Nachdem das rumänische Verfassungsgericht (CCR) die von zwei unterlegenen Kandidaten angefochtene erste Runde der Präsidentschaftswahl zunächst als gültig anerkannt hatte, hat es diese zwei Tage vor der Stichwahl überraschend annulliert. Nicht nur die Wahlhandlung selbst, sondern das gesamte Prozedere, beginnend mit der Einreichung, Überprüfung und Zulassung der Kandidaten, muss wiederholt werden. Grund ist die mutmaßlich russische Finanzierung des vor allem über Tiktok geführten Wahlkampfs des überraschend siegreich gewesenen rechtsnationalen Kandidaten Călin Georgescu. Die vom Verfassungsgericht erhobenen Vorwürfe sind allerdings sehr weitschweifig und lassen befürchten, dass das von EU und NATO kaum unbeeinflusst gewesene Vorgehen Rumäniens zum Modell auch in anderen Ländern werden könnte, sobald der "Falsche" gewinnt.
Schon die Chronologie der Ereignisse gibt allen Stoff für Verschwörungstheorien: Das Gericht hatte zunächst eine Neuauszählung der Stimmen angeordnet, obwohl keine Unstimmigkeiten beim Wahl- und Auszählungsvorgang als solchem behauptet worden waren – was angesichts des angeblich von der postkommunistischen PSD dominierten Verfassungsgerichts Anlass zu der Befürchtung gab, die Wahlen würden nun hinterher verfälscht. Immerhin lag die zweitgereihte Kandidatin Elena Lasconi nur 2700 Stimmen vor dem PSD-Mann Ciolacu, der damit die Stichwahl verpasste.
Das Gegenteil scheint allerdings der Fall gewesen zu sein, denn bei der Neuauszählung hat Lasconi innerhalb Rumäniens (die Neuauszählung der Stimmen der Auslandsrumänen war zum Zeitpunkt der Annulierung noch nicht abgeschlossen) den Abstand zu Ciolacu um 2911 Stimmen vergrößert. Eher scheinen daher bei der ursprünglichen Auszählung (konkret etwa im Geburtsort des kommunistischen Diktators Nicolae Ceauşescu) Stimmen versehentlich der PSD zugeschlagen worden zu sein.
Die zwischen den beiden Wahlgängen der Präsidentenwahl angesetzte Parlamentswahl brachte die PSD an die erste Stelle, doch die mögliche Hoffnung mancher, dass mit der Neuauszählung nun doch Ciolacu die Stichwahl erreicht (und diese dann wohl gewinnen würde), erfüllte sich nicht. – Die Stichwahl selbst wäre vielleicht ein Kopf-an-Kopf-Rennen geworden, wobei zuletzt Lasconi um zwei Prozentpunkte voran lag. Allerdings dürften die (eher rechtskonservativen) Präferenzen der Auslandsrumänen in die Umfragen nicht eingeflossen sein, und innerhalb Rumäniens ging man davon aus, dass die PSD-Anhängerschaft nun überwiegend für Georgescu stimmen würde.
Nachdem laut Wikipedia am 4. und am 5. Dezember Interventionen der USA und der EU erfolgt waren, annullierte der CCR am 6. Dezember die gesamte bisherige Präsidentenwahl. Zwar scheint es sehr wahrscheinlich, dass Georgescus Wahlkampf sich nicht nur "politisch", sondern auch formalrechtlich illegitimer Mittel bediente (namentlich, was die Ausweisung von Wahlwerbung als Wahlwerbung sowie die Offenlegung von deren Finanzierung anbelangt), doch ein übler Beigeschmack bleibt.
Dieser Beigeschmack wird durch die gelieferte Begründung des CCR nicht nur nicht zerstreut, sondern sogar bekräftigt: Die Wähler seien vermittels einer missbräuchlichen Ausnutzung von Social-Media-Algorithmen "falsch informiert" und der Wählerwille hierdurch verzerrt worden. Den Vorwurf der "Falschinformation" kennt man noch zu gut aus Zeiten des ehemaligen Ostblocks sowie aus dem heutigen Russland. Entgegenzuhalten ist vor allem, dass selbst eine unzulässige überproportionale Verbreitung bestimmter Inhalte nicht über deren Richtigkeit oder Falschheit entscheidet. Auch gibt es keinerlei Beweis dafür, dass der Wählerwille andernfalls anders ausgefallen wäre, da einzig die erfolgte Wahl den Wählerwillen abbildet.
Ein weiterer Vorwurf lautet, die Chancengleichheit der Wahlwerber sei beeinträchtigt worden. Dies stimmt, doch kann auch in Österreich angesichts der dominierenden Ausrichtung von ORF und den meisten Printmedien von Chancengleichheit kaum die Rede sein. Beim Wahlerfolg der "Falschen" könnte derlei aber auf einmal ein Argument sein, zumal die politische Ausrichtung der traditionellen Medien konservative und EU-kritische Kandidaten in ihrem Wahlkampf ins Internet drängt.
Verwiesen wird außerdem auf die Einmischung aus dem Ausland – ebenfalls ein klassisches Sujet des ehemaligen Ostblocks sowie des heutigen Russlands, dessen Einfluss durch die Annullierung zurückgewiesen werden soll: Die Freiheit der Wähler, sich eine eigene Meinung über die zur Wahl stehenden Kandidaten zu bilden, setze das Recht auf korrekte Information über die Kandidaten voraus, weswegen eine Einmischung staatlicher oder nichtstaatlicher Stellen in die Durchführung von Wahlpropaganda sowie "Desinformationskampagnen" ausgeschlossen werden müssen. Der Schritt, dass auch die korrekt ausgewiesene Wahlkampagne des "Falschen" eine "Desinformationskampagne" sei, ist sodann nur noch ein kleiner, erst recht, wenn die vertretenen Inhalte "pro-russisch" seien und Europa sich bereits jetzt im Krieg mit Russland befinde.
Wie sehr das rumänische Verfassungsgericht juristisches Neuland betritt, zeigt sich auch daran, dass in der gesamten Argumentation bloß ein einziges Mal (!) auf die wohl eigentlich relevante Präsidentschafts-Wahlordnung (Gesetz Nr. 370 aus 2004) verwiesen wird und selbst an dieser Stelle auf keinen einzigen der 73 Paragraphen konkret Bezug genommen wird, wie dies (zumindest in Österreich) in Rechtstexten sonst üblich ist. Indessen werden allgemeine Staatszielbestimmungen zitiert sowie auf die "Ideale" der Revolution 1989 rekurriert.
Westliche Demokratien können von Rumänien noch viel lernen, fällt es (etwa Deutschland) sichtlich nicht so leicht, unerwünschte Parteien zu verbieten oder unerwünschte Personen vom passiven Wahlrecht auszuschließen – was Georgescu, dessen Mitstreiter bereits mit Hausdurchsuchungen bedacht worden sind, nun vermutlich bevorsteht. (Möglicherweise auch weiteren rechtsstehenden Kandidaten, zumal jetzt einige Monate Zeit bleibt, um passende Verfehlungen zu sammeln – so, wie in Österreich neuerdings schon das Absingen eines 1814 entstandenen Studentenliedes im Raum steht, ein schweres Staatsverbrechen zu sein.)
Dabei ist Georgescu eher ein "Rechtsgrüner" mit einer (in Rumänien weit verbreiteten) nationalreligiösen Verwurzelung. Auch Antonescu und die Eiserne Garde, die zu glorifizieren man ihm vorwirft, scheinen eher Dollfuß und der Heimwehr vergleichbar als den religiös desinteressierten deutschen Nationalsozialisten. Dass der rumänische Klerikalfaschismus der Zwischenkriegszeit auch Gutes getan habe und man die Geschichte nicht tabuisieren solle, sind Aussagen Georgescus, die man mutatis mutandis noch vor wenigen Jahren auch vielen freiheitlichen Politikern entlocken hätte können.
Die Popularität Georgescus gerade unter Auslandsrumänen wird gemeiniglich so erklärt, dass diese in prekären ökonomischen Verhältnissen leben (dies trifft auf sehr viele Zuwanderer allerdings längst nicht mehr zu!) und vor allem über das Internet Zugang zu ihrem Herkunftsland haben (wo sie dann eben Georgescu begegnet sind). Dass in Westeuropa lebende Rumänen – gerade in ihrer nationalkonservativen Verwurzelung – klar erkennen, in welche Richtung die Reise des Westens heute geht und weder die Existenz von 60 "Geschlechtern" noch ein Menschenrecht auf Abtreibung goutieren, findet bezeichnenderweise keinen Eingang in die mediale Berichterstattung. Eine antirussische Grundhaltung liegt hingegen aufgrund der Erfahrung des Sowjetkommunismus in deren DNA. Schon Ceauşescus Kommunismus war massiv nationalkonservativ-folkloristisch imprägniert und keineswegs linientreu an der UdSSR orientiert. Die romanische Sprache des Landes trägt das ihre dazu bei.
Was in Rumänien vorexerziert wurde, ist in westlicheren Ländern auch deshalb so gefährlich, weil der Begriff "Demokratie" eine schleichende Bedeutungsverschiebung erfahren hat, die eine bloße Bedingung ihres faktischen Funktionierens, nämlich über bei Wahlen unterlegene Gruppen sowie über Minderheiten nicht "drüberzufahren", zu deren eigentlichem Inhalt erklärt. Die in Wien lehrende Philosophin Angela Kallhoff bringt dies in einem Zeitungskommentar glasklar zur Sprache: Wahlen sind Kallhoff zufolge "nicht das Herzstück der Demokratie". Demokratie mit freien Wahlen zu identifizieren, sei "nicht nur falsch, sondern verleite auch zu einer Einschätzung der Bedeutung von Wahlen, die nicht angemessen ist."
"Herzstück der Demokratie" sei vielmehr "eine Verfassungswirklichkeit, die jede Bürgerin und jeden Bürger (...) mit gleichem Respekt und gleichem Anstand behandelt." Zudem müsse "auch die politische Kultur demokratisch sein" und also an der Gleichheit aller Menschen orientiert sein. Endlich versteht man, wieso Parteien, die ein Wahlrecht für Nichtstaatsbürger oder ein Grundrecht auf Abtreibung ablehnen, nicht zu den "demokratischen Parteien" gehören, obwohl sie sich doch freien, gleichen und geheimen Wahlen stellen und Wahlniederlagen jederzeit akzeptieren! Oder warum eine rassistische Entgleisung selbst einer Privatperson ein "Angriff auf die Demokratie" sei.
Darüber hinaus bedürfe es laut Kallhoff, um von einer Demokratie sprechen zu können, Bürger, die "in argumentativer, informierter und dialogischer Weise" darum ringen, "die besten politischen Lösungen zu finden", wobei Kallhoff als diesbezüglich auseinanderzusetzende Themen unter anderem die neue Sicherheitslage und den Klimawandel nennt. Da ist es klar, dass die ohnehin überschätzten Wahlen die schöne neue Welt der Demokratie auch gefährden können – etwa durch Manipulation, um "Ängste und Ressentiments zu schüren und destruktive Narrative gezielt in Volkes Wille zu verankern." Die Wähler können also auch falsch informiert werden.
Zur Frage, ob Wahlen vielleicht besser abgeschafft werden sollten, bemerkt Kallhoff, dass "diese Option und der Ersatz von Wahlen durch andere partizipatorische Verfahren inzwischen in der Wissenschaft gut argumentiert wurden". Andreas Bablers Vision von Bürgerräten, die die demokratische Entscheidungsfindung ergänzen (oder konterkarieren?) sollen, ist offenbar in der Tat ein wissenschaftlicher Sozialismus, wenngleich Kallhoff einräumt, dass wir aktuell (noch?) "keine ähnlich bewährten Verfahren" wie demokratische Wahlen haben.
Ein ähnliches Schicksal erfährt auch der Begriff des "Rechtsstaats", wird doch neuerdings von der EU stets das Prinzip der "Rechtsstaatlichkeit" eingefordert. Gewiss: "Rechtsstaatlichkeit" muss nichts anderes bedeuten als das Vorhandensein eines funktionierenden Rechtsstaats. Es handelt sich dennoch um eine neue Wortschöpfung, die demnach eine Differenz zum alten Wort vermuten oder vielmehr befürchten lässt. Allemal ist "Rechtsstaatlichkeit" als Allgemeinbegriff abstrakter als das (mit Hegel gesprochen:) konkret Allgemeine des Rechtsstaats. Wer auf Höflichkeit größten Wert legt, muss selbst nicht höflich sein, ja er kann sogar äußerst unhöflich sein, wenn es darum geht, für die Höflichkeit in der Gesellschaft zu streiten.
Damit aber ist das Arsenal komplett, um in einer Zeit des Krieges die Demokratie in Europa zu verteidigen: Der Rechtsstaat gebietet zwar, freie Wahlen abzuhalten und deren etwaige Aufhebung anhand des Wortlauts der relevanten Gesetze penibelst zu argumentieren, doch die Rechtsstaatlichkeit könnte sich auch schon einmal gegen den Rechtsstaat stellen, um die Demokratie vor der Demokratie zu verteidigen.
Der lachende Dritte in dieser so gar nicht dialektischen Begriffsverwirrung ist – Wladimir Wladimirowitsch Putin, der sich in seinem Griff nach Europa geradezu als Friedensbringer inszenieren wird können, wenn dieses schon ohne sein Zutun in Ohnmacht, Hass und Bürgerkrieg versinkt. Oder würden unter den Vorzeichen ihrer neuen Präsidentschaft noch einmal die USA zum Leuchtturm der Freiheit für Europa werden?
Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph, Lehrer und Buchautor.