Ganz Europa hat bis zuletzt atemlos das Rennen Obama-Romney verfolgt. Warum eigentlich? Primär weil das weltweite Mediensystem in jeder Frage stark amerikalastig ist. Das sieht man etwa an den riesigen Berichten über die Hurrikan-Schäden in den USA, während das schwerer getroffene Haiti nur einspaltig behandelt worden ist. Dazu kommt, dass amerikanische Präsidentenwahlen dramaturgisch sehr spannend aufgebaut sind; sie eskalieren von den ersten Wahlkämpfen für Primaries bis zur Analyse jedes einzelnen „Swing“-Staates über ein Jahr. Dennoch ist die in Europa erfolgende Überbetonung dieses Wahlgangs eine Verzerrung der wirklich Wichtigkeiten.
Denn erstens ist ein amerikanischer Präsident gegenüber dem US-Kongress erstaunlich schwach, also gar nicht so mächtig, wie wir glauben. Zweitens sind die sachlichen Entscheidungen, vor denen die USA stehen, viel wichtiger und spannender als jede Personalfrage. Und drittens sind wir im 21. Jahrhundert angekommen: Amerika war zwar „die“ Supermacht des 20. Jahrhunderts; Jetzt steht ihm jedoch – so wie Europa – mit hoher Gewissheit eine Epoche des ständigen Abstiegs bevor, während Asien zum Zentrum des Globus wird.
Gewiss: Dieser amerikanische Abstieg findet auf einem vorerst noch immer sehr hohen Niveau statt. Aber sowohl wirtschaftlich wie demographisch wie außenpolitisch stehen die USA und damit auch ihr nächster Präsident vor in Wahrheit nicht bewältigbaren Problemen – egal wie der Präsident nun heißt. Daher ist es auch viel wichtiger, sich mit diesen Problemen zu befassen als mit irgendwelchen Versprechern oder auch Versprechungen der Kandidaten während des Wahlkampfs. Oder mit deren Religion, oder ihrem privaten Reichtum.
Welcher der beiden auch immer es wird: Er ist mit einem Parlament konfrontiert, in dem zumindest derzeit in jeder Kammer eine andere Partei die Mehrheit hat. Und selbst wenn die Partei des Präsidenten überall die Mehrheit hätte, kann die Opposition ihr und dem Präsidenten vor allem durch Filibustern – also durch ein die Abstimmung verhinderndes Dauerreden – das Leben weit schwerer machen, als es je eine österreichische Oppositionspartei gegen die Regierungsmehrheit könnte. Lediglich beim Kriegführen ist ein Präsident erstaunlich frei.
Eine Außenpolitik voller Herausforderungen
Amerika und sein Präsident stehen in den nächsten Jahren vor einer Fülle außenpolitischer Herausforderungen, die kaum zu bewältigen sind. Die da im Wesentlichen sind:
- Wie organisiert man den – aus finanziellen und innenpolitischen Gründen unvermeidlichen – Rückzug aus Afghanistan so, ohne dass dort binnen kurzem die radikalen Taliban mit ihrer Nähe zum Terrorismus die Macht übernehmen? Von deren Frauenhass und sonstigen steinzeitlichen und menschenrechtswidrigen Vorstellungen gar nicht zu reden. Diese Perspektive erinnert stark an die Machtübernahme der Kommunisten nach dem amerikanischen Abzug aus Südvietnam, der nicht nur alle Anstrengungen des Vietnamkrieges zunichte gemacht, sondern auch die USA selber in die jahrelange Depression der Carter-Ära gestürzt hat.
- Wie geht man mit dem bedrohlichen und aggressiv antiamerikanischen Iran um? Israel meldete zwar zuletzt von dort ein überraschendes Einschwenken. Langfristig bleibt die Lage aber weiterhin explosiv.
- Wie reagieren die Amerikaner auf den immer mehr eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien, der auch etliche Nachbarländer zu involvieren droht? Sie haben bisher zwar klare Sympathien für die Aufständischen gezeigt, sich aber sonst herausgehalten. Was aber immer schwerer wird. Interessanterweise rufen vor allem jene nach einem Eingreifen der USA, die sonst immer heftig gegen amerikanischen Interventionismus protestieren.
- Wie geht man mit dem vorstoßenden Islamismus um? Schaffen es die Amerikaner, insbesondere das strategisch wichtige Ägypten weiterhin durch viel US-Steuergeld zu einem verantwortungsbewussten Verhalten zu bewegen?
- Gelingt es, den sich steigernden Antagonismus zwischen Arabern und Israel noch unter Kontrolle zu halten? Ein neuer Konflikt würde die USA geradezu unweigerlich massiv involvieren.
- Wie entwickeln sich die völlig unberechenbaren Atombombenbastler in Nordkorea mit ihrem Terror- und Hunger-Regime weiter? Dort stehen amerikanische Soldaten so unmittelbar wie nirgendwo sonst an einer Grenze, die durch einen kleinen Funken zu einer heißen Front werden könnte.
- Kann man den zunehmend auf Antiamerikanismus setzenden russischen Machthaber Putin wieder zu Kooperation und einer Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaat motivieren?
- Und noch heikler: Wie wird das Verhältnis zur rapide nach oben strebenden Weltmacht China? Etliche Anzeichen deuten darauf hin, dass China zunehmend zu Konfrontationen mit seiner Umgebung bereit ist, etwa im Streit um angeblich ölreiche Inseln. Chinas Nachbarn Taiwan, Südkorea und Japan haben aber amerikanische Sicherheitsgarantien. Zugleich ist fast die gesamte amerikanische Industrie durch den Eroberungsfeldzug chinesischer Imitatoren und die Billigarbeitsplätze in ganz Ostasien bedroht.
Europa ist nicht mehr so wichtig
Das sind die zentralsten Probleme und Herausforderungen des bisherigen Weltpolizisten im Bereich der Außenpolitik. Es ist kein Zufall , dass die beiden für die USA lange dominierenden Regionen in dieser Liste gar nicht vorkommen: Europa und Lateinamerika. Diese sind für Washington einfach nicht mehr so wichtig, wie sie früher stets waren.
Das muss man langsam auch in Europa begreifen. Wenn an den Rändern Europas Konflikte auflodern, verlangen die USA zunehmend, dass sich Europa selbst darum kümmert, siehe Balkan, siehe Tunesien. Seit sich die Amerikaner kaum noch vor den Russen fürchten, wollen sie sich in regionalen Fragen selber nicht mehr wirklich engagieren. Diese Aufmerksamkeits-Verschiebung zeigt den Europäern aber auch ihre eigene wirtschaftliche und militärische Schwäche sowie das Fehlen eines politischen Gewichts.
Eine kluge europäische Sichtweise sollte jedenfalls etwa dem bevorstehenden Machtwechsel in Peking ähnlich viel Aufmerksamkeit widmen wie den US-Wahlen – auch wenn dort die Vorgänge viel intransparenter sind. Aber dort werden jedenfalls entscheidende Weichen gestellt.
Innenpolitik zwischen Schulden und Immigration
Wenn wir zu den die innenpolitischen Sorgen und Herausforderungen wechseln, zeigt sich, dass es da für den nächsten US-Präsidenten noch weniger Aussichten auf leichte Lösungen gibt als in der Außenpolitik.
- Die größte und eigentlich nicht bewältigbare Herausforderung ist zweifellos die enorm gestiegene Staatsverschuldung. Diese ist schon unter George W. Bush steil nach oben gegangen und dann unter Obama endgültig explodiert. Die amerikanische Schuldenquote liegt ja mit über 110 Prozent des BIP weit über jener der Eurozone – und sogar über jener der Krisenstaaten Portugal und Irland. Und wenn man die Staatsschulden pro Einwohner berechnet, sind sie sogar doppelt so hoch wie in der Eurozone. Als europäischer Staat hätten die USA daher schon längst ihre Kreditfähigkeit verloren. Sie stehen nur aus folgenden drei Gründen noch nicht so im Scheinwerferlicht.
- Ihre Notenbank druckt hemmungslos inflationsförderndes Geld, während die EZB durch vertragliche Stabilitätsregeln dabei noch etwas gebremst wird.
- Der Dollar dient weiterhin als Weltreservewährung Nummer eins (da China&Co ihre Währungen nicht konvertibel machen). Das bedeutet, dass all die weltweiten Notenbanken, die Dollar-Pakete in ihren Tresoren haben, den USA damit automatisch einen zinsenlosen Gratiskredit geben;
- Die USA haben lange nicht so viel versteckte („implizite“) Schulden wie die Europäer, weil der Staat sich strikt aus der Wirtschaft fernhält; und weil das amerikanische Pensionssystem weitgehend privat ist. Für die Altersversorgung der Amerikaner wurden in zahllosen Fonds von den künftigen Pensionisten Milliarden angespart. In den meisten europäischen Ländern wurde hingegen gar nichts angespart – und dennoch wurden zu Lasten künftiger Budgets üppige staatliche Pensionsversprechen abgegeben.
- Die finanzielle Ungewissheit wird dadurch vergrößert, dass am 31. Dezember ein ganzes Paket von befristeten Steuer- und Abgaben-Senkungen aus der Bush-Zeit abläuft. Die beiden einander unversöhnlich gegenüberstehenden Parteien haben sich in keiner Weise über die Frage angenähert, wie es damit weitergehen soll. Seit drei Jahren liegt zwar der sogenannte Simpson-Bowles-Kompromiss auf dem Tisch des Kongresses. Dieser sieht eine breitangelegte Mischung aus Steuerreformen und Ausgabenbeschränkungen vor. Nur gibt es bis heute keine politische Einigung dazu.
- Zahllose Regierungsprogramme sind eigentlich außer Kontrolle geraten und dringend erneuerungsbedürftig. Nur gibt es auch dazu keinen Kompromiss. Ein Beispiel sind etwa die vielen lebenslangen Sozialleistungen für Armee-Veteranen, die immer mehr kosten.
- Zugleich beginnen mit 2013 die Zwangsabgaben für Obamas allgemeine Gesundheitsversicherung. Das löst eine weitere Abgabenbelastung und Verunsicherung für Investoren aus.
- Auch das Pensionssystem bräuchte eine Reform – in den USA verlangen die Experten dringend, das Antrittsalter von 67 auf 68 Jahre zu erhöhen. Das wäre notwendig, auch wenn in Europa das Antrittsalter fahrlässigerweise nicht einmal noch überall bei wenigstens 60 Jahren liegt. Und gerade macht sich das griechische Verfassungsgericht daran, die dortige – erzwungene – Erhöhung auf 67 Jahre wieder zu annullieren.
- Ein besonders heißes Thema ist die Einwanderungspolitik. Als Reaktion auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 wurden die Visa für Fachkräfte von 200.000 auf 65.000 pro Jahr heruntergefahren. Das wirkt sich negativ auf etliche Branchen aus. Es gibt auch fast keine Verbleibe-Möglichkeit für die rund 300.000 ausländischen Studenten in den USA nach Absolvierung ihres Studiums, obwohl die sehr teuer ausgebildet worden sind. Zugleich drängen aber weitere illegale Immigranten aus Lateinamerika in die USA, die fast alle wenig Ausbildung hinter sich haben. Das alles steht vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Nachfahren europäischer Einwanderer dabei sind, zur Minderheit in den USA zu werden. Daher sind einerseits in großen Teilen der Bevölkerung Anti-Immigrations-Maßnahmen sehr populär. Auf der anderen Seite dürften die Stimmen vieler nichteuropäischer Zuwanderer mit Staatsbürgerschaft (etwa durch Geburt auf US-Boden) schon den Wahlsieg Barack Obamas entscheiden. Wird dieser doch unter den weißen Amerikanern nur von 30 Prozent unterstützt.
- Ebenso heiß wird die Energiepolitik. Gewaltige Funde von Ölschiefer-Gasen könnten Amerika zum Export-Land machen. Nur kämpfen immer mehr Umweltgruppen gegen die dabei notwendigen aggressiven Abbaumethoden. Gewinnen die Demokraten die Wahlen, werden sie auch neuerlich versuchen, wieder das Kyoto-Protokoll zu pushen, das den Klimawandel beeinflussen soll. Und last not least wird auch die Atomenergie ein umstrittenes Thema bleiben.
Ob es der Sieger schaffen wird oder überhaupt kann, in all diesen Herausforderungen zu bestehen? Es ist jedenfalls schade, dass sie im amerikanischen Wahlkampf weitgehend untergegangen sind. Diese Themen wurden in der europäischen Berichterstattung noch viel mehr vernachlässigt, die sich wie bei einem Sportereignis auf den Wettkampf an sich konzentriert. Die sich lieber für einzelne verbale Hoppalas der Kandidaten oder für die Frage interessiert, welcher First-Lady-Typ einem sympathischer wäre: die emanzipierte und politisch ambitionierte Frau Obamas oder die sich ganz auf ihre Aufgabe in der Familie konzentrierende Frau Romneys . . .
Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.
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