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Die Spekulation mit der Spekulation

Eines der vielen Konstruktionsprobleme der Europäischen Union zeigt sich derzeit dramatisch an Hand eines österreichischen Beispiels: Die Mitgliedsstaaten sind zunehmend durch Sanktionen bedroht, wenn sie ihre gesamtstaatlichen Defizite nicht in den Griff bekommen, also einschließlich jener der Regionen, Provinzen und Gemeinden. In föderalistisch strukturierten EU-Staaten haben die Zentralregierungen aber meist gar keine Möglichkeit, die Defizite dieser anderen Körperschaften verbindlich zu limitieren, obwohl sie gegenüber der EU für diese haften. Das zeigt sich derzeit ganz stark an Hand des österreichischen Bundeslandes Salzburg. Die Republik Österreich hat bei ihren Bundesländern nicht nur keinen Durchgriff. Sie haben aber auch keinen Durchblick; noch weniger haben das die Steuerzahler. Das ist der zweite Skandal. Die Tatsache von „Spekulationen“ an sich ist es hingegen nicht. Die sind in Wahrheit in hohem Ausmaß unvermeidlich. Mit einer nachträglichen Ergänzung.

Die Ahnungs- und Hilflosigkeit von Bund und Bürgern gegenüber dem Treiben der Bundesländer hat sich vor drei Jahren auch schon in Kärnten dramatisch gezeigt. Damals war die Republik über Nacht mit der Tatsache konfrontiert, dass die dortige Landesverwaltung heimlich gewaltige Milliardenhaftungen für eine Bank eingegangen war. Deren Umfang wurde erst nach der Pleite der Bank und dann erst etappenweise bekannt.

Zuerst glaubte der damalige Finanzminister der Republik noch, es ginge „nur" um sechs Milliarden. Und er war schon über diese Dimension schockiert, hat doch Kärnten alljährlich ein Gesamtbudget von nur zwei Milliarden. Erst einige Wochen später wurde klar, dass die Haftungen über 18 Milliarden ausmachen. Was die Republik zwang, selbst die Bank zu übernehmen. Zumindest glaubte sie das.

Ist der Konkurs eines Bundeslandes des Teufels?

Andernfalls hätte sie – erstmals in der Geschichte – den Konkurs eines Bundeslandes und der Bank hinnehmen müssen. Mit allen Konsequenzen: Der Bankencrash hätte vor allem auf dem Balkan für eine Erdbeben gesorgt. Und in Kärnten hätten weder Lehrer noch Krankenschwester noch Straßendienst-Arbeiter ihr Gehalt bekommen; die Gläubiger hätten das sämtliche aufgreifbare Landesvermögen pfänden können. Dennoch wäre es vermutlich schlauer und für viele andere jedenfalls abschreckend gewesen, wenn der Bund die Bank und das Land nicht gerettet hätte, sondern direkt die Zahlungen für Krankenschwestern & Co übernommen hätte.

Noch viel schlimmer aber ist, dass daraus bis heute keine Lehren gezogen worden sind – höchstens unzureichende: Politik und Medien machten nämlich nur die Rettung oder Nicht-Rettung von Finanzinstituten zum Thema. Aber nicht die politische Verantwortung der Bundesländer.

Zwar hat schon vor dem Kärntner Crash die EU lobenswerterweise eine Notbremse gezogen: Politische Körperschaften dürfen seit einigen Jahren keine Haftungen mehr für Banken eingehen. Das Motiv der EU war freilich weniger die Stabilität dieser Körperschaften, sondern die Wettbewerbsverzerrung zwischen den Banken durch solche Haftungen.

Die restliche Misswirtschaft der Bundesländer ging jedenfalls ungehindert weiter. Das hat sich jetzt in Salzburg gezeigt: Da hat es Hunderte Derivatgeschäfte mit einer vorerst unbekannten Risiko-Dimension gegeben. Da sind über Nacht 340 Millionen Euro Verluste eingestanden worden. Da weiß niemand genau, wo 1,8 Milliarden geblieben sind, die man sich über den Bund ausgeborgt hat.

Was ist eigentlich unanständig?

Und es fehlt auch jetzt noch die notwendige Bereitschaft, ja Fähigkeit, den dringenden Handlungsbedarf zu erkennen. Lieber denkt man weiter parteipolitisch. Das zeigte sich etwa, als der österreichische Bundeskanzler der Finanzministerin der von ihm geführten Regierung „unanständiges Verhalten“ vorwarf, weil sie eine Troika nach Salzburg zur Untersuchung der dortigen Missstände entsendet. Offenbar sind in der österreichischen Realverfassung die Bundesländer sakrosankt – oder zumindest jeweils die von eigenen Parteifreunden geführten. Diese giftige Reaktion des Bundeskanzlers zeigt jedenfalls, wie schwer die Erschütterung der bisher zu den europäischen Vorzeigeländern zählenden Alpenrepublik durch die ständigen Bundesländer-Skandale ist.

Zugleich macht sich Österreich auch noch mit der Forderung nach einem „Spekulationsverbot“ lächerlich. Diese Forderung wurde aber nicht nur von Werner Faymann, sondern auch von vielen anderen Politikern und praktisch allen Zeitungskommentatoren erhoben. Ja, es gibt sogar Wirtschaftsprofessoren, die ein solches Spekulationsverbot verlangen.

Nur ist es dennoch populistischer Unsinn. Denn keine Regierung – ob Bund oder Land, ob EU oder Gemeinde – kommt bei ihrem Agieren mit Geld ohne Spekulationen aus. Notwendigerweise. Das trifft auch ganz konkret die Geschäfte der Bundesfinanzierungsagentur ÖBFA.

Die Spekulationen – auch – des Bundes

Diese ÖBFA muss etwa ständig entscheiden, zu welchem Zeitpunkt welche Anleihe auf den Markt gebracht wird. Nimmt man das Geld nur kurzfristig – beispielsweise über drei Monate – auf oder langfristig, beispielsweise über 30 Jahre? Geht man jetzt auf den Markt? Wäre ein anderer Zeitpunkt günstiger? Werden sich bis dahin die Marktbedingungen verbessern oder verschlechtern?

All diese Entscheidungen sind in hohem Ausmaß spekulativ, zumindest solange Politiker und ihre Beamten nicht die Gabe des Hellsehens haben. Und dennoch ist es unvermeidlich, ständig solche Entscheidungen zu treffen. Sie sind nichts anderes als eine ebenso gewaltige wie notwendige Spekulation, was am Ende für den Steuerzahler teurer respektive billiger kommt.

Noch teurer kann die Spekulation der öffentlichen Hand kommen, in welcher Währung sie denn den Kredit aufnimmt. Während die Normalbürger heftig kritisiert werden, wenn sie Frankenkredite aufnehmen, macht das die öffentliche Hand regelmäßig. So hat sie zuletzt sogar eine Anleihe in chinesischem Geld aufgenommen – und war auch noch mächtig stolz darauf. Vorteile wie Nachteile sind vielen Kreditnehmern bekannt: Ein Frankenkredit ist niedriger verzinst, man geht aber das Risiko ein, dass die Schweiz ihr Geld aufwerten muss (weil zu viele aus dem Euro in ihr Land flüchten) und dass man dann einen viel höheren Betrag in Euro zahlen muss.

Genauso muss der Staat spekulieren, wo er das Geld der Steuerzahler am besten zwischenverwahrt, bis etwa eine größere Zahlung (beispielsweise für die Rückzahlung einer alten Anleihe oder auch nur für das Weihnachtsgeld der Beamten) fällig ist. Denn eines ist derzeit gewiss: Wenn der Staat das Geld auf ein Sparbuch legt, ist es angesichts der gegenwärtigen Nullzinssätze jedenfalls am Schluss deutlich weniger wert. Womit die Politik selbst für die gegenwärtige politisch auf europäischer Ebene erwünschte Niedrigzinspolitik einen Teil der Strafe zahlt.

Dabei geht es angesichts der Beträge, die durch die Politikerhände laufen, immer um viele Millionen, die es zu gewinnen oder verlieren gibt. Selbst die Entscheidung, ob das Geld auf ein variables oder auf ein über einen Zeitraum fix verzinstes Sparbuch gelegt wird, ist spekulativ. Denn die Marktzinsen können sich ändern. Oder auch nicht.

Geradezu naiv ist der häufig gehörte Einwand, die öffentliche Hand brauche Gelder überhaupt nicht anzulegen, zu „horten“, da sie ohnedies verschuldet sei. Kein Mensch kann jedoch die Entwicklung der Steuerzahlungen vorhersehen. Diese differieren binnen weniger Monate je nach Konjunkturentwicklung oft um Milliarden gegenüber den Schätzungen. Und wenn der Staat immer erst am Monatsende schauen sollte, ob er genug Geld zur Bezahlung von Beamten und Pensionisten hat, dann muss er oft kurzfristige und besonders teure Zwischenfinanzierungen vornehmen.

Heißt das nun etwa, in Salzburg wäre alles ohnedies ordentlich gelaufen und die Verluste einfach nur Pech, die sich im großen Zeitrahmen meist mit Gewinnen ausgleichen würden?

Die Intransparenz ist der wahre Skandal

Ganz und gar nicht. Der wahre Skandal in Salzburg ist aber nicht die Spekulation an sich, sondern die völlig fehlende Transparenz.

  • Was hat ein Landesfinanzreferent den ganzen Tag getan, wenn er erst wochen- oder monatelang nachprüfen muss (diese Absicht hat er jedenfalls erklärt), ob und wo Hunderte Millionen verloren gegangen sind?
  • Was ist das für eine Verwaltung, die sich 1,8 Milliarden bei der Bundesfinanzierungsagentur ausleiht, und die nicht auf Knopfdruck feststellen kann, wo das Geld eigentlich geblieben ist?
  • Was ist das für ein Bundesland, das erst von den Banken erfährt, wenn Hunderte Derivat-Verträge abgeschlossen worden sind?
  • Kann wirklich eine einzige Person über ein so gewaltiges Pouvoir verfügen?
  • Was sitzen im Bundes- und Landesrechnungshof für Wappler, dass sie einen so gewaltigen Missbrauch nicht merken, während sich die gleichen Prüfer jahrelang mit Vorliebe in oft völlig unbedeutende Details vertiefen?

Das alles ist unerträgliche Unfähigkeit und Intransparenz zur Potenz.

Viele Derivate sind sehr sinnvoll

Dahinter steckt aber noch etwas Schlimmeres.

Vorerst eine Zwischenbemerkung zur Erläuterung: Natürlich gibt es Spekulationen mit sehr unterschiedlichem Risiko. Bei einem Sparbuch ist dieses nach oben und unten halbwegs begrenzt (außer die betreffende Bank macht Pleite!). Viel riskanter können hingegen so mache Derivate sein. Nur habe ich bisher keine wirklich brauchbare Definition gelesen, wann ein solches Derivatgeschäft „gut“ und wann es eindeutig „böse“ ist.

Jedenfalls wäre ein absolutes Verbot absolut unsinnig. Oder will man einer Fluglinie verbieten, sich gegen das Steigen der Treibstoffpreise etwa in der Urlaubssaison durch Derivate abzusichern, obwohl sie schon Monate vorher viele Tickets verkauft hat, wobei die Kalkulation von einem bestimmten Preis ausgegangen ist? Wenn jedoch, wie jüngst, die Treibstoffpreise sinken, dann erweist sich dieses Absicherungsgeschäft im Nachhinein als verlorener Aufwand.

Zugleich gibt es aber auch Derivatverträge ohne jeden Absicherungscharakter. Solche Verträge bringen oft sehr gute Erträge, können aber auch furchtbar schief gehen. Beispiel: Wenn man darauf wettet, dass eine Schiffsladung gut und heil ankommt, dann kann man damit gut verdienen (nämlich an den von der Gegenseite, dem Reeder, gezahlten Absicherungsprämien). Man kann aber am Ende auch furchtbar draufzahlen, wenn etwa das Schiff in die Hände somalischer Piraten gerät.

Die Geschäfte werden immer risikoreicher

Das Schlimme ist nun: Die öffentliche Hand hat in ihrer Geldnot – zum Teil auch von Rechnungshof & Co dazu angeleitet! – in den letzten Jahren immer stärker zu solchen riskanten Geschäften gegriffen. Diese sind zugleich in der finanziellen Konstruktion immer komplizierter und schwerer durchschaubar geworden (die Schiffsversicherung via Derivat war nur ein relativ simples Beispiel).

Diese Konstruktionen haben meist den Vorteil, dass vorerst Erträge fließen, während das Risiko erst am Ende schlagend wird oder auch nicht. Das ist nun für Politiker ebenso verlockend, wie es für den Steuerzahler riskant ist. Ein Politiker kann solcherart kurzfristig seine Performance optisch verbessern. Und er kann bis zum letzten Tag hoffen, dass alles gut geht. Oder er kann zumindest das Risiko verdrängen.

Der Entscheidungshorizont eines Politikers ist aber meist viel kurzfristiger. Der reicht meist nur bis zum nächsten Budget oder den nächsten Wahlen. In dieser Perspektive kann er die Bürger mit neuen attraktiven Wohltaten versorgen wie etwa mit billigen Wohnbaukrediten oder sozialen Diensten, für die er am Wahltag eine Bonus erhofft. Solche Risikogeschäfte erhöhen zum Unterschied von normalen Kreditaufnahmen nicht einmal die offiziell ausgewiesene Staatsverschuldung.

Vorerst. Denn die Sintflut droht erst später. Sie kann aber auch ausbleiben, und die Wähler haben gar nichts von der drohenden Gefahr gewusst.

Genau aus diesem Grund wäre ja Transparenz bei allen Finanztransaktionen so wichtig. Und genau aus diesem Grund tun Politiker alles, um jede Transparenz zu vermeiden – wobei sie so weit gehen, dass sie sogar ihre Herstellung als „unanständig“ bezeichnen.

Nachträgliche Ergänzung: Drastischer hätte man die Ahnungslosigkeit der Politik über das Risiko einer Spekulation gar nicht beweisen können, als Sozialminister Hundstorfer in einem nach dem Tagebucheintrag erschienenen Interview: "Ob ich einen Kredit in Dollar, in Euro oder in Franken nehme, ist nicht Spekulation." Und das Wochen nach der Salzburger Katastrophe! Dieser Mann soll in der Regierung die Veranlagungsrichtlinien ausarbeiten! Oder werden jetzt alle, die bei Fremdwährungskrediten viel Geld verloren haben, vom Sozialminister finanziell entschädigt? Aber vielleicht ist es ja schon "unanständig", einen Minister auf seine totale Ahnungslosigkeit hinzuweisen…

Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.

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