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Österreich leidet an wachsender Unzufriedenheit mit der Demokratie. Das führt zu einer erfreulichen Intensivierung der Debatte über Verbesserungen der demokratischen Mechanismen und zu vielen Vorschlägen in Richtung Mehrheitswahlrecht. Wirklich durchdacht ist da aber vieles noch nicht.
Zuvor ein kleiner Rückblick: Als ich mich in den neunziger Jahren erstmals in Kommentaren für das Mehrheitswahlrecht aussprach, wurde mir von Spitzenvertretern der großen Koalition entgegengehalten, dass es dann im Parlament keine roten Abgeordneten aus Tirol und keine schwarzen aus Wien geben würde.
Dieses Argument ist in keiner Weise überzeugend. Bedeutet es doch eine Bestätigung der Inbesitznahme des Staates durch die Parteien. Wenn der Souverän, der Wähler, etwa in Tirol keinen Sozialdemokraten wählt, dann ist das sein gutes Recht, und ein Anspruch der SPÖ auf einen Abgeordneten aus Tirol ist ein völlig grundloser. Gleichzeitig zeigt die Erfahrung, dass die Wähler irgendwann immer für einen Wechsel stimmen – zumindest dort, wo es um wichtige Gremien wie das Parlament geht.
Heute sprechen sich sowohl der rote wie der schwarze Parteichef viel positiver über das Mehrheitswahlrecht aus. Sie tun das freilich viel zu spät. Denn die Chance der beiden inzwischen halbierten Großparteien, die für eine solche gravierende Änderung notwendige Zweidrittelmehrheit zu erringen, ist wohl unwiederbringlich dahin. Sie müssen in ihrem derzeitigen Zustand ja froh sein, wenn sie zusammen die 50-Prozent-Grenze schaffen.
Was die beiden Parteien viel zu spät begriffen haben: Demokratie bedeutet vor allem anderen die Möglichkeit der Bürger, in Abständen Regierungen abzuwählen. Wenn aber die rot-schwarze Koalition gleichsam das ewige Regierungssystem Österreichs zu sein scheint, werden die Wähler die beiden Parteien als Einheit ansehen und bei Unzufriedenheit nicht zwischen Rot und Schwarz wechseln wie etwa in Amerika zwischen Republikanern und Demokraten. Sie werden vielmehr zur stärksten Alternative wechseln, also in Österreich zur FPÖ. Was viele tun – und zwar nicht wegen toller FPÖ-Programme, sondern weil das die einzige Möglichkeit ist, der Regierung zu sagen: „Wir haben genug von Euch!“
Mit der rechtzeitigen Einführung des Mehrheitswahlrechtes hätten Rot und Schwarz wohl das fast ewige Monopol gehabt, sich an der Macht abzuwechseln. Mit ihrem Nein zum Mehrheitswahlrecht hingegen haben sie sich selbst beschädigt.
Aber unabhängig von diesem historischen Exkurs: Welche Konsequenzen hätte ein Mehrheitswahlrecht?
1. Es erhöht die Chance auf regierungsfähige Mehrheiten. Die Regierungsfähigkeit ist dann am größten, wenn nur eine einzige Partei regiert. Diese Partei hat dann einige Jahre die Chance, die Republik zu gestalten, ohne dass es die Lähmungen, faulen Kompromisse und Blockaden gäbe, die für eine Koalition umso prägender sind, je ähnlicher die Stärke der Regierungsparteien ist. Gegen einen Machtmissbrauch schützen dabei die Verfassung, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Angst der Regierenden vor dem nächsten Wahltag und zunehmend die Einengung der nationalen Souveränität durch die Institutionen der EU und den Menschenrechtsgerichtshof.
2. Ein Mehrheitswahlrecht erhöht die Chance auf eine größere Effizienz der Regierung. Das ist sein allergrößter Vorteil. Denn an nichts leiden die demokratischen Systeme mehr als an Phasen der Lähmung.
3. In den meisten Varianten eines Mehrheitswahlrechts, wie insbesondere dem von Einerwahlkreisen, kann es aber auch zu einer Personalisierung des Parlaments kommen. Jeder Abgeordnete muss sich dann viel stärker für seinen Wahlkreis positionieren und wird dadurch primär zu dessen Lobbyisten. Dieser Aspekt ist in den letzten Tagen insbesondere von der Gruppe um den Ex-Minister Heinrich Neisser als sehr positiv herausgehoben worden. Die Idee einer Personalisierung erfreut sich auch darüber hinaus großer Popularität. Wird sie doch als Entmachtung der unpopulär gewordenen Parteien verstanden.
Was die meisten dabei jedoch übersehen: Zwischen dem letztgenannten Ziel und den ersten beiden gibt es gewaltige Differenzen. Denn je stärker sich die Abgeordneten als Lobbyisten ihres Wahlkreises, also als Vertreter von Partikularinteressen sehen und dementsprechend handeln, umso geringer wird die Regierungsfähigkeit und Effizienz der Staatsführung.
Der amerikanische Kongress bietet zahllose Beispiele für diese Fehlentwicklung. Da müssen die Präsidenten bei jedem wichtigeren Gesetz, bei jedem Budget mit einzelnen Abgeordneten feilschen. Diese bemühen sich dann, mit erpresserischen Methoden für ihren Wahlkreis das Beste herauszuholen. Da wird dann in völlig falschen Zusammenhängen der Bau eines großen Bauwerkes herausgepresst, die Schließung einer Rüstungsfabrik verhindert, Subventionen für ein großes Autowerk erzwungen, Sozialprogramme für in bestimmten Wahlkreisen wichtige Minderheiten herausgeholt und so weiter.
Der Blick auf das Staatsganze, die Umsetzung einer verantwortungsbewussten und gerechten Ordnungspolitik wird dadurch hingegen massiv erschwert. Diese Regionalisierung durch Wahlkreis-Kaiser ist ja auch nicht das, was die Wähler bei der Wahl eines Parlamentes im Auge haben: Sie wollen primär darüber bestimmen, wer künftig Regierungschef, also der Mächtigste im Lande wird.
Gewiss sind auch im jetzigen österreichischen System solche Erpressungen häufig. Sie erfolgen durch Bundesländer, durch Gewerkschaften und Kammern, durch lautstarke Aktivisten etwa mit feministischem oder schwulem Anstrich. Dabei sind die wirklichen Nutznießer der Erpressung sehr häufig nur die jeweiligen Funktionsträger und ihre unmittelbare Umgebung.
Weder das eine noch das andere ist gut für Land und Menschen.
In der Summe überwiegen dennoch die Vorteile des Mehrheitswahlrechtes. Aber eben deshalb, weil es die Chance auf effizientes Regieren erhöht. Was sich auch an der österreichischen Zeitgeschichte zeigen lässt. Die weitaus wichtigsten und erfolgreichsten Bundeskanzler waren jene, die mit absoluter Mehrheit oder zumindest ohne große Koalition agieren konnten: Figl, Klaus, Kreisky, Schüssel. Gewiss hat auch von ihnen jeder am Ende nach einem Misserfolg gehen müssen. Aber alle Vier haben zumindest sehr effiziente Perioden lang regieren und gestalten können.
Reformen hingegen, die nur das Persönlichkeitselement stärken, aber nicht die Chancen auf größere Effizienz des Regierens, werden Österreich nicht weiterbringen. Sie bedeuten entweder die skizzierte Gefahr einer Lizitations-Eskalation durch Lokalkaiser – oder sie sind ohnedies völlig bedeutungslos. Man denke nur, dass etwa ein Josef Cap einst mit Hilfe persönlicher Vorzugsstimmen unter großem Aufsehen ins Parlament gekommen ist, dann jedoch kein einziges Mal gegen seine Partei gestimmt hat. Man denke an Niederösterreich, wo die ÖVP ein scheinbar starkes Persönlichkeitselement praktiziert (wer mehr Vorzugsstimmen hat, kommt in den Landtag) – und doch ist fast keine Landespartei so autoritär geführt wie die niederösterreichische ÖVP.
Mir erscheint ein ganz anderer Reformmechanismus viel wichtiger und sinnvoller: nämlich die direkte Demokratie. Nur diese kann die Blockaden überwinden und das Staatsganze über Einzelinteressen stellen. Was übrigens die Grünen am deutlichsten sehen. Wofür sie zu loben sind, auch wenn sie dabei vielleicht dem Irrtum unterliegen, dass die breite Unterstützung für ihre Thesen in den meisten Medien auch von der Bevölkerungsmehrheit geteilt würde.