Die jüngsten Sonntagsfragen bergen gleich mehrere Überraschungen: Der Zweiten Republik stehen demnach Premieren bevor, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren, die aber ebenso die Politik massiv lähmen könnten. Werden sämtliche Hoffnungen auf eine stabile und reformfreudige Regierung zunichte? Die Wahrscheinlichkeit ist höher, als vielen bewusst ist.
Die deutlichen Veränderungen, die Österreich am Wahltag bevorstehen, sind schnell benannt: Erstmals gelangt die FPÖ auf Platz eins, mit ziemlich deutlichem Abstand vor SPÖ und ÖVP. Dies erscheint momentan nahezu sicher. Erst einmal – ab dem späten Frühjahr 2015 bis zum Frühjahr 2017 – lagen die Freiheitlichen in den Umfragen über einen so langen Zeitraum und mit einem so hohen Vorsprung an erster Stelle. Damals beendete die Bestellung von Sebastian Kurz zum ÖVP-Obmann den freiheitlichen Höhenflug. Heute ist ein solches Szenario völlig unrealistisch.
Dass die FPÖ ihr Rekordergebnis von 1999 (knapp 27 Prozent) übertrifft, ist keineswegs sicher – aber für den ersten Platz auch nicht notwendig: Im Unterschied zu damals reichen heute weniger als 30 Prozent für den Wahlsieg, weil Rot und Schwarz seither massiv an Zuspruch verloren haben. Die einst stimmenstärksten Parteien gelangen auf jeweils nur noch knapp über 20 Prozent in den Umfragen.
Einmal mehr bewahrheitet sich ein ungeschriebenes Politik-Gesetz: Die Stärken einer Partei beruhen vor allem auf den Schwächen der anderen.
Sieben Parteien und keine Mehrheit für Rot-Schwarz
Zweitens dürfte sich erstmals seit 1945 keine "große" Koalition zwischen SPÖ und ÖVP ausgehen. Macht und Einfluss der einstigen Regierungsparteien spiegeln sich nicht mehr in der Bevölkerung wider. Der rot-schwarze Proporz ist wohl endgültig überholt.
Drittens haben zwei weitere Parteien realistische Chancen auf einen Einzug in den Nationalrat. Damit wären zum ersten Mal sieben Parteien im Parlament vertreten: die neue linksliberale Bierpartei und die weniger neue KPÖ, die – man glaubt es kaum – erstmals seit 1956 wieder ein Grundmandat schaffen könnte; zuletzt hatten es die Kommunisten bei der Wahl 1959 verloren.
Das wären die Premieren, auf die sich viele Beobachter bereits einstellen. Was wenigen Bürgern hingegen bewusst ist: Stabile Koalitionen könnten nach der Wahl praktisch unmöglich sein. Das ist näher besehen durchaus wahrscheinlich.
Mehrheit für Blau-Schwarz höchst ungewiss
So liegt etwa eine Mehrheit für Blau-Schwarz auf des Messers Schneide. Bei zwei der neuen Umfragen (OGM und Market/Paul Lazarsfeld Gesellschaft) scheitern FPÖ und ÖVP an der 50-Prozent-Hürde. Erstmals seit Ende der Kreisky-Jahre (1970 bis 1983) könnte Österreich keine Mitte-Rechts-Mehrheit haben. Damit wäre aber auch eine Koalition mit freiheitlicher Beteiligung fast ausgeschlossen.
Dass Blau und Schwarz eine Kleinpartei zu einer Dreierkoalition bewegen können, ist kaum denkbar. Abgesehen von den NEOS käme für diese beiden Parteien in Wahrheit niemand ernsthaft in Frage, und die Pinken wollen wiederum nicht mit den Blauen koalieren. Selbst mit einer neuen Parteispitze gäbe es starken Widerstand bei den NEOS.
Was alles noch komplizierter macht: Volkspartei und Freiheitliche müssen sich ja noch einig werden, denn die Schwarzen schließen zurzeit einen FPÖ-Chef Herbert Kickl als Kanzler aus.
Eine blau-rote Koalition dürfte die SPÖ zerreißen. Mit einem SPÖ-Chef Andreas Babler ist sie sogar für die FPÖ viel zu riskant.
Eine Links-Koalition aus fünf Parteien, einschließlich KPÖ?
Keine Mehrheit für Blau-Schwarz – das hätte noch vor kurzem eine Mehrheit für eine Links-Koalition aus SPÖ, Grünen und NEOS bedeutet. Doch auch hier hat sich innerhalb von zwei Jahren so manches geändert. Ohne FPÖ und ÖVP müssten sich SPÖ, Grüne, NEOS, Bierpartei und KPÖ auf eine höchst fragile Fünfer-Koalition einigen. Dass sich Babler trotz aller Bedenken auf ein solch waghalsiges Abenteuer einlässt, kann man sich schon vorstellen. Schließlich würde er ja dann den Kanzler stellen. Nur eine Einigung wäre mehr als fraglich. Für die NEOS etwa wäre eine Koalition mit Kommunisten geradezu selbstmörderisch.
Koalition unter Babler als Kanzler für ÖVP existenzgefährdend
Somit bliebe noch die Variante einer Dreierkoalition aus SPÖ, ÖVP und einer Kleinpartei. Doch hier ergibt sich das nächste Problem: Die ÖVP müsste wohl Babler als Kanzler schlucken, weil er mit einem gewissen Recht auf ein zwar nicht berauschendes, aber doch akzeptables Wahlergebnis verweisen könnte.
Wenn man nämlich berücksichtigt, dass mit Bierpartei und KPÖ zwei neue Linksparteien in den Nationalrat einziehen, und wenn man weiters bedenkt, dass die SPÖ bei der Wahl 2019 auf kümmerliche 21,18 Prozent gelangt ist, dann schneiden die Sozialdemokraten in den jetzigen Sonntagsfragen durchaus solide ab. Fast alle Umfragen sehen ein kleines Plus für die Roten.
Das wird für Babler Grund genug sein, sich an den Chefsessel zu klammern – zum Leidwesen der Bürgerlichen und nicht weniger Sozialdemokraten. Doch davon dürfte sich der Traiskirchner Bürgermeister nicht allzu sehr beeindrucken lassen. Dass er die SPÖ "erneuern" will, und zwar über mehrere Jahre hinweg, hat er bereits deutlich gemacht. An hoher Selbsteinschätzung und Geltungsdrang mangelt es ihm nicht. Deshalb wird er mit einem leichten Plus im Schatten von zwei neuen Linksparteien sicher nicht den Hut nehmen, schon gar nicht freiwillig.
Für die ÖVP wäre eine solche Koalition Selbstmord. Bablers Positionen – mehr Sozialstaat, mehr Zuwanderung, mehr Geld für jene, die nicht oder weniger arbeiten, neue Steuern – sind absolut konträr zu den jetzigen der ÖVP. Ein Kompromiss ist nur als politischer Stillstand denkbar. Schließlich kann man nicht gleichzeitig nach Süden und nach Norden ziehen.
Überdies: Wer soll Babler ersetzen? Der Tiroler SPÖ-Chef und Landeshauptmann-Stellvertreter Georg Dornauer wäre aus ÖVP-Sicht sicher ein Wunschpartner, doch momentan hat er zu wenig Gewicht in seiner Partei. Erst müsste sich Dornauer als Minister unter Beweis stellen – was er auch anstrebt, aber vor der kommenden Wahl nicht erreichen kann.
Stabile Koalition nur unter bestimmen Voraussetzungen möglich
Eine stabile Koalition – ob mehr rechts oder links, ob wünschenswert oder nicht – ist eigentlich nur unter einer der folgenden Bedingungen denkbar: Entweder Blau und Schwarz erhalten zusammen die nötige absolute Mehrheit, oder zweitens eine Links-Koalition mit weniger als fünf Parteien und am besten ohne KPÖ geht sich doch aus, oder die SPÖ verliert, wechselt ihren Parteichef aus, um mit der ÖVP eine Koalition eingehen zu können. Das erste der drei Szenarien ist mit Blick auf die jetzigen Sonntagsfragen noch das realistischste. Sollte es nicht eintreten, droht politische Stagnation, bedauerlicherweise inmitten einer krisenbeladenen Zeit, in der Österreich längst mutige und entschiedene Reformen bräuchte.
Mag. Stefan Beig, Jahrgang 1978, arbeitet seit 2005 als Journalist in Wien, unter anderem für die "Wiener Zeitung", Missio, das Austrian Institute of Economics and Social Philosophy und zuletzt für den eXXpress.