Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (13 Euro pro Monat/130 pro Jahr) ist jederzeit beendbar und endet einfach durch Nichtzahlung. 

weiterlesen

Erster Weltkrieg - da war doch was?

Der weltweit letzte Soldat, der noch im ersten Weltkrieg gekämpft hat, ist in der Vorwoche gestorben. Wenn jemand 110 Jahre alt wird, ist das kein Anlass mehr zu individueller Trauer. Aber sein Tod sollte statt dessen zum Anlass genommen werden, sich endlich wieder eines schon fast vergessenen, aber umso wichtigeren Krieges zu besinnen. Der erst mit diesem Tod wirklich Geschichte geworden ist.

Es ist ja mehr als erstaunlich, wie viel seit Jahrzehnten über den zweiten Weltkrieg geforscht, publiziert, polemisiert und bewältigt wird. Und wie wenig jedoch der erste Weltkrieg im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Obwohl er deutlich mehr Opfer als der zweite gefordert hat (wenn man die nationalsozialistischen und die kommunistischen Massenmorde in Konzentrationslagern und Gulags nicht einberechnet). Obwohl eine sehr ernsthafte Sichtweise den zweiten eigentlich nur als Fortsetzung des quasi unterbrochenen ersten Weltkriegs ansieht.

Das hat manches für sich, insbesondere zeigen die deutschen Revanche-Gedanken eine Zusammengehörigkeit der beiden Kriege. Diese Revanche-Lust hat ja auch einem Adolf Hitler geholfen, an die Macht kommen. Hitler hat die deutsche Niederlage und den Zorn über die demütigenden Friedensbedingungen der Vororteverträge brutal für seine Machtaspirationen missbraucht. Ähnlich sind ja übrigens in einer Art demagogischer Kettenreaktion die Verbrechen Hitlers noch 70 Jahre später für politische Agitation missbraucht worden, so als könnte man sie rückwirkend verhindern.

Damit aber wird die selten gestellte Frage noch viel wichtiger: War der erste Weltkrieg eigentlich unvermeidlich? Als Antwort wurde von Historikern so manches an Details zutage gefördert, das andeutete, die Geschichte hätte ja auch ganz anders laufen können. Motto: Wenn Franz Ferdinands Fahrer in Sarajewo anders gefahren wäre, hätte auch die Weltgeschichte eine andere Wendung genommen. Oder: Hätte sich Rudolf nicht in Mayerling umgebracht usw.

In Wahrheit aber war der Krieg wohl unvermeidlich, was auch immer letztlich der konkrete Zündfunke war. Die Kriegsschuld kann nicht so einfach auf einen einzigen Mann abgeschoben werden, wie es so mancher dann in Hinblick auf den zweiten Krieg Richtung Adolf Hitler versucht hat. 

Es ist sehr lehrreich, sich die Hauptursachen des ersten Weltkriegs in Erinnerung zu rufen: Europa hatte 1914 längst die Lektion aus dem Dreißigjährigen Krieg verlernt, dass am Schluss eines großen Krieges alle nur noch Verlierer sind. Gerade die letzten – relativ! –  kurzen Kriege des 19. Jahrhunderts haben ja noch den Anschein von Kriegs-Siegern erzeugt. Das zweite Deutsche Reich und Italien sind als Produkt von Siegen in diesen Kriegen entstanden. Das hat nicht gerade ein pazifistisches Klima geschaffen.

Deutsche wie Italiener hatten auch nach ihrer eigentlich geglückten nationalen Vereinigung weitere aggressive Pläne. Die Deutschen wollten weltweit zur Nummer eins aufsteigen, die Italiener gierten nach dem Brenner, nach Dalmatien und so wie die Deutschen nach Kolonien. Auch für die Briten und Franzosen war insbesondere in den Kolonien der Krieg die fast normale Fortsetzung der Politik und der wirtschaftlichen Interessen. Gleichzeitig brodelten in Frankreich die Revanchegefühle ob des Verlust von Elsass-Lothringen. Und das absolutistische Russland wie wohl auch Österreich-Ungarn waren innerlich schon so morsch, dass sie sich im „Stahlbad“ eines Krieges geradezu eine Stabilisierung erhofften.

Ein weiterer fast historisch zwingender Kriegsgrund waren die im 19. Jahrhundert überall und nicht zuletzt im Habsburgerreich erwachten Nationalgefühle auch relativ kleiner Nationen. Denen stand der oft überhebliche Chauvinismus der Großen gegenüber.

Nichts davon aber passte noch mit einer Welt zusammen, in der die Monarchen ihre Herrschaftsgebiete durch willkürliche Grenzziehungen, durch Kriege, durch Erbschaften, Heiraten und Erbteilungen erworben hatten. Die Sprache, die Kultur, die Religion, die Gefühle der Untertanen – das waren für diese Herrscher hingegen lange völlig unbedeutende Faktoren. Was sich aber die national erwachten Völker immer weniger gefallen ließen.

Das alles kreuzte sich mit zwei Explosionen: der industriellen und der Bevölkerungs-Explosion. Die als totaler Kontrast zur althergebrachten bäuerlichen und zünftlerischen Gesellschaft aufgeblühte Großindustrie produzierte gigantisches Material zum Kriegführen – bis hin zum Giftgas (das in Europa seit dem ersten Weltkrieg übrigens nie mehr eingesetzt worden ist). Die plötzliche industrielle Macht entzündete in den Köpfen der Mächtigen aber auch eine gefährliche Hybris. Alles schien möglich geworden – die Herrschenden vergaßen nur, dass das auch für die Gegenseite galt.

Die Bevölkerungszunahme wiederum erhöhte einerseits die expansive Gier auf neue Territorien – damals hielt man ja trotz der Industrialisierung noch die Landwirtschaft für die wichtigste Abteilung der Wirtschaft. Die Bevölkerungsexplosion hat aber andererseits auch die unglaublichen Menschenopfer an den Fronten des ersten Weltkriegs scheinbar erträglicher gemacht. Wenn ein Bauer vier, fünf Söhne hatte, wurde es als eine geringere Katastrophe als heute angesehen, wenn ein oder zwei davon fallen. Heute ist jeder einzelne Tote einer westlichen Armee ein großes und belastendes nationales Thema.

Eine interessante historische Deutung sieht das 20. Jahrhundert als ein kurzes an: Es habe erst 1914 mit dem Weltkrieg begonnen und sei schon 1989 mit der Implosion des Kommunismus zu Ende gegangen. Das widerspricht einem anderen Interpretationsversuch nicht wirklich: Dass 1989 nicht das von einem US-Historiker behauptete Ende der Geschichte ausgebrochen sei, sondern dass nach Ende des bisher letzten Totalitarismus eine Fortsetzung der traditionellen Geschichte stattfindet. Die Welt scheint also wiederum in einem Stadium vieler kleinerer und unüberschaubaren Konflikte angekommen, während in jenem kurzen 20. Jahrhundert zwei mörderische Ideologien alle anderen Fragen an den Rand gedrückt hätten. Da ist schon was dran.

Last but not least ein Gedanke zu Österreich: Es ist sicher ein entspanntes Signal, dass der erste Weltkrieg hierzulande überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Dass sogar die Sozialdemokratie langsam auf ihren Habsburger-Hass von 1918ff vergisst (wie sie ihn ja auch bis 1914 keineswegs hatte). Während das ganze Kalenderjahr von Dutzend Gedenktagen an den Nationalsozialismus überzogen ist, findet der erste Krieg im Jahreskalender Österreichs nicht statt. Dabei ist durch jenen Krieg kein Land so atomisiert worden wie die einstige Habsburger-Monarchie.

Dennoch interessiert das niemanden mehr. Österreich kümmert sich nicht einmal mehr um jene Landsleute, die durch die – neuerlich – willkürlichen Grenzziehungen nach 1918 plötzlich von ihrer Heimat getrennt worden waren. Lediglich Südtirol war bis in die 70er Jahre ein nationales Anliegen. Heute aber sind auch die Südtiroler gut beraten, wenn sie von Wien absolut nichts mehr wollen. Sie interessieren in Österreich niemanden mehr, oder zumindest keine politisch relevante Gruppe.

Österreich trägt an keiner Geschichtslast seiner großen Vergangenheit mehr, und es hat nach all den Amputationen keinen Phantomschmerz mehr. Das wird viele beruhigen. Man kann es aber auch umgekehrt sehen: Ein Volk ohne Geschichte ist kein Volk. Und ohne Vergangenheit gibt es auch kein Interesse an der eigenen Zukunft.

zur Übersicht

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)

Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print




© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung