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In der österreichischen Strafjustiz geht zunehmend das Gefühl für Anstand und Gehört-sich verloren. Dieser Eindruck entsteht, wenn man sich etwa die Fälle Kampusch oder Elsner genauer anschaut.
Bekanntlich hat die Wiener Staatsanwaltschaft in skandalöser Weise alle Hinweise unbeachtet gelassen, dass im Fall Kampusch mehr passiert sei, was eigentlich vor ein Gericht kommen sollte. Das ist dann durch eine Kommission des Innenministeriums aufgedeckt worden, die mit höchstrangigen Juristen besetzt endlich von außen ein Aktivwerden der neuen Justizministerin erzwungen hatte, nachdem die total untätige Vorgängerin von der Koalition rätselhafterweise mit dem höchsten EU-Richter-Posten belohnt worden ist.
Nun stand der Vorsitzende dieser Kommission, Ex-Verfassungspräsident Ludwig Adamovich, vor Gericht, weil er – wahrscheinlich mit etwas überscharfen Formulierungen – die Kindheit der Frau Kampusch in ein schiefes Licht gerückt hat. Was deren Mutter zur Privatanklage gegen Adamovich veranlasst hat. Worauf aber schon wieder mehr als Erstaunliches passierte: die Richterin ließ den Wahrheitsbeweis über die Behauptungen Adamovichs einfach nicht zu. Obwohl es eindeutig um Tatsachenaussagen ging, deren Wahrheitsgehalt durchaus spannend und relevant für die Schuld Adamovichs wäre.
Dieser Wahrheitsbeweis wäre aber manchen im Wiener Strafjustizapparat wohl nicht sehr willkommen gewesen. Denn dadurch wären jedenfalls erstmals gerichtsöffentlich jene Fakten diskutiert worden, die den ganzen Fall in ein total neues Licht rücken, und die eben von der Wiener Staatsanwaltschaft beharrlich ignoriert worden waren. Wie etwa der nun vom „Profil“ berichtete Aspekt, dass Frau Kampusch ihrem Peiniger zweimal entkommen und freiwillig wieder zurückgekehrt sei.
Da ist es ein ganz, ganz blöder Zufall, dass die Richterin im Adamovich-Prozess die Tochter des langjährigen (inzwischen in Pension gegangenen) Leiters der Wiener Staatsanwaltschaft ist, dessen Wirken durch die Adamovich-Kommission in ein ganz schiefes Licht geraten ist. Natürlich soll hier nicht angedeutet werden, dass die Richterin deswegen ihre Pflichten irgendwie vernachlässigt oder mit einer unterschwelligen Anti-Adamovich-Schlagseite verfolgt hätte.
Dennoch bleibt eine überaus ungute Optik zurück. Dennoch fragt man sich, warum die Richterin nicht von sich aus die Causa abgegeben hat, um eben jede blöde Optik zu meiden, die nicht nur ihr, sondern der ganzen Justiz schadet. Und warum ihr nicht zumindest ein Vorgesetzter im Grauen Haus einen entsprechenden Rat gegeben hat.
Mein langjähriger Chef und Freund, Thomas Chorherr, würde in diesem Zusammenhang wohl wie häufig davon sprechen, dass das Gefühl für Anstand und Gehört-sich zunehmend verloren geht.
Das gleiche konnte man ja auch schon bei der Besetzung des Justizministers beobachten, als ausgerechnet die Richterin im Bawag-Prozess aus ihrem unpolitischen Leben in eine sehr politische Aufgabe gestürzt worden ist. Denn der Bawag-Prozess stand praktisch ständig unter dem Verdacht, dass da an einem (vielleicht wegen seiner Präpotenz) politisch missliebig gewordenen sozialdemokratischen Spitzenbanker ein parteipolitisch gefärbtes Exempel judiziert wird. Was zwar sicher nicht stimmt, denn dann hätte auf der dichtbesetzten Anklagebank nicht ausgerechnet Fritz Verzetnitsch gefehlt, der Chef des Gewerkschaftsbundes und de facto damaliger Bawag-Eigentümer, der in Sachen der Bank sehr vieles an den berühmten Gremien vorbei entschieden hat.
Die nachträglich entstandene Optik bleibt, dass da eine schwarze Richterin einen roten Banker besonders streng verknackt und diesem zu einer von vielen Juristen als zu lang kritisierten Untersuchungshaft verholfen hat. Noch schlechter wurde die Optik in Richtung Politjustiz dadurch, dass die (persönlich sehr sympathische) Richterin ausgerechnet den im gleichen Bawag-Prozess tätigen (und sachlich exzellenten) Staatsanwalt zu ihrem Kabinettschef gemacht hat. Wie unabhängig und kritisch ist da im Prozess die Richterin dem Staatsanwalt gegenübergestanden?
Gewiss: In keinem der angeführten Fälle wurde ein Paragraph verletzt. Aber eigentlich sollte es außerhalb der Paragraphenwelt eben noch einen zusätzlichen Schutzgürtel von Anstand und Gehört-sich geben, um den guten Ruf der Justiz hochzuhalten.
Wie sonst soll der einfache Bürger noch Vertrauen in die Justiz haben?