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Frankreich: Die Richtungswahl des nächsten Crash-Kandidaten

Es ist oft schwer verständlich, wie viele Sende- und Zeitungsfläche die europäischen Medien jedem einzelnen Vorwahlergebnis in Amerika spendieren, und wie relativ wenig Aufmerksamkeit selbst den großen europäischen Staaten gewidmet wird. Dabei wage ich zu sagen: Alleine Frankreich, das schon im April und Mai wählt, ist für die Zukunft Europas wichtiger als alle amerikanischen Vor- und Präsidentenwahlen zusammen.

Denn wir leben ja zum Glück nicht mehr in Zeiten, da das amerikanische Eingreifen einen Weltkrieg entscheidet. Denn wir leben in einer Epoche, wo unser aller Schicksal mindestens ebenso stark von der Europäischen Union wie von den nationalen Regierungen entschieden wird, aber viel weniger von irgendwelchen Entscheidungen Washingtons. Und in der EU erfolgt die entscheidende Willensbildung seit Jahrzehnten durch den deutschen Bundeskanzler und den französischen Präsidenten.

Da mag sich die EU selber noch ein weiteres Dutzend einander eifersüchtig beobachtender Präsidenten für Kommission, Rat oder Euro-Gruppe etc. geben: Das letzte Wort bleibt in Paris und Berlin. Ganz Europa respektiert das, weil es keine funktionierende Alternative gibt. Geschichtsbewusste schätzen das auch deshalb, weil der frühere Antagonismus zwischen den beiden Völkern über zwei Jahrhunderte Europa regelmäßig schwere Konflikte und millionenfachen Tod beschert hat.

Frankreichs Präsidentenwahl ist auch deshalb besonders spannend, weil Nicolas Sarkozy ein impulsiver und überehrgeiziger Politiker ist, dem man vieles Negative nachsagen kann, aber nicht, dass er langweilig oder feige wäre. Noch spannender wird das Rennen dadurch, dass nicht weniger als fünf Kandidaten Chancen haben, zweistellige Prozentanzahlen zu erreichen, und weil es daher mit fast absoluter Sicherheit eine Stichwahl geben wird.

Ein Staatssozialismus nähert sich dem Crash

All diese – fast hätte ich gesagt: sportlichen – Aspekte verblassen aber hinter der wirtschaftlichen Bedeutung. Denn das zweitgrößte Land Europas befindet sich in einer extrem fragilen Position. Ein größerer Crash in Frankreich hätte aber ganz andere Folgen als etwa die griechische Krise der letzten drei Jahre. Und ein solcher Crash hat eine ziemlich große Wahrscheinlichkeit, wenn man sich die französische Realität näher anschaut.

Die wichtigste Ursache der französischen Krise ist die enorm große Rolle des Staates in der Wirtschaft. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit des Landes und seiner Industrien im Lauf der Jahre stark reduziert und die Budgetdefizite stark erhöht. Zugleich haben frühere sozialistische Regierungen etwa durch die Einführung der 35-Stunden-Woche mit populistischen Maßnahmen die französischen Unternehmen belastet. Das wurde von den Gaullisten nicht mehr zurückgenommen. Stehen doch auch sie in einer starken sozialetatistischen Tradition. Ist doch die Rücknahme sozialer Ansprüche in fast keinem Land ohne enormen Widerstand durchsetzbar.

Der französische Staat ist wie ein Luftballon aufgeblasen, der mit einem Reißnagel zum Platzen gebracht werden kann. Frankreich hat heute rund 5,5 Millionen Staatsbedienstete. Das sind um 18 Prozent mehr als vor einem Jahrzehnt. Das ist auch eine halbe Million mehr als in Deutschland (obwohl in der Bundesrepublik 19 Millionen mehr Menschen wohnen als in Frankreich). Der französische Staat kontrolliert darüber hinaus ganze Industriebranchen; er ist an mehr als 800 meist großen Unternehmen signifikant beteiligt.

Zugleich lebt Frankreich in einem höheren Ausmaß als die allermeisten anderen Länder nur vom Konsum, der durch staatliche Schuldenmacherei finanziert wird. Die offiziellen Staatsschulden: Österreich 73 Prozent, Frankreich 86 Prozent. Dabei machen die inoffiziellen – „impliziten“ – Verpflichtungen etwa aus dem generösen Pensionssystem noch ein Vielfaches dieser Werte aus, werden jedoch nirgendwo exakt gemessen. Auch die Staatsausgabenquote (als Anteil am BIP gemessen) ist mit 56 Prozent höher als im ebenfalls ausgabenfreudigen Österreich (52 Prozent), und gleich um zehn Prozentpunkte höher als in Deutschland oder auch Italien.

Deutschland produziert viel billiger

Fast notgedrungene Folge dieses Staatssozialismus: Die Arbeitslosigkeit beträgt 10 Prozent, und von den Jugendlichen ist schon jeder vierte arbeitslos. Dennoch ist bisher jeder Versuch, die Beschäftigungsquote durch eine Liberalisierung des überregulierten Arbeitsmarktes zu erhöhen, sehr rasch immer an aggressiven Demonstrationen und Streiks von linken Gewerkschaften und Studenten gescheitert. Die Profiteure in den diversen staatlich geschützten und gestützten Sektoren sind einfach nicht willens, in eine Wettbewerbswirtschaft zu wechseln. Warum sollten sie auch auf persönliche Vorteile verzichten? Die Folge: Kaum noch ein Arbeitgeber ist willens, neue Arbeitsverträge zu diesen Gewerkschaftsbedingungen zu schaffen.

Denn die Arbeitskräfte sind nicht nur unkündbar, sondern auch teuer, vor allem im letzten Jahrzehnt haben sich die Kosten für Arbeitgeber stark erhöht. Dazu kommen hohe Steuern auf jeden Arbeitsplatz. Heute sind die totalen Kosten für eine Arbeitsstunde in Frankreich um 41 Prozent höher als in Deutschland. Das führt dazu, dass immer mehr, vor allem junge Menschen wenn überhaupt nur noch kurzfristig limitierte Arbeitsplätze finden.

Frankreich agiert zwar heute als eine Führungskraft der EU. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb? – hat das Land es geschafft, große Wirtschaftsbereiche gegen die Herausforderungen, die kurzfristigen Schmerzen, damit aber auch die langfristigen Vorteile eines gemeinsamen Binnenmarktes abzuschotten. Dies gilt insbesondere für die französische Landwirtschaft, aber auch für alle Sektoren, die sich als kulturell ausgeben können.

Und ganz besonders gilt das für die großen französischen Strom- und Telekomkonzerne. Diese sind in den letzten Jahren im Ausland auf große Einkaufstour gegangen, haben aber im Inland jede Konkurrenz für ihre Monopole abwenden können. Vor allem der Stromriese EDF hat dabei freilich durch die günstige Atomstromproduktion auch einen echten Wettbewerbsvorteil gegenüber den von den Atomgegnern lahmgelegten Konkurrenten. Diese Nuklearindustrie hat zweifellos mitgeholfen, dass das französische Wohlfahrtsmodell bisher noch nicht kollabiert ist.

Der Immobilismus der Eliten

Zugleich hat Frankreich eine lange Tradition linksradikaler Intellektueller, welche weit wirklichkeitsfremder sind als etwa die deutschen Sozialdemokraten. Aber auch die weniger radikalen Eliten haben nicht wirklich versucht, die Nation von der Notwendigkeit irgendwelcher Änderungen zu überzeugen. Sie selbst leben ja in dem Immobilismus des französischen Modells nach wie vor gut.

Die Eliten des Landes von links bis rechts tun sich auch nach wie vor schwer mit dem Gedanken, dass Frankreich heute nur noch ein mittelgroßes Land und keine Weltmacht mehr ist. Diese Fixierung auf eine große Vergangenheit behindert aber zweifellos eine echte Zuwendung zur Zukunft.

Auch die starke Zentralisierung des Staates erweist sich immer mehr als eine unheilvolle Tradition. Sie erschwert Flexibilität und Vielfalt. In der Geschichte hat sich bisher immer staatlich gelenkte Industriepolitik als langfristig dem freien Wachstum der Ideen unterlegen erwiesen.

Eine schwere Last für Frankreich ist die große Zahl von Einwohnern, deren Wurzeln in Afrika liegen. Sie haben zwar großteils die französische Staatsbürgerschaft; sie haben aber nur in kleinen Minderheiten zum bildungsmäßigen und zivilisatorischen Standard der Mehrheitsbevölkerung aufschließen können. Sie sind daher nicht nur in besonders hohem Ausmaß arbeitslos, da die meisten einfachen Jobs verschwunden sind. Diese Menschen sind daher eine wachsend aggressive Kraft einer sozialen Destabilisierung. Bisher schien es in Frankreich wenigstens weniger gefährliche islamistische Netzwerke zu geben als etwa in Großbritannien. Das jüngste Blutbad vor einer jüdischen Schule in Toulouse lässt jedoch nun auch in diesem Punkt eine negative Entwicklung befürchten.

Sarkozy: Reden statt Handeln

Sarkozy hat vor fünf Jahren den Eindruck erweckt, als einer der ersten Spitzenpolitiker die französische Krankheit voll diagnostiziert zu haben. Aber er hat dann als Präsident – obwohl im eigenen Land viel mächtiger als der jeweilige deutsche Kanzler in seinem – fast nichts für eine Therapie getan. Sarkozy hat viel geredet und wenig gehandelt.

Zuerst haben die niedrigen Zinsen das anhaltende Schuldenmachen noch erleichtert. Und dann kam die Krise. In dieser hat sich das Defizit für die enormen Sozialausgaben automatisch rasch erhöht, während die Struktur- und Wachstumsreformen erst recht nicht angegangen wurden. Daher fehlt Sarkozy fast jede Glaubwürdigkeit, wenn er jetzt – in der Krise und im Wahlkampf – plötzlich wieder von energischen Reformen redet.

Allerdings: Keiner seiner Konkurrenten scheint auch nur in der Theorie die Reformnotwendigkeiten erkannt zu haben. Die meisten wollen sogar das Schulden-Füllhorn noch weiter über den Wählern öffnen, versprechen noch mehr Wohlfahrt, wollen marode Industrien durch neue Schulden retten. Und sie meinen weiterhin, dass sich schon alles irgendwie ausgehen wird. Oder sie glauben, dass die Deutschen (und einige andere) wie in den letzten Jahrzehnten dafür zahlen werden.

Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.

 

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