Der Konjunktiv und die Steilvorlage für Kickl

Das eine muss man der heimischen Politik lassen: Als Gruselfilm mit überraschenden Wendungen schlägt sie die meisten einschlägigen Drehbücher bei weitem. Kaum ist man dabei, politisch unbedarften Freiheitlichen zu erklären, warum die ÖVP bei allen Koalitionsverhandlungen immer besser aussteigen wird als ihre Partner – weil sie nämlich zwei Optionen hat und die anderen nur eine – , schon wartet sie mit einer Ausnahme auf, von der man nicht weiß, ob sie die Regel bestätigt. Wolfgang Hattmannsdorfer kann einem wirklich leidtun. Er muss jetzt als Feigenblatt für die Totalkapitulation der ÖVP bei den Regierungsverhandlungen herhalten. Die ÖVP wird (um ein Zitat des SPÖ-Finanzministers Rudolf Edlingers über die zu Ende gehende Große Koalition aufzugreifen) in der neuen Bundesregierung "physisch präsent" sein, viel mehr nicht. Insofern kann Kickl als widerlegt gelten: Um Machterhalt geht es der ÖVP wahrlich nicht. Sonst sähe das Ergebnis anders aus.

Für die fatale Obsession beider bürgerlicher Parteien mit den Querelen des Innenressorts wurden sie gebührend bestraft. Die ÖVP sah sich gezwungen, an Herrn Karner festzuhalten (ob die Interpol dafür wirklich Dankgottesdienste abhalten wird?) und gibt dafür das wichtigste Ressort, nämlich die Finanzen, an einen Herrn ab, der bisher offenbar sogar der SPÖ zu links war. Geld wird vornehmlich in den SPÖ-Ressorts fließen – und im Kulturbereich erst recht nicht der geringste konservative Einschlag zurückbleiben. Was von der ominösen Weigerung der SPÖ zu halten ist, auf einen unabhängigen Justizminister einzugehen, wurde von Andreas Unterberger an dieser Stelle schon erläutert.

Die Neos könnten in wirtschaftlichen Fragen als Gegengewicht zu Bablers Genossen vielleicht sogar von Nutzen sein. Doch die "Reformkraft" wird dort werken dürfen, im Europa-Ressort, wo sie sich als Ja-Sager zur desaströsen Politik Van der Leyens profiliert hat. Wo bei der Zuwanderungsfrage wirklich der Hebel anzusetzen wäre, nämlich bei der Kooperation mit gleichgesinnten Regierungen innerhalb der EU, wird mit Frau Meinl-Reisinger jemand sitzen, der dafür wohl keinerlei Sympathien aufbringt. Die Möglichkeit des Rückgriffs auf "Opt-outs", um in dieser Frage etwas zu bewegen oder zumindest Druck auszuüben, wurde in der Regierungserklärung auch vorsorglich gleich bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt. Nehammer kehre zurück, (fast) alles verziehen – der hat sich wenigstens noch ab und zu bei Meloni angesagt.    

Wenn man von der Vorgeschichte dieser Regierungsbildung abstrahierte, wäre das Kabinett Stocker als Steilvorlage für Herbert Kickl kaum zu übertreffen. Allen Anforderungen einer angriffigen Opposition ist da in einem Maße Rechnung getragen worden, das beinahe schon geeignet ist, Verschwörungstheorien ins Kraut schießen zu lassen. Das Fatale ist der Konjunktiv, mit dem dieser Absatz beginnt. Denn was auf den ersten Blick als Kickls Chance erscheint, macht auf den zweiten Blick bloß das Ausmaß seiner Schuld deutlich (wie immer in der Geschichte: nicht der Alleinschuld, aber zweifellos der Hauptschuld!).

Die Herrn Kickl und Babler verbindet bei allem verbalen Schlagabtausch offenbar eine unheilige Allianz, die ihre Dynamik aus abwechselnden, sich steigernden Torheiten ableitet. Bablers übliche Tolpatschigkeiten waren Kickls Chance; Kickls unbegreifliche Fehlleistungen wiederum Bablers Chance auf ein Comeback, mit dem Extrabonus, dass er nicht bloß über die ÖVP, sondern – viel süßer noch – über Michael Ludwig triumphieren darf.

Fazit: In der Forderung: "Kickl esse delendam", sehe ich mich leider mehr als bestätigt – ich gebe Kritikern, die mich darauf aufmerksam gemacht haben, freilich in einem Punkt recht: Es müsste bei Kickl (dem ich keineswegs irgendwelche Ambitionen im Sinne des ominösen "Selbstbestimmungsgesetzes" unterstellen wollte) wohl grammatikalisch richtig "delendum" heißen.

Mit einem Minimum an Vernunft und Kompromissbereitschaft von Blau-Schwarz hätte sich das jetzige Resultat vermeiden lassen. Mag sein, dass man hier auf das kurze Gedächtnis des Bürgers spekuliert, der nach "bewährtem" Muster in vier oder fünf Jahren eine großzügige Amnestie für all die Sünden der beiden bürgerlichen Parteien aussprechen soll. 2024 haben letztlich dann beide über den Umfragewerten abgeschnitten ...

Doch Dankbarkeit ist eben keine politische Kategorie. Kickl hat vorexerziert, wie man das kleinere Übel mit dem größeren vertauscht. Wenn 51 %, oder von mir aus auch 49 % Mitsprachemöglichkeit ein Verrat am Wähler wäre, was bitte sind dann die 0 %, die er jetzt hat? Die ÖVP mag die Sturheit Kickls mit einer gewissen Berechtigung als Milderungsgrund für das blamable Ergebnis ins Treffen führen, das sie jetzt heimgebracht hat.

Doch ein Milderungsgrund ist immer noch keine ausreichende Entschuldigung. Die Wähler, die zwischen schwarz und blau wandern, sind schon seit einiger Zeit die größte Wechselwählergruppe – und sie haben in der Tat allen Grund, sich verraten zu fühlen. Es wäre bloß würdig und recht, wenn auch der bürgerliche Wähler, der bisher um der Sache willen stets für das kleinere Übel optiert hat, beim nächsten Mal dem Beispiel der Parteioberen folgt und sich nicht für das kleinere Übel entscheidet, sondern – "weiß" wählt...

Notabene: Die Parteien in den Bundesländern, die konstruktiv agiert haben, muss man deshalb ja nicht in Geiselhaft nehmen. 

 

Lothar Höbelt war Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien und in mehreren Positionen beratend für die FPÖ tätig. 

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