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Erst in wirklichen Krisen können sich Staaten und Institutionen bewähren. Bei Schönwetter haben hingegen auch brüchige und windschiefe Konstruktionen Bestand. Was ist da nun die Europäische Union: ein windschiefer Schönwetter-Bau oder eine Struktur, die zu Recht den Nobelpreis bekommt? Immer mehr Menschen fragen sich: Wie wird die EU die gegenwärtige Krise überleben? Kann sie, wird sie überleben? Was sich noch nicht alle eingestehen: Es ist absolut notwendig, Europa komplett neu zu denken. Denn es hat sich auf einen Irrweg begeben. Es gilt zu bewahren und auszubauen, was sich bewährt, aber auch rasch wieder abzustoßen, was sich nicht bewährt hat.
Dazu tut es einmal gut, in die Außensicht zu wechseln. Tatsache ist, dass in den entwickelten Ländern Europas, die nicht EU-Mitglieder sind, die Diskussion über einen Beitritt fast völlig verstummt ist. Von der Schweiz bis Norwegen hat man weitgehend das Interesse an einer Mitgliedschaft verloren. Die Schweizer feiern gerade im großen Konsens als Erfolg, dass sie vor 20 Jahren beschlossen haben, sogar dem Vorhof der EU, dem Europäischen Wirtschaftsraum, fernzubleiben. Damals war die Nein-Mehrheit noch relativ knapp. Heute wäre sie haushoch.
Aber auch in jenen Ländern, die viele EU-Bürger ohnedies nicht gerne in ihrem Verein gesehen hätten, ist das Interesse geschwunden: Von Russland bis zur Türkei orientiert man sich viel weniger an der EU als vor einem Jahrzehnt. Man geht lieber eigene – nationale, nationalistische – Wege. Russland lebt (noch?) sehr gut von den hohen Energiepreisen, und die Türkei weist ein eindrucksvolles Wirtschaftswachstum auf.
Lediglich die kleineren und notleidenden Staaten in der Zone dazwischen zeigen anhaltendes Interesse an einer Mitgliedschaft: von Albanien bis zur Ukraine, von Moldawien bis Bosnien. Diese und alle anderen Nicht-EU-Länder in diesem Raum bekommen ökonomisch die Füße nicht auf den Boden. Sie strampeln irgendwo im Niemandsland zwischen den alten KP-Diktaturen, neuen nationalistischen Autokratien und dem Status von Möchtegern-Demokratien herum. Sie erwarten sich von der EU-Mitgliedschaft Wunderdinge und die Heilung aller Probleme von Korruption bis Unterentwicklung, vom Versagen der Justiz bis zu ungelösten ethnischen Konflikten.
Für die diplomatischen Eliten Europas wird es freilich immer schwerer, den bisherigen Mitgliedern solche Länder als Bereicherung der Union zu verkaufen. Hängen doch schon etliche der jüngst beigetretenen Mitgliedsstaaten wie ein Bleigewicht an den Beinen der Union. Insbesondere gilt das für Rumänien, wo soeben eine schwer korrupte und anti-rechtsstaatliche Gruppierung einen triumphalen Wahlsieg errungen hat.
Diese Länder wollen das Geld des Westens, aber nicht dessen Spielregeln. Dennoch zeigt sich die EU-Diplomatie auch an deren Mitgliedschaft interessiert: Sie glaubt nämlich, dadurch eine Stabilisierung der Region und der diversen brodelnden Konflikte zu erreichen. Dass die Bürger der alten EU-Staaten das anders sehen, ist den europäischen Eliten ziemlich egal. Ebenso, dass die erhoffte Stabilisierung durch die Mitgliedschaft auch schon bei den zuletzt aufgenommenen Mitgliedern nicht funktioniert.
Aber jedenfalls sind die Beitritts-Ambitionen solcher Staaten noch keineswegs ein Erfolgssignal für die EU. Viel signifikanter ist, dass alle Nicht-Euro-Mitgliedsstaaten sämtliche Initiativen abgeblasen haben, die gemeinsame Währung zu übernehmen.
Am ernstesten sollte Europa aber das beobachten, was sich in Großbritannien abspielt. Im Inselreich ist ein Referendum über die eigene europäische Zukunft fast nicht mehr abzuwenden. Den Briten geht es dabei keineswegs nur um den Streit über die künftigen EU-Budgets und ihren eigenen Rabatt. Immer mehr Menschen, aber auch Abgeordnete fragen sich dort, ob man noch eine gute Zukunft in dieser Union hat. Würde Großbritannien aber die Union ganz verlassen, wäre das nicht nur für die Wirtschaft des Landes ein schwerer Schlag, sondern vor allem auch für die Union selber.
Wäre die Union gut beraten – also auch die anderen Mitgliedsstaaten und deren Abgeordnete – dann müssten sie sich viel ernsthafter mit den britischen Zukunftsvorstellungen befassen. Diese bestehen keineswegs nur in einem Entweder-oder. Vielen Briten schwebt ein Status vor, der sich ganz auf den europäischen Binnenmarkt konzentriert, auf den Rest aber verzichtet. Immerhin muss man London ja konzedieren, dass es den Binnenmarkt, also die Freiheit für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Menschen sehr korrekt umsetzt, während etwa Frankreich vielfach hinterherhinkt, obwohl es gerne so tut, als ob es der Erfinder Europas wäre.
Dieser Binnenmarkt ist eine historische Errungenschaft, die es in der Tat unbedingt zu retten gilt. Dabei ist auch ständig gegen vielfältige Versuche anzukämpfen, wieder kleine nationale Trennzäune zu errichten. Diese tarnen sich abwechselnd als ökologisch oder sozial, als kulturell oder sonst wie. Dahinter steckt aber fast immer der alte Protektionismus zu Lasten der Konsumenten und im Interesse einer kleinen Clique. Nur sehr rückständige Dummköpfe können ignorieren, wie sehr dieser Binnenmarkt den Wohlstand aller Europäer in den letzten Jahrzehnten gehoben hat, wie viele Millionen Arbeitsplätze verloren wären, wenn man die Unternehmen wieder in nationale Fesseln legen wollte.
Daher sollte man den Binnenmarkt auch in jenen Bereichen endlich abrunden, wo er noch immer nicht funktioniert: Etwa bei der Luftraumsicherung, im gesamten Eisenbahnbereich oder auch in den Regelungen des Straßenverkehrs. Das sind für einen Binnenmarkt wirklich essenzielle Bereiche.
Daher sollte man auch viel ernster das Projekt der Bush-Ära wiederzubeleben, den Binnenmarkt auch auf Nordamerika auszudehnen.
Ein verbesserter Binnenmarkt wäre noch viel problemloser, hätten nicht fundamentalistische europäische Behörden und Richter die Personen-Freizügigkeit extrem weit in Bereiche hinein ausgedehnt, wo sie keineswegs notwendig und sinnvoll ist. Viele diesbezügliche Regeln sind nicht nachhaltig anwendbar: Etwa der Anspruch von EU-Rentnern, in jedes EU-Land ihrer Wahl ziehen zu können, und dort automatisch die jeweiligen Mindestsicherungen zu bekommen (allein die österreichische Ausgleichszulage bringt vielen EU-Rentnern eine Versiebenfachung ihrer Rente); oder die extensive Praxis der Familienzusammenführung. Aber von dieser Problemzone abgesehen ist der Binnenmarkt wirklich eine sensationelle Errungenschaft, um die Europa zu Recht beneidet wird.
Als umso fragwürdiger erweist sich vieles andere, was in den letzten 20 Jahren dazugekommen ist. Als erstes Beispiel kommt einem dabei natürlich die Währungsunion eines Teils der EU-Staaten in den Sinn. Heute erkennt man, was kluge Menschen schon in den 90er Jahren gesehen haben: Ohne durchgreifende politische Union ist eine Währungsunion absurd. Solange jedes Land selber seine Budgetdefizite entscheidet, seine Steuersätze, sein Rentenalter, seine Mindestsicherung usw. kann eine Währungsunion nicht funktionieren. Die Ergebnisse dieses Realexperiments sollte langsam in alle Köpfe eingedrungen sein. Und zugleich sollten auch die naivsten deutschen und österreichischen Politiker erkennen, dass eine solche politische Union auf friedlichem Weg nicht durchsetzbar ist.
Aber nicht nur bei der Währungsunion drängt sich ein „Zurück an den Start, um Schlimmeres zu verhindern“ auf. Genauso fragwürdig ist die Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts. So wichtig eine Angleichung des Zivilrechts in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum ist, so absurd ist es, wenn man beispielsweise Mitgliedsstaaten verpflichtet, eigene Staatsbürger ans Ausland auszuliefern.
Genauso widersinnig ist es, von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu reden, wenn man neutrale Länder als Mitglieder hat, oder wenn man es stillschweigend hinnimmt, dass ein Nicht-EU-Staat einen bedeutenden Teil der Union völkerrechtswidrig besetzt hält. Die Situation in Nordzypern ist für eine Möchtegern-Weltmacht mit 500 Millionen Menschen nur noch peinlich. Entweder man hätte Zypern nie aufnehmen dürfen, oder man kann die volle Souveränität der EU durchsetzen.
Und was soll man von der Glaubwürdigkeit der EU halten, wenn sie sich als demokratisch ausgibt, aber ein völlig undemokratisch zusammengesetztes Parlament hat? Jeder deutsche Abgeordnete muss ja zwölf Mal so viele Wähler vertreten wie etwa einer aus Malta.
Am schlimmsten ist der manische Hang der Union, in ihrem Machtrausch ständig immer noch mehr Dinge zu regeln, für die sie niemals geschaffen worden ist. Die Beispiele reichen von der ständigen Verschärfung des angeblichen „Verhetzungs“-Tatbestands übers Nichtrauchen über Studienberechtigungen bis zum gerade wieder aktualisierten Versuch, allen Europäern wassersparende Armaturen vorzuschreiben. Diese sind nicht nur teurer, sondern nördlich der Alpen auch schädlich, wo es genug Wasser gibt, aber viele Rohrsysteme wegen zu geringen Wasserdurchlaufs verschlicken.
Vielleicht sollte man die Europäer an Joseph II. erinnern, der auch alles mögliche von oben neu reglementieren wollte und solcherart zum unbeliebtesten Herrscher geworden ist.
Die Konklusion: Für Europa wäre heute ein Weniger ein klares Mehr, das vielleicht sogar das Überleben der Union retten könnte. Manche klugen Europäer erkennen das auch langsam: So empfahl dieser Tage der österreichische Nationalbank-Chef Ewald Nowotny Europa mehr Pragmatismus. Er warnte davor, die Idee einer politischen Union zur Schicksalsfrage zu machen. Das klingt zumindest in Ansätzen sehr vernünftig.
Die Mehrheit der europäischen Politiker will aber weiterhin in eine falsche Richtung gehen. Sie versprechen zwar immer dann mehr Subsidiarität, wenn die Bürger zu sehr aufbegehren, praktizieren aber jahraus, jahrein das Gegenteil. Es wird Zeit, dass sich besonnene Europäer für das zu engagieren beginnen, was in Europa rettenswert ist.
PS.: Ach ja, und der Friedensnobelpreis? Der ist wohl nichts anderes eine gewaltige Verführung, den wirklichen Zustand Europas zu verdrängen. Er ist ungefähr so ernst zu nehmen, wie die Verleihung des selben Preises an Barack Obama in dessen erstem(!) Amtsjahr, bevor er weitere vier Jahre Krieg führte. Wenn die EU so weitermacht, wird sie selbst zur großen Friedensbedrohung.
Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.