestumfang lernen. In Wahrheit aber ist der Fremdsprachenunterricht vielfach auch dort, wo er stattfindet, völlig unbrauchbar. Insbesondere in Spanien oder Italien trifft man auf Menschen, die vor der Universität angeblich acht Jahre Englisch gelernt haben, die jedoch nicht einmal einen einzigen Satz in dieser Sprache formulieren können.
  • Die Politik hat den Menschen in Europa jahrelang eingeredet, dass der Staat für die Bereitstellung von Arbeitsplätzen verantwortlich sei. Durch diese Propaganda ist den Menschen vielfach das anderswo selbstverständliche – und auch in unserer Vergangenheit allgemein verbreitete – Grundbewusstsein verloren gegangen, dass jeder primär selbst für sein Überleben, sein Einkommen, seinen Job verantwortlich ist. Bis vor wenigen Jahrzehnten war es auch in Europa noch selbstverständlich, dass man der Arbeit wegen selbst in ganz ferne Länder zieht. Heute sind hingegen arbeitslose Kellner nicht einmal bereit, für einen gutbezahlten Job von Wien nach Salzburg zu ziehen.
  • Die Wohlfahrtsleistungen in den meisten Ländern sind viel zu hoch geworden (was auch dann ein Riesenproblem ist, wenn sie finanzierbar wären). Sie führen dazu, dass man die Last der Arbeitslosigkeit viel weniger spürt, als notwendig wäre, um alle Arbeitslosen zu einer Jobsuche zu animieren. Viele junge Menschen bleiben lieber jahre-, jahrzehntelang bequem im Hotel Mama, statt sich der rauen Härte der Arbeitswelt zu stellen.
  • Auch die Wohnbauförderungen halten von Mobilität ab. Ein Wechsel der Wohnung würde etwa in Österreich vielen einen Verlust der Mieterschutz-Privilegien bringen. Andere müssten teure Wohnbauförderungen zurückzahlen. In Amerika hingegen zieht man problemlos weg; und wenn das Haus keinen Käufer findet, dann ist das letztlich ein Problem der Bank, nicht der (früheren) Bewohner.
  • Kaum jemand in Europa ist vorerst bereit, ein oder zwei Stufen hinunterzusteigen, um einen neuen Job zu finden. Vor allem Akademiker scheuen den Schritt zu nichtakademischen Berufen wie der Teufel das Weihwasser.

Hartz IV brachte Deutschland Wende zum Besseren

Aus all diesen Gründen werden wir noch viele Jahre warten müssen, wird die Krise wohl noch viel härter werden müssen, bis all diese Versäumnisse nachgeholt werden. Also bis es zu besseren Englisch-Kenntnissen und zu einem signifikanten Abbau von Wohlfahrtsleistungen kommt. Erst dann wird es wohl normal und selbstverständlich sein, dass man in anderen Ländern auf spanische Kellner oder griechische Altenpfleger stößt. So wie sich jahrhundertlang Tiroler oder Schweizer europaweit verdingt haben. So wie in den fünfziger Jahren arme Österreicher zu Hunderttausenden nach Kanada oder Australien ausgewandert sind. So wie es vor rund einem Jahrzehnt einen erstaunlichen – und für den Österreicher völlig überraschenden – Zustrom von deutschen Kellnern und sonstigen Arbeitskräften in die Alpenrepublik gegeben hat. So wie heute viele Jungmediziner aus Österreicher nach Deutschland gehen (in diesem Fall allerdings nicht wegen Arbeitslosigkeit in der Heimat, sondern wegen der schlechten Bezahlung in Österreichs Spitälern und in Kassenordinationen).

Gerade das Beispiel der plötzlich in Österreich aktiv gewordenen deutschen Kellner zeigt aber auch, wie rasch sich die Dinge wandeln. Heute kommt schon wieder kaum mehr ein junger Deutscher wegen der dortigen Arbeitslosigkeit nach Österreich. Deutschland ist im Gegenteil auf der Suche nach Arbeitskräften.

Diese Rück-Wende zum Besseren hat auch einen Namen: Hartz IV. Dieses Maßnahmenpaket (einer rotgrünen Regierung im Konsens mit der damals oppositionellen CDU/CSU) hat Deutschland aus der schweren Krise nach der Wiedervereinigung gerettet: Wohlfahrtsleistungen wurden stark reduziert; die Arbeitslosigkeit konnte nicht mehr als Dauer-Hängematte dienen; und es wurden insbesondere viele Formen gering bezahlter Beschäftigung entwickelt – über die zwar manche Gutmenschen und Gewerkschafter jammern, die aber individuell wie volkswirtschaftlich jedenfalls weit besser ist als jede Dauerarbeitslosigkeit.

Dieses Exempel zeigt: Es ginge ja, wenn Europa nur wollte. Deutschland hat jedenfalls dadurch seine Arbeitslosenzahlen von über fünf Millionen auf unter drei Millionen abbauen können. Sogar in Zeiten der Eurokrise.

Dieses Exempel kann aber nur dann allgemeingültig werden, wenn alle Europäer eines begreifen: Solange es keinen wirklich gemeinsamen Arbeitsmarkt gibt, kann eine gemeinsame Währung nie funktionieren.

Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.

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