Seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat der Begriff und die Methodik der Oral History in die zeitgeschichtliche Forschung Eingang gefunden. Zuerst an US-Universitäten, mit der Zeit aber auch in Europa.
Das Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte an der Universität Graz stellt dazu fest: Wörtlich übersetzt bedeutet Oral History "Mündliche Geschichte". Gemeint ist im Englischen damit aber mehr, nämlich so viel wie während eines Gesprächs/Interviews durch eine Person erinnerte und von dieser mündlich wiedergegebene Vergangenheit. Die Oral History ist daher grundsätzlich ein retrospektives Erhebungsverfahren.
Es werden vergangene Ereignisse nicht durch spätere ("nachgeborene") Historiker analysiert und bewertet, sondern werden durch Erinnerungen von dabei gewesenen Personen gleichsam wieder lebendig gemacht.
Natürlich mit allen möglichen Fehlerquellen, die das persönliche Erinnerungsvermögen in sich hat. Nicht zuletzt ist das Gedächtnis etwas höchst Subjektives, das uns auch dazu verleitet, die Vergangenheit zu schönen oder noch negativer zu sehen, als sie es tatsächlich war. Wie objektiv kann sich ein alter Mensch nach Jahrzehnten an Kindheitsereignisse erinnern? Andererseits beschert uns das Gehirn mit dem Älterwerden auch ein besser werdendes Langzeitgedächtnis, während wir am Abend manchmal nicht mehr wissen, was zu Mittag am Esstisch war ...
Oral History hat einen wesentlichen zusätzlichen Aspekt zu Gesprächen zwischen Großeltern und Enkel: die Gespräche werden dokumentiert und in Archiven für weitere Forschungen zugänglich gemacht. Persönliche Erinnerungen und Schicksale werden damit öffentlich.
Mich beschäftigt das Thema "Zeitzeugen" seit längerem. Dieser Begriff wird bei uns überwiegend, ja fast ausschließlich für Opfer des NS-Regimes verwendet. Das DÖW leistet hier viel Arbeit, und auch die Politik sieht sich im Hinblick auf Österreichs Vergangenheit besonders den NS-Zeitzeugen verpflichtet.
So rücken ganz, ganz viele andere Ereignisse und Erlebnisse älterer und alter Frauen und Männer, die ebenfalls einer auf persönlichen Erinnerungen basierenden Dokumentation wert wären, in den Hintergrund.
Etliches fällt mir als Zeitzeuge der Kriegskindgeneration spontan, ohne lange darüber nachzudenken, ein:
- Der Schutz vor den Bomben im Hauskeller oder in einem Bunker;
- der englische Jagdfliegerangriff bei Friedberg auf "unseren" Zug, den der Lokführer nicht überlebte, aber er brachte den Zug noch bis zum Bahnhof Friedberg, wo ich mit meiner Mama und den anderen Passgieren Schutz fand – sein Schicksal war bis heute am Bahnhofsgebäude keiner Gedenktafel wert (dokumentiert in: Luftschutz und Luftkrieg in der Steiermark: 12. Oktober 1944: Um 14.30 Uhr greifen aus Norden kommende leichte englische Kampfflugzeuge im Tiefflug in Rohrbach an der Lafnitz einen fahrenden Personenzug an; der Lokführer Alfred Brenner wird getötet, fünf Männer und zwei Frauen werden verletzt.);
- als zur abendlichen Verdunklung die schwarzen Papierrollos zwischen den Fensterflügeln herabgelassen wurden, und die Lampen der Straßenbeleuchtung einen dunklen Anstrich bekamen;
- wie das auf der Straße liegende tote Pferd als wertvolle Fleischquelle von Anrainern zerteilt wurde;
- als die Russen die Fässer der Vermouthkellerei freigaben und sich die Nachbarn ihre Kübel anfüllten;
- aber auch der Rotarmist, der plötzlich vor uns mit der "Puschka" im Anschlag im Keller auftauchte und sich (Gottseidank!) nach energischen russischen Zurufen eines beherzten Nachbarn sogleich wieder verdrückte;
- ja, der zum Notausstieg gewordene Kellerdurchbruch der Feuermauer zum Nachbarhaus war uns Kindern fürs Versteckerlspiel willkommen.
Und nach dem Kriegsende:
- die zerbombten Häuser, in denen man zur Wohnung nur über die hölzerne Hendltreppe kam;
- die übermütigen jungen französischen Soldaten auf den Trittbrettern der Straßenbahn;
- der Heimkehrertransport am Ostbahnhof – und der Onkel war nicht dabei;
- der Aufenthalt bei einer lieben Bauernfamilie im Salzburgischen, damit der Wiener Bub wieder "aufgepeppelt" wird;
- dann der Schulbesuch mit Essens-Ausspeisung;
- Kriegsrelikte zum Spielen (wie eine FLAK als Ringelspiel am Maurerberg, oder der Schirachbunker am Galitzinberg);
- die Musterung für das neue Bundesheer;
- der Cadbury-Schokoladehandel in der Schadekgasse beim Flakturm;
- die Amerikahaus-Bibliothek gegenüber der Oper im Opernringhof mit Schallplatten zum Ausleihen;
- die (damals ernst genommenen) idiotischen Wettbewerbe für Kinder, wie das Aufschreiben und Sammeln von Taxikennzeichennummern;
- die ersten Wiener Festwochen mit dem festlich beleuchteten Rathaus;
- den Staatsvertrag im Belvedere;
- zum Fernsehen ins Gasthaus gehen;
- das Glück, ein "Vierteltelephon" zu haben;
- die Frischmilch im Kännchen von der Milchfrau holen, die aus der vollen Wanne schöpfte;
- das ab 21 Uhr von der Hausbesorgerin versperrte Haustor, zu dem nur sie den Schlüssel hatte
und, und und ...
Ja, in meiner Generation sind viele Zeitzeugen – aber wer fragt, wer will’s wissen und bewahren?
Dr. Günter Frühwirth ist Jurist, Familienforscher, und aktiv an der Gesellschaftspolitik interessiert.