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Über Nacht ein neuer Krieg

Die EU ist über Nacht in einen neuen Krieg geraten. Sie hat diesen aber weder ausgerufen noch geplant noch wurde er ihr erklärt. Und dennoch kann die neueste Intervention in Libyen bald zum großen Problem Europas werden. Zunehmend wird es fraglich, ob überhaupt noch jemand den Überblick hat, wo überall europäische Soldaten in mehr oder weniger gefährlichen Konflikten engagiert sind. Kosovo, Bosnien, Afghanistan, Golan-Höhen, Zypern, Libyen, Piratenjagd vor Somalia: Das ist ganz schön viel für eine Union, die massiv abgerüstet und geglaubt hat, nach Ende des Ost-West-Konflikts eine dicke Friedensdividende kassieren zu können.

Gewiss: Die in den letzten Tagen begonnene Luft-Intervention in Libyen könnte binnen weniger Tage erfolgreich beendet sein. Denn die Luftschläge gegen die Flugzeuge, Panzer und Militäranlagen Muamar Gaddafis könnten der Revolution trotz deren schlechter Rüstung nun wieder die Oberhand verschaffen.

„Könnte“ heißt freilich, dass auch eine ganz andere Entwicklung möglich ist. Dass die europäischen Staaten – und die in ihrem Kielwasser kämpfenden Einheiten aus den USA, Kanada und einigen wenigen arabischen Staaten – möglicherweise in ein langes und übles Kuddelmuddel mit völlig unklarem Ausgang hineingezogen werden könnten.

Ist Libyen das wert? Sicher nicht. Die Intervention einiger europäischer Staaten in Libyen ist ja ursprünglich auch alles andere als zwingend gewesen.

Europas Regierungen, aber auch Bürger haben sich keineswegs nach militärischen Abenteuern am Südufer des Mittelmeers gesehnt. Nur krankhafte Verschwörungstheoretiker können solches ernsthaft behaupten. Die europäischen Regierungen hatten sich mit den arabischen Diktatoren irgendwie arrangiert; vor allem die Sozialdemokraten, aber auch Silvio Berlusconi hatten sich zum Teil mit ihnen sogar befreundet. Diese Diktatoren hatten einem labilen Raum in der Tat ein Stück Stabilität gebracht. Sie waren Verbündete gegen den Terrorismus, sie verhinderten eine Massenemigration von Schwarzafrikanern nach Europa und ließen islamistischen Radikalen keinen Spielraum.

Das in Amateur-Analysen vielzitierte Öl spielt in Wahrheit überhaupt keine Rolle. Das muss nämlich jede libysche Regierung an den Westen verkaufen, weil sie das Geld braucht. Egal wie sehr sie den Westen hassen mag.

Heute jedoch ist alles anders. Heute ist die Intervention in der Tat unvermeidlich geworden. Wie das?

Plötzlich waren in einer Art Kettenreaktion aus primär ökonomischen Anlässen in zahlreichen arabischen Ländern Unruhen und Revolutionen ausgebrochen. Während Regierungen und Bürger Europas die Dinge aus der Distanz und voll skeptischer Unsicherheit betrachteten, übernahm in der EU eine andere Macht das Ruder: die Medien. Diese wurden von einem Fieber der Revolutionsgeilheit gepackt; sie  glaubten, die Massen auf den Straßen brächten nun Tunesien, Ägypten und Libyen über Nacht einen Rechtsstaat und die Demokratie.

Die Medien dürften sich damit wahrscheinlich genauso getäuscht haben wie einst bei ihrem Jubel über die Revolutionen in Kuba oder in Iran. Was die meisten Journalisten in ihrem Wunschträumen einfach nicht begreifen: Rechtsstaat und Demokratie können nicht durch die Straße allein begründet werden, sie brauchen zusätzlich tiefe bürgergesellschaftliche, zivilisatorische, kulturelle und ökonomische Wurzeln. Nur blinde Optimisten können solche tragfähige Wurzeln in den arabischen Ländern sehen.

Das hinderte die Medien nicht, die europäische Politik immer mehr zur Parteinahme für die diversen Revolutionäre zu zwingen. Sie hatten dabei großen Erfolg – und niemand erinnerte sich daran, wie sehr die selben Medien einst auch die amerikanische Intervention im Irak zuerst gefordert, dann bejubelt und schließlich verdammt hatten.

Die europäischen Regierungen setzten mit ihrem Einstellungswechsel in Tunesien und Ägypten auf das richtige Pferd. Sie brachen auch alle Brücken und Kontakte zu Gaddafi ab. Sie taten dies unter dem Druck der heimischen Medien – noch bevor diese von der Revolutionshysterie zur Atomhysterie gewechselt waren – und im Glauben, dass auch die libysche Opposition knapp vor dem Sieg stehe.

Das aber war ein Irrglaube: Gaddafi heuerte Söldner an und motivierte den verbliebenen Kern seiner Armee. Die daraufhin einen Siegeszug durch die schon befreiten Städte begann.

Nun war Europa total im Dilemma. Die alte Politik einer friedlichen Koexistenz mit dem manischen Selbstdarsteller Gaddafi war nicht mehr möglich. Gleichzeitig hat man sich selbst zum Hauptfeind das exaltierten Libyers gemacht. Das verheißt für die Zukunft nichts Gutes. Hat doch Gaddafi schon einmal eine Periode terroristischer Aktivität hinter sich. Hat er doch schon einmal schwarzafrikanische Migranten massenweise nach Europa durchgeschleust, wo man sie nur zum Teil wieder loswurde.

Während sogar die USA zögerten, und alle anderen Mächte von China bis Russland – wo ja Moral sowieso keine politische Kategorie ist – überhaupt taktierten, musste Europa nunmehr handeln. Die Südgrenzen der Union sind einfach zu exponiert, als dass man dieses Risiko einer Rache Gaddafis eingehen hätte können. Dieser Meinung war man zumindest in London und Paris, wo eine Renaissance alter Großmachtpolitik stattzufinden scheint. Frankreichs Sarkozy glaubt überdies angesichts schlechter Umfragewerte und einer nahenden Wahl sein einstiges Image als starker Mann wiederbeleben zu müssen. Er machte zum ersten Mal seit langem Frankreich wieder zu einem relevanten weltpolitischen Akteur. Und auch die Opposition wagt es vorerst nicht, ihn dabei zu kritisieren.

Freilich: Das größte Land Europas zog nicht mit. Denn in Deutschland glaubt eine Rechtsregierung, dass eine Intervention in Libyen zu gefährlich sei. Und außerdem bei den eigenen Wählern unpopulär, die gerade  jetzt in etlichen Bundesländern wählen müssen.

Damit ist Angela Merkel endgültig in die Kategorie der ewigen Zauderer abgestiegen. Sie hat die anderen konservativ-christdemokratisch geführten Länder Europas im Stich gelassen. Und sie hat der EU einen schweren Schaden zugefügt. Denn die Union konnte sich in Sachen Libyen nicht einigen. Womit sie außenpolitisch so wenig existent ist wie in den letzten 50 Jahren – einer neuen Verfassung zum Trotz.

Merkel hat zwar begriffen, dass es ursprünglich ein Fehler war, sich allzu sehr in den libyschen Konflikt einzumischen. Sie hat aber nicht mehr begriffen, dass es nun - nachdem man sich eingemischt hatte - ein noch größerer Fehler wäre, den von Revanchegelüsten vollen Gaddafi weiter an der Macht zu lassen. Und sie hat ebensowenig begriffen, dass Gaddafis Rache alle Länder Europas treffen würde. Dass also jetzt seine Beseitigung ein europäisches Überlebensinteresse geworden ist. Egal wie falsch es ursprünglich gewesen sein mag, sich in die inneren Angelegenheiten Libyens einzumischen.

Aber auch die französische Kalkulation enthält einen Denkfehler: Denn so unbeliebt Gaddafi im arabischen Raum ist, so wahrscheinlich ist es doch, dass am Schluss wieder die Europäer als die Bösen dastehen. Das sieht man schon an der Reaktion der Arabischen Liga: Zuerst verlangte sie das militärische Eingreifen der Europäer. Kaum gab es die ersten Toten, wird schon wieder Kritik an den Europäern geübt.

Auf solche Bundesgenossen sollte man besser nicht bauen . . .

Ich schreibe regelmäßig Beiträge für das neue unabhängige Internet-Portal eu-infothek.com.

 

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