"Ein interessanter Fall, nicht bloß für die Literaturwissenschaft", hat ein Unterrichtsminister einmal einen Schulkollegen charakterisiert, der als exzentrischer Schriftsteller bekannt geworden war. Was soll man da über Herrn Kickl sagen? Ein interessanter Fall, zweifellos, und bei weitem nicht nur für die Politikwissenschaft. Historiker werden sich in späteren Jahrzehnten einmal den Kopf zerbrechen, ob sie nicht "Fake News" aufgesessen sind: Eine Partei bekommt Kanzleramt und Finanzministerium angeboten – und lässt diese aller Voraussicht nach nie wiederkehrende Chance vorübergehen, weil sich unser Alberich von Radenthein auf das Innenressort kapriziert (eine Obsession, die schon 2019 zum Bruch der bürgerlichen Koalition beigetragen und uns fünf Jahre Gewessler beschert hat).
"Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens", heißt es bei Schiller (und er meinte auch wirklich: mit – und nicht gegen die Dummheit!). Nun ist Kickl zweifelsohne intelligent; die Diagnose, warum er so handelt wie er handelt, muss Experten aus anderen Fachgebieten überlassen bleiben.
Denn logisch lässt sich die Sache nicht erklären. Man kann aus dem vorliegenden Befund bloß den Schluss ziehen: Kickl will offenbar ganz einfach nicht. Das beginnt schon mit den höchst undiplomatischen Erklärungen, die er am Beginn und während der Verhandlungen in der Öffentlichkeit abgab. Das ist entweder kindisches Trotzverhalten oder bewusste Sabotage, im Angelsächsischen vielleicht auch als "Poison pills" gehandelt.
Die ÖVP ist über ihren Schatten gesprungen, als sie – entgegen ihren früheren Erklärungen – Kickl als Kanzler akzeptiert hat; der offenkundige Preis dafür war, dass die FPÖ im Gegenzug über ihren Schatten springt und das Innenministerium zur Disposition stellt. Es war schon 2018/19 ein Fehler, die Rivalitäten unserer heimischen Möchtegern-James-Bonds zum Sprengsatz der Koalition hochzustilisieren, umso mehr heute.
Das internationale Umfeld für eine Mitte-Rechts-Regierung ist heute so gut wie schon lange nicht: In den USA regiert Trump, in Italien Meloni; in den Niederlanden, Ungarn und demnächst vermutlich auch in Tschechien Parteien, die mit der FPÖ in einer Fraktion sitzen. Die üblichen Verdächtigen, die dem restlichen Europa gern ihre Brandmauer-Phantasien aufzwingen wollen, Deutschland und Frankreich, stehen augenblicklich ohne wirklich handlungsfähige Regierung da. Dieses Umfeld ist wichtig, nicht weil es um die veröffentlichte Meinung im Ausland geht, sondern weil man der zentralen Frage der Eindämmung der illegalen Zuwanderung eben nur auf europäischer Ebene einigermaßen Herr werden kann. Die Rechtsregierungen innerhalb der EU werden sich schön bedanken, wenn ein potenzieller Partner aus nichtigen Gründen ausspringt.
Ganz zu schweigen von den anderthalb Millionen Wählern der FPÖ im Inland, die jetzt ihre Hoffnungen enttäuscht sehen, eine Regierung ohne linke Beteiligung im Amt zu sehen. Eine Reihe von zentralen Punkten, die eine blau-schwarze Regierung ohne jegliche interne Reibungsverluste in Angriff hätte nehmen können, wird jetzt entweder liegen bleiben oder verwässert werden. Die politisch-korrekten Manierismen im öffentlichen Bereich, die Auswüchse des Green Deals, die famose Haushaltsabgabe des ORF und viele andere Ärgernisse werden wegen der Marotten von Herrn Kickl vermutlich leider bestehen bleiben.
Herbert Kickl, der ja offenbar Pferde liebt, hat sich auch ganz ohne Kanzlerbonus einen unverwechselbaren Platz in der österreichischen Geschichte gesichert – als das beste Pferd der Linken, als Deus ex machina, der er ihr immer wieder aus der Patsche hilft, wenn ihr alle anderen Felle davonzuschwimmen drohen.
Mag sein, dass es unter den paar Tausend Aktivisten der FPÖ einen Narrensaum gibt, dem das Funktionärsgezänk mit der ÖVP wichtiger ist als die Geltendmachung der seit Jahr und Tag bestehenden bürgerlichen Mehrheit im Lande. Wobei die Demontage von Blau-Schwarz ja wohlgemerkt gerade den vernünftigen Kräften in der ÖVP und in der Wirtschaft schadet, nicht den Fischlers und Görgs dieser Couleur.
Ich bezweifle, dass selbst unter der Mehrheit der FPÖ-Mitglieder diese Taktik Kickls auf Wohlgefallen stößt, bestenfalls auf fatalistische Akzeptanz. "Corporate loyalty" dieser Art mag Kickl noch eine Zeitlang vor Kritik abschirmen. Aber für die Wähler ist mit Kickls Abbruch der Regierungsverhandlungen jeder Grund entfallen, nochmals FPÖ zu wählen. Wozu soll man eine Partei wählen, zumindest auf Bundesebene, die ohnehin nur kneift, sobald sie die Chance erhält, ihre Vorstellungen umzusetzen.
Ceterum censeo, Kickl esse delendam.
Lothar Höbelt war Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien und in mehreren Positionen beratend für die FPÖ tätig.