Wenn man einen Schritt zurücktritt und das tagespolitische Geschehen aus der Distanz beobachtet, die psychohygienisch ohnehin unerlässlich ist, stößt man überall auf dasselbe Phänomen, nämlich die Verdrängung der Wirklichkeit durch eine "Erzählung". Heimito von Doderer nannte dieses Phänomen "Apperzeptionsverweigerung". Der Erfolg der Grünen, der ihren tagespolitischen Niedergang überdauern dürfte, beruhte genau auf ihrer Fähigkeit, die eigenen Erzählungen weit über ihre eigentliche Anhängerschaft hinaus in den Köpfen zu verankern.
Das begann mit dem Märchen von den tödlichen Gefahren der friedlichen Nutzung der Atomenergie, ging weiter mit der Eloge auf eine bunte, durch Einwanderung wirtschaftlich, kulturell und sozial bereicherte Gesellschaft und kulminierte in der Gruselgeschichte vom brennenden Planeten, der höchstens noch gerettet werden könne, wenn eine totalitäre ökologische Verbotsdiktatur die letzten Reste bürgerlicher Freiheit ausmerzt.
Mittlerweile spielt es schon keine Rolle mehr, ob die Grünen als politische Kraft überleben oder nicht, denn ihre Ideologie hat längst tiefe Wurzeln geschlagen. Angereichert um woke Inhalte wuchert sie in allen Parteien, auch in den konservativen, freiheitlichen und liberalen, und sie dürfte nach den deutschen Wahlen in einem Tandem Merz-Habeck abermals die Politik der Regierung in Berlin konditionieren. Grün-woke Erzählungen dominieren die Medien, die sich schon deshalb lieber mit ihnen beschäftigen, weil die Erfassung der Wirklichkeit mühsame Recherchen erfordert, deren Ergebnisse die Gewissheiten der Haltungsjournalisten erschüttern könnten.
Wie die Medien beherrschen grün-woke Ideologien auch die sozialwissenschaftlichen Institute der Hochschulen, die sich in Kaderschmieden des woken Nachwuchses verwandeln, und natürlich auch die christlichen Kirchen, die jede Gelegenheit nützen, um sich dem Zeitgeist geschmeidig anzupassen. Grünes und wokes "Neusprech" und "Neudenk" wuchert schließlich in der nationalen und der europäischen Justiz; unser Rechtssystem ist mittlerweile so weit erodiert, dass es vor Gericht statt um Wahrheitsfindung um die Oktroyierung dessen geht, was ideologisch gelenkte Richter und Staatsanwälte für wahr halten.
Erst recht gefährlich, nämlich lebensgefährlich für die westliche Zivilisation, sind die geopolitischen Erzählungen vom Ende des Ost-West-Gegensatzes und dem Beginn einer friedlichen multipolaren Ordnung, der bisher angeblich nur am amerikanischen Imperialismus gescheitert ist. Mit diesem Narrativ wartete Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz auf. Derselbe Kremlchef, der 2014 die Krim annektieren, den Krieg im Donbas beginnen und 2022 die Ukraine überfallen sollte, hatte damals die Chuzpe, von den USA und ihren Verbündeten die Einhaltung des Völkerrechts zu fordern.
Wörtlich sagte er: "Ich bin überzeugt, dass der einzige Mechanismus zur Entscheidung über die Anwendung von Gewalt als letzte Maßnahme nur die UN-Charta sein darf. (…) Legitim ist eine Anwendung von Gewalt nur dann zu nennen, wenn ihr ein UNO-Beschluss zu Grunde liegt." Ich vermute, dass jeder, der diese Sätze heute in Russland öffentlich zu wiederholen wagte, auf dem schnellsten Weg im Gulag landen würde.
Seit 1989ff. sind wir es gewohnt, Geschichte in Brüchen zu erzählen. Zweifellos hat es diese Brüche gegeben; es reicht, daran zu erinnern, dass sich die osteuropäischen Staaten von den kommunistischen Regimen und dem russischen Joch befreit und sich durch den Beitritt zur Nato jene äußere Sicherheit verschafft haben, die sie für ihren demokratischen, rechtstaatlichen und marktwirtschaftlichen Umbau gebraucht haben. Jeder, der sie sehen will, sieht die Demarkationslinie zwischen diesen Ländern und jenen, die den Schutz der Allianz entbehren. Krieg und bürgerkriegsähnliche Konflikte gibt es im Osten ausschließlich in den Ländern, denen der Zugang zur Nato verwehrt wurde und die sich jetzt ungeschützt dem Druck des russischen Neoimperialismus ausgesetzt sehen.
Den historischen Zäsuren stehen halt auch Kontinuitäten gegenüber, die von den "Realisten" unter unseren Geopolitikern gerne übersehen werden. Vergessen wir einmal die kommunistischen Diktaturen in China, Nordkorea und Kuba, die nach wie vor ihre Völker unterdrücken und mit dem Säbel rasseln. In Russland gibt es keine kommunistische Partei mehr, dafür herrscht dort eine aus dem KGB hervorgegangene kriminelle Elite, die mit Oppositionellen genauso umgeht wie weiland Breschnew.
Zur schönen neuen "multipolaren Welt" gehören auch die mit Russland und China kooperierenden Diktaturen des "globalen Südens" in Afrika, Asien und Lateinamerika; in der muslimischen Welt ist hier an erster Stelle der islamistische Iran mit seinen schiitischen Terrororganisationen zu nennen, gefolgt von der neo-osmanische Türkei und ihren sunnitischen Satelliten, die sich allesamt dem Dschihad gegen den Westen verschrieben haben.
Gewiss, jeder einzelne dieser Akteure verfolgt seine eigenen Interessen, aber das war auch schon im Kalten Krieg so, man denke nur an die Konflikte zwischen der Sowjetunion, China und Jugoslawien. Einen monolithischen Block hat es weder im Osten noch im Westen je gegeben. Bei allen Unterschieden zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien wurde allerdings die grundsätzliche Zugehörigkeit zur westlichen Zivilisation und ihren Werten damals allerdings nicht in Frage gestellt.
Das hat sich gründlich geändert. Nach Jahrzehnten der woken und postkolonialen Umerziehung wagen es heute nur noch wenige, in der Auseinandersetzung mit Peking, Moskau und dem Islamismus offen für den Westen Partei zu ergreifen und ihn notfalls mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Es ist schon so, dass sich die internationalen Kräfteverhältnisse seit 1989 verschoben haben, denn dank des legalen und illegalen Imports westlicher Technologie haben es immer mehr Länder geschafft, gegenüber den USA und Europa aufzuholen. Aber das ist nicht die eigentliche Gefahr für den Westen. Sein wirkliches Problem ist, dass er von innen her verfault und von Leuten beherrscht wird, die seinen traditionellen Werten den Kampf angesagt haben.
Karl-Peter Schwarz ist Autor und Journalist; er war früher bei "Presse", ORF und FAZ tätig.