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Niedersachsen: Machtwechsel mit hohem Spannungswert

Die Wahlen in Niedersachsen haben an Spannung die österreichische Volksbefragung, bei der ja von der ersten Sekunde an alles klar gewesen ist, weit übertroffen. Mit Nasenspitzenlänge scheinen schlussendlich Rot und Grün ein Mandat mehr als Schwarz und Gelb zu haben. Damit dürfte sich in der Nacht ein davor noch stundenlang feststehendes Ergebnis mit umgekehrten Vorzeichen umgedreht worden sein. Dennoch wird es nun wohl jede Menge Debatten und Anfechtungen geben.

Aber wenn dabei nichts Gravierendes auftaucht, ist klar: In der Demokratie ist eine Stimme mehr eine Mehrheit. Punkt.

Die Ungewissheit, die auch lang ein Patt als möglich erscheinen hat lassen, ist Folge des extrem komplizierten deutschen Erst- und Zweitstimmensystems, das auch ständig wegen seiner Widersprüche die deutschen Höchstgerichte beschäftigt. Dieses Ergebnis könnte daher sehr leicht noch zu Nachzählungen, Unklarheiten und Rechtsstreitigkeiten führen.

Jedenfalls ist ein Regierungswechsel in Niedersachsen für die Regierung von Angela Merkel eine Katastrophe. Die Linksparteien erhalten im Bundesrat eine Blockademehrheit und werden zumindest bis zum Wahltag der Berliner Koalition keinen Gesetzeserfolg mehr gönnen. Selbst wenn das Ergebnis noch so sehr im deutschen Interesse wäre wie etwa das von den Linken abgelehnte Abkommen mit der Schweiz, das den Deutschen viel Geld brächte.

Eine weitere Auffälligkeit: Es hat noch nie so viele Leihstimmen gegeben wie diesmal in Niedersachsen. Die vom Ausscheiden aus dem Landtag bedroht gewesene FDP ist durch CDU-Leihstimmen plötzlich nicht nur drinnen gewesen, sondern gleich auf zehn Prozent gesprungen. Sie hat also ihr Umfrageniveau verdreifacht.

Die Wähler werden aus eigenem immer raffinierter. Es ist zumindest nach außen kein Aufruf der CDU-Führung bekannt geworden, FDP zu wählen, es wurde auch keine diesbezügliche Mundpropaganda öffentlich. Aber wenn alle Medien rätseln, ob die FDP aus dem Landtag fliegt; und wenn sie dann auch noch gleich die für die CDU verderblichen Konsequenzen eines solchen Ausscheidens darstellen, dann gibt es genug intelligente Wähler, die selber wissen, wie sie ihrer CDU am besten helfen.

Denn die CDU profitiert von ihren Stimmverlusten Richtung FDP. Durch die schwarzen Leihstimmen sind plötzlich auch die 3-4 Prozent FDP-Wähler wahlwirksam geworden, die es laut übereinstimmenden Meinungsumfragen gewesen wären. Diese FDP-Stimmen wären sonst wirkungslos in den Papierkorb gewandert. Ohne Wiederbelebung der FDP-Stimmen wäre die rot-grüne Mehrheit in Hannover haushoch geworden. Ohne den Verlust dieser Leihstimmen, also ohne FDP-Mandatare, hätte zwar die CDU nach allen Umfragen einen großen Sieg errungen, hätte aber keinerlei Chance auf ein verlängertes Regierungsmandat gehabt.

Natürlich wäre in Hannover nun auch eine große Koalition möglich. Sie ist aber angesichts der sozialdemokratischen Stimmungslage unwahrscheinlich. Warum soll die SPD einen schwarzen Ministerpräsidenten wählen, wenn sie selbst die Regierungsführung übernehmen könnte?

Von der ebenfalls theoretisch möglichen Variante Schwarz-Grün redet in Deutschland fast niemand. Zu Recht, obwohl das in Österreich ganz anders ist. Aber in Wahrheit passen Schwarz und Grün noch viel schlechter zusammen als Schwarz und Rot. Nur positionslose Chamäleons können das anders sehen. Die gibt es freilich unter Medienkommentatoren häufig genug.

Das Spannendste wird aber wohl sein, ob sich FDP-Parteichef Rösler durch diesen (geliehenen) Erfolg retten kann. Längst stand schon die gesamte FDP-Spitze mit dem Dolch im Gewande hinter ihm, um den gebürtigen Vietnamesen als Parteichef zu killen. Ein Ausscheiden aus dem niedersächsischen Landtag wäre dafür der perfekte Vorwand und Anlass gewesen. Jetzt wird in der FDP wohl heftig gestritten, wie viele Leihstimmen da wirklich dabei waren, ob nicht Rösler vielleicht doch die Wende zu einem Wiederaufstieg der FDP geschafft hat, und vor allem: Mit wem wird die nächste Bundestagswahl am besten zu schlagen sein – mit Rösler oder mit Brüderle?

Die SPD hingegen verweigert sich der Frage nach einem Wechsel des Spitzenkandidaten. Sie bleibt an Peer Steinbrück in dieser Funktion kleben. Dabei steht außer Streit, dass Steinbrücks Patzer in letzter Zeit Hauptursache dafür waren, dass die SPD bei den Umfragen der letzten Wochen in Niedersachsen – und deutschlandweit –zurückgefallen ist. Bis dann der sichere rot-grüne Sieg fast verspielt gewesen wäre.

Auf den ersten Blick erscheint Steinbrücks Klebefähigkeit mit der von Norbert Darabos vergleichbar. Dennoch tut man Steinbrück mit diesem Vergleich nicht nur intellektuell Unrecht. Er hat erstens noch keinen eigenen Wahlkampf verloren. Zweitens würde sich derzeit jeder Herausforderer gegen die Übermutter Merkel schwer tun. Und drittens würde bei einem Rückzug Steinbrücks erst recht die Häme über die SPD losbrechen.

So sehr derzeit der Machtwechsel in Niedersachsen, seine Folgen für die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat und die Auswirkungen des Wahlergebnisses auf die FDP sowie Nicht-Auswirkungen auf die SPD im Vordergrund stehen: Das Allerwichtigste ist in Wahrheit das Nichteinrücken zweier Parteien. Sowohl die Linke wie auch die Piraten sind draußen. Beide aber waren medial einst zu großer Bedeutung hinaufgeschrieben worden.

Die Linke hat im Westen Deutschlands keine Chance mehr. Die linke Schickeria ist bei den Grünen viel zu tief verankert und sie will schon gar nichts mit der ostdeutschen Altfunktionärstruppe der Linken zu tun haben. Daran kann auch die Kommunistin Sahra Wagenknecht trotz ihrer attraktiven Erscheinung als neuer Star der Linken nichts mehr ändern.

Ebenso wichtig wie erfreulich ist das Draußenbleiben der Piraten. In Zeiten wie diesen will (fast) niemand die Geschicke eines Landes in die Hände von Chaoten legen, die in keiner Frage wissen, wo sie hinwollen, aber überall davon reden, WIE sie hinwollen. Nämlich durch ein kompliziertes Internet-System namens Liquid democracy. Das nur leider nie wirklich funktioniert.

Was bleibt, sind zwei Blöcke aus jeweils zwei Parteien, die gegeneinander mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen im Ring stehen, die aber untereinander jeweils fast untrennbar verbunden sind. Nur als Notlösung gibt es bisweilen große Koalitionen, die von allem anderen als großer Liebe getragen werden. Die beiden Kleinparteien sind hingegen gut beraten, sich nicht einmal andeutungsweise mit der gegnerischen Großpartei zu arrangieren. Denn dann würden sie untergehen. Vor allem die FDP hätte keine einzige Leihstimme bekommen, wenn offen gewesen wäre, ob sie mit Schwarz oder Rot koaliert.

Die letzte Erkenntnis klingt banal und alt; sie ist aber in Niedersachsen wieder einmal mit großer Schärfe deutlich geworden: Es kommt immer wieder auf jede einzelne Stimme an. Auch wenn es sich bei der Mehrzahl der Wahlen im Nachhinein als völlig egal erweist, wie man selbst abgestimmt hat.

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