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Krumme Gurken, schrumpelige Äpfel und selektive Aufregungen

Sie war jahrelang einer der häufigsten Kritikpunkte, der gegen die Europäische Union vorgebracht worden ist: die Gurkenkrümmung. Jeder Provinzpolitiker erregte sich darüber, dass die EU auch solche, ja wirklich überflüssige Dinge regle. Diese Gurken-Aufregung hat sich jahrelang wohl am festesten von allen EU-Themen in den Köpfen an den Stammtischen eingegraben. Dennoch war sie unberechtigt. Hingegen haben die EU-Bürger über viele andere echte Fehler der europäischen Bürokratie desinteressiert hinweggesehen.

Die Regelung der Gurkenkrümmung war keine unziemliche Einmischung der EU in unser Essen, sondern eine Hilfe für den Lebensmittelhandel. Die dieser auch unbedingt wollte.

Die Regelung hat in Wahrheit niemanden gestört. Denn: Es hat praktisch kein EU-Durchschnittsbürger mitbekommen, dass die Regelung – wie viele andere europäische Vermarktungsnormen im Agrarsektor – schon seit 2009 außer Kraft ist. An der Praxis im Handel hat sich aber seither absolut nichts geändert.

Die Gurkenkrümmungsnormen und viele ähnliche Regeln waren nämlich in Wahrheit äußerst sinnvoll: Sie haben den europaweiten Lebensmittelhandel vereinfacht. Die Käufer wussten, was jede einzelne Handelsklasse bedeutet, die sie irgendwo in Europas kaufen.

Der Griff des Konsumenten entscheidet

Solche Normen gehen letztlich auf Wünsche der Konsumenten zurück, oder genauer auf ihr Handeln. Diese mokieren sich zwar bei Umfragen gerne über die Gurkenkrümmung, greifen aber im Gemüsegeschäft und Supermarkt immer nur nach den schön geraden Gurken. Daher haben Bauern, die krumme Gurken liefern wollen, auch nach Abschaffung der EU-Normen genauso geringe Chancen auf Abnehmer wie vorher.

Der Handel hat das Aus für die EU-Regelung jedenfalls blitzschnell durch andere Markt-Usancen ersetzt. Insbesondere war dabei die ECE, die UNO-Wirtschaftskommission für Europa, hilfreich. Deren Richtlinien sind zwar unverbindlich, aber in der Kette Bauern-Großhändler-Gemüseregale-Konsumenten eben überaus hilfreich.

Daher gibt es weiterhin Zucchini der Klasse 1; diese dürfen nur einen Stiel von maximal drei Zentimetern Länge haben. Daher wird Spargel auch künftig nur rechtwinkelig abgeschnitten. Daher haben unförmige Karotten keine Chance gegen das orange Gardemaß.

Daraus kann man zweierlei lernen: Erstens hat die EU erfahren, dass sich schlechte Nachrichten (eben die von den angeblich schikanösen Gurken-Richtlinien) immer viel stärker verbreiten als gute Nachrichten. Der Union hat daher die erhoffte Imageverbesserung durch die Abschaffung der meisten Lebensmittel-Regelungen überhaupt nicht geholfen. Sie hat das freilich auch nicht mit einer Kommunikations-Strategie zu nutzen versucht.

Wann wird „biologisch“ gekauft?

Die zweite Lehre handelt vom Stichwort „Bio“: Gemüsehändler können auf die Kiste mit den schrumpeligen Äpfeln noch so groß „Bio“ draufschreiben. Genommen werden jedoch nur die schönen, fehlerfreien Exemplare. Daran ändert auch der Umstand nicht, dass an sich die Konsumenten bei Umfragen immer große Begeisterung über angeblich oder wirklich biologisch erzeugte Lebensmittel äußern (was „biologisch“ auch immer konkret bedeuten mag).

Als Käufer greifen sie jedoch höchstens dann zu Bio-Lebensmitteln, wenn diese optisch genauso schön wirken wie normale Produkte. Das geht natürlich am leichtesten, wenn sich das Produkt dem Konsumenten schön verpackt präsentiert, wie beispielsweise Yoghurt oder Milch. Dieses Verhalten wird wiederum vom psychologisch einfallsreichen Handel ganz gezielt genützt, um dem Konsumenten solche verpackten Bio-Produkte nun viel teurer zu verkaufen. Hingegen sind bei unmittelbar sichtbaren Angeboten wie Obst und Gemüse die meisten Bio-Bemühungen wieder weitgehend eingestellt worden. Hier verkauft sich nur strahlende Schönheit.

Das führt nun zu problematischen Folgen am Beginn der Lebensmittelproduktion, aber auch im Handel: Alles, was nicht so schön aussieht, wird erbarmungslos weggeschmissen, auch wenn es problemlos genießbar wäre. Dadurch wandert weit mehr als ein Drittel der einschlägigen Gewächse direkt auf den Komposthaufen.

Das kann man nun in Sonntagspredigten kritisieren und tadeln. Aber man sollte weder den Bauern noch dem Handel die Schuld daran geben, und auch nicht der EU. Entscheidend sind wie immer in einer freien Wirtschaft die Konsumenten. Also wir.

EHEC als Bio-Killer

Mitschuld an der geringen Popularität von biologischem Obst und Gemüse trägt aber auch die einstige EHEC-Infektion. Diese war direkte Folge einer biologischen Erzeugungsweise. An EHEC sind vor allem in Deutschland immerhin Hunderte Menschen schwer erkrankt. Was nur deshalb wenig ins Bewusstsein eingedrungen ist, weil die Medien die Berichterstattung drastisch hinuntergefahren haben, als der „Bio“-Zusammenhang klar wurde.

Unbestreitbar hat EHEC jedenfalls viel mehr Menschen unmittelbar geschädigt als die Zerstörung eines japanischen Atomkraftwerks durch einen Tsunami. Über diesen AKW-Unfall ist aber Tausendmal mehr berichtet worden als über EHEC. Und die Folgen sowie Kosten der dadurch ausgelösten deutschen Energiewende sind in ihren Dimensionen für ganz Europa noch gar nicht absehbar.

Noch einmal zurück zur Gurkenkrümmung: Die etwa rund um den österreichischen EU-Beitritt, aber auch in den Jahren nachher überdimensionale Beachtung des Themas zeigt, wie wenig die Intensität der öffentlichen Debatte mit der wirklichen Bedeutung korreliert.

Die einstige Gurken-Aufregung steht etwa in totalem Missverhältnis zum heutigen europäischen Desinteresse an den EU-Finanzen. Dabei müsste beispielsweise in diesen Tagen ein lauter Aufschrei über eine kräftige Erhöhung der europäischen Beamtenbezüge durch den Kontinent gehen. Diese Bezüge springen nämlich kräftig nach oben, weil sich die Mitgliedsländer nicht über die Verlängerung einer Solidaritätsabgabe für die Beamten einigen konnten. Das ist in Zeiten einer europaweiten Schuldenkrise und angesichts der auch nach Abzug der Solidaritätsabgabe enorm privilegierten Beamtengehälter eine unglaubliche Provokation.

Diese ist zumindest bisher völlig untergegangen.

Zigaretten-Schockbilder und Flughafen-Tarife

Viel interessanter wäre derzeit auch die Frage, ob es nicht viel schlauer wäre, den – unbestreitbar – schwer ungesunden Zigarettenkonsum durch Preiserhöhungen an Stelle der geplanten medizinischen Schockbilder zu bekämpfen. Das würde vor allem Jugendliche viel mehr abschrecken, die ja die entscheidende Zielgruppe bei Gesundheits-Initiativen sein müssten. Noch dazu, wenn man weiß, dass vor allem geldknappe Unterschichts-Jugendliche überdurchschnittlich anfällig fürs Rauchen sind. Postpubertäre Jugendliche kommen sich hingegen toll vor, wenn sie ihren „Mut“ zeigen können, indem sie trotz der von Brüssel künftig verordneten grauslichen Bilder rauchen.

Ebensowenig für Debatten sorgt der Widerstand von – auch österreichischen – Abgeordneten gegen mehr Wettbewerb bei der Bodenabfertigung von Flugzeugen. Die Kommission wollte durchsetzen, dass mindestens drei Bewerber im Rennen sein müssen, und hätte dafür unsere laute Unterstützung verdient. Den Abgeordneten genügen jedoch zwei. Das ist keineswegs eine bloß akademisch-bürokratische Frage. Denn den Unterschied zahlen die Konsumenten, also die Flugpassagiere. Und dass zwischen nur zwei Marktteilnehmern der Wettbewerb nicht gerade stark ist, sollte man auch im EU-Parlament bedenken.

Wir aber können über die merkwürdigen Mechanismen nachdenken, wann in Europa ein Thema zum Thema wird, und wann nicht. Die Gurkenkrümmung war jedenfalls das falsche Thema.

 

Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.

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