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Amerikas Gesundheitsreform: Respekt und Skepsis

Bisweilen wundert sich der Europäer über die USA. Bisweilen ist er auch voller Respekt. Die nun beschlossene Gesundheitsreform wird zweifellos zum historischen Lehrstück über Amerika. Für Skepsis und Verwunderung, für Respekt und Anerkennung.

Aufs erste könnte man ja verblüfft sein, welch gewaltiges Erdbeben eine Krankenversicherungsreform auszulösen vermag, welche die Zahl der Versicherten relativ marginal von 83 auf 95 Prozent erhöht. Entgegen manchen Schreckensgemälden war nämlich der Großteil der Amerikaner längst versichert. Und auch die Nichtversicherten mussten  im Notfall von jedem Spital behandelt werden – gleichgültig, ob die Honorarnote nachher eintreibbar ist oder nicht.

Aufs zweite ist der Europäer noch mehr darüber verblüfft, dass ausgerechnet eine Antiabtreibungs-Garantie dem Gesetzesvorhaben des Präsidenten letztlich die ausreichende Mehrheit verschafft hat. Ansonsten hätte ein entscheidender Teil der linken(!) US-Partei nicht mit Barack Obama gestimmt. Dabei geht es übrigens um viel radikalere Antiabtreibungs-Bestimmungen (nämlich das Verbot, Bundesgelder für Abtreibungen einzusetzen), als sie die meisten hiesigen Abtreibungsgegner verlangen (Erstellung ordentlicher Statistiken und verpflichtende Beratung der abtreibungswilligen Frauen durch jemand anderen als den abtreibenden Arzt).

Respekt löst jedenfalls das lange Ringen um die neue Regelung aus. Da hat sich fast jeder Abgeordnete einzeln eingebracht. Da wurde keine Fraktion wie Herdenvieh zu gleichartigem Abstimmungsverhalten angetrieben – zumindest die Demokraten nicht. Bei den Republikanern war schon ein gehöriges Maß an Vorwahlkampf zu spüren.

Respekt verdient auch in mancherlei Hinsicht das nun gewählte amerikanische Modell. Es sollte auch in Europa ernsthafter geprüft werden, als es der europäische Hochmut gemeiniglich tut. Denn künftig besteht für die Amerikaner im wesentlichen die viel schlauere Versicherungspflicht, während wir eine Pflichtversicherung haben.

In Amerika wird es einen Wettbewerb zwischen den Versicherungen geben, der die Qualität erhöht und/oder die Kosten drückt. In Österreich haben wir hingegen keine Wahl. Wir müssen die uns von Gesetz her aufgezwungenen Versicherungen nehmen. Und deren politisch inthronisierte Obmänner und Generaldirektoren akzeptieren und finanzieren. Daher zahlen wir jenes Geld, das in Amerika für die oft kritisierte Versicherungswerbung ausgegeben wird, für die vielen verdienten, wenn auch häufig unfähigen Funktionäre von Gewerkschaften und Kammern, die plötzlich zu Gesundheitsexperten mutiert sein wollen.

Extrem skeptisch machen freilich die Kosten der US-Reform, die ja auch kräftige Unterstützung für ärmere Familien bringt. In der nächsten Dekade kostet das Projekt die Amerikaner fast eine gigantische Billion Dollar. Diese kommt mitten in der schwersten Strukturkrise der USA seit dem Vietnamkrieg auf die Steuerzahler zu. Und zwar gerade nachdem ihnen diese Krise mit der – ohnedies unpopulären – Rettung von Autofirmen, Banken und Versicherungen die größte Schuldenlast der Geschichte aufgebürdet hat.

Daher sollte man auch Verständnis für den Widerstand so vieler US-Bürger haben. Sie sorgen sich vor dem Staatsbankrott, zeigt doch die Regierung Obama alles, nur keine Sparsamkeit.

Besonders wenig Verständnis für die Reform haben die 50 Millionen älteren Amerikaner. Aus egoistischen Gründen. Waren doch sie ab dem 65. Geburtstag immer schon ganz automatisch nur auf Grund ihres Alters beim Staat versichert („Medicare“). Sie fürchten nun, dass die Qualität ihrer Gesundheitsversorgung deutlich schlechter werden wird. Dass sie ab einem bestimmten Alter bestimmte Eingriffe nicht mehr bekommen. Ist doch schon intensiv von „Cost cutting“ die Rede.

Jedenfalls flößt es Respekt ein, wenn die Amerikaner so, wie es in Europa nur noch die Schweizer tun, bei jeder Wohltat des Staates sofort die Kosten mitbedenken, die ihnen auf den Kopf fallen werden.

Ein starkes Argument der Reformgegner ist auch der Verweis auf jenen Staat, den die US-Amerikaner am besten kennen: auf Kanada. Im dortigen staatlichen Gesundheitssystem muss man, so wurde in die USA mit Schaudern berichtet, bis zu drei Jahre auf bestimmte Operationen warten.

Es ist auch eine Mär, dass gerade die ganz armen Amerikaner Opfer des bisherigen Gesundheitssystems waren. Denn für sie gab es immer schon eine staatliche Versicherung („Medicaid“ schützt 40 Millionen). Ebenso gab es schon bisher staatlichen Gesundheitsschutz für Kinder und Behinderte.

Bei den unter 65-Jährigen waren 59 Prozent durch ihre Firma versichert. Und nur 16 Prozent waren nicht automatisch versichert, etwa wenn sie bei ganz kleinen Unternehmen tätig waren. Diese Nichtversicherten waren zu 15-20 Prozent illegale Immigranten (die ja auch in Österreich nicht versichert sind, freilich sehr oft durch e-Card-Betrug dennoch Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen). Viele Amerikaner sind nur vorübergehend, etwa beim Arbeitsplatzwechsel, ohne Versicherung. Und mehr als die Hälfte der Nichtversicherten ist zwischen 15 und 35 Jahren – also in einem Alter, wo man das Thema Krankheit nicht so ernst nimmt.

Die Tatsache, dass die Versicherung bisher an den Arbeitgeber geknüpft ist, hat übrigens eine oft kaum beachtete Folge. Sie reduziert die Mobilität, die Bereitschaft zum Arbeitsplatzwechsel. Der ja in aller Regel zu besseren Chancen für den einzelnen Arbeitnehmer führt.

Dennoch gab es natürlich immer wieder Fälle, die durch die Löcher des Systems fielen. Insbesondere konnten sich kranke Menschen oft nicht mehr selbst versichern – da bringt die Obama-Reform einen großen Fortschritt, weil jetzt die Krankenversicherungen niemanden mehr ablehnen können.

Beklemmend war für mich das Beispiel eines (erfolglosen) US-Künstlers. Er hatte Diabetes und bekam von keiner Versicherung das notwendige Insulin bezahlt. Die später wegen der Nichtbehandlung seiner Krankheit notwendige gewordene Amputation musste dann aber das Spital jedenfalls machen. Was naturgemäß letztlich die Allgemeinheit zahlt: Jeder Amerikaner zahlt im Schnitt ja nach Bundesstaat zwischen 300 und 1000 Dollar im Jahr für die bisher Nichtversicherten.

Obwohl – je nach Schätzung – 30 bis 45 Millionen US-Amerikaner bisher nicht versichert waren, obwohl es in Österreich weit mehr Ärzte pro Einwohner gibt,  kostete schon jetzt das US-Gesundheitssystem viel mehr als europäische. Gibt Österreich 10 Prozent des Inlandsprodukts für Gesundheit aus, so sind es bei den Amerikanern 16 Prozent. Dieser Anteil ist Weltrekord; er hat sich in den letzten 30 Jahren verdoppelt und wird wohl in jedem Fall noch weiter steil ansteigen, weil die Babyboomer nun alt werden.

Woher kommt aber diese gewaltige Differenz? Nun, ein kleiner Teil wird wohl auf in der Statistik fehlende Schwarz-Zahlungen in Privatordinationen zurückzuführen sein, eine in Amerika weitgehend unübliche Praxis. Ein weiterer Teil der Kosten wird dadurch verursacht, dass manche Krankenversicherungen sehr luxuriös sind, etwa die für die Automobilarbeiter, die überhaupt keinen Selbstbehalt kennen.

Ein viel größerer Teil wird durch das amerikanische Rechtssystem verursacht, das bei ärztlichen Kunstfehlern den Opfern hohe Millionensummen zuspricht. Die Ärzte machen deshalb sicherheitshalber viele Tests doppelt. Und sie schließen aus dem gleichen Grund sehr hohe und teure Haftpflichtversicherungen ab, die natürlich am Ende wiederum alle Patienten treffen. Solche Versicherungen kosten je nach Fach des Arztes zwischen 6000 und 64.000 Dollar jährlich. Hier wäre eine Limitierung der Kunstfehler-Schadenssummen im Interesse fast aller (Kalifornien hat damit schon begonnen).

Ein weiterer Grund für die hohen Kosten des US-Systems ist die viel höhere Zahl von Operationen und teuren Untersuchungsmethoden (wie etwa Magnetresonanz-Diagnostik), sowie der insgesamt sehr hohe Technologiestatus in amerikanischen Spitälern. Auch das hängt zum Teil stark mit der patientenfreundlichen und teuren Kunstfehler-Judikatur zusammen. So werden prozentuell in den USA viel mehr Kaiserschnitte gemacht als in Europa. Der Grund: Ein Kaiserschnitt ist zwar teurer, aber mit viel weniger Risiko behaftet.

Dennoch ist die Lebenserwartung um zwei Jahre niedriger. Das hat eine ganz spezifische Ursache: Die USA haben eine hohe Säuglingssterblichkeit, wegen mangelnder Schwangerschaftsbetreuung vor allem bei den ethnischen Minderheiten. Die gehen oft nicht ausreichend zum Arzt.

In vielen anderen Bereichen der Medizin sind die USA aber immer schon absolute Weltklasse gewesen. Und nur recht ahnungslose Menschen haben hierzulande voreilige Urteile über jenes Land abgegeben.

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