Europa braucht Schubumkehr für die Freiheit

Kürzlich vertrat Niall Ferguson in einem Interview die Meinung, heutige junge Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks seien "sehr selbstgefällig, was die Freiheit angeht. Sie scheinen sich nicht groß dafür zu interessieren." Dies behauptete der britisch-amerikanische Historiker angesichts der neuen Bedrohungen der Freiheit durch den russischen Expansionsdrang, aber auch anderer geopolitischer Bedrohungen – meiner Ansicht nach zu Recht. Denn freiheitsfeindliche, autokratische bis totalitäre Regime gewinnen international an Einfluss.

Doch passt das nicht in die Erfahrungswelt heutiger Menschen, nicht nur der Jüngeren. Nicht nur geopolitische Bedrohungen der Freiheit sind jedoch aktuell, auch solche durch wirtschafts-, klima- und sozialpolitische Irrwege. In Deutschland ist gerade eine Regierung dabei, ihr Land ökonomisch zugrunde zu richten, unternehmerische Freiheit und Kreativität und damit Innovation – auch "grüne Innovation" – sowie Wachstum durch Regulierungen und Bürokratie zu ersticken. Ebenfalls hat in Deutschland eine Hysterie "gegen rechts" begonnen, das Innenministerium versucht im Verbund mit dem Verfassungsschutz die Bürger zu kontrollieren und präventiv Meinungen zu unterdrücken, die sie wegen "Delegitimierung des Staates" für gefährlich hält. Das ist verfassungswidrig, auch wenn es vom Verfassungsschutz betrieben wird.

Zudem werden durch sozialpolitische Abenteuer – Stichwort "Bürgergeld" – nicht nur die Sozialausgaben weiter aufgebläht und damit der Staat in die Überschuldung getrieben – die Sozialausgaben des Bundes belaufen sich in Deutschland 2024 auf den Rekordwert von 54,3 Prozent der Gesamtausgaben –, sondern es werden auch Arbeitsanreize geschwächt und eine Hängemattenmentalität gefördert.

Auf diese Weise kann die Freiheit nicht verteidigt werden. Es werden Bürger erzeugt, die von Anspruchsdenken getrieben sind und sich in der falschen Sicherheit wiegen, sie seien ohnehin versorgt. 1840 sprach Alexis de Tocqueville im zweiten Band seines Werkes "Über die Demokratie in Amerika" von der Gefahr eines neuen Despotismus, der aus der egalitären Demokratie hervorgehen könnte: Sie würde "eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen" hervorbringen, "die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen", und über diesen "sich eine gewaltige, bevormundende Macht" erhebt, "die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen". Diese Macht, schreibt der französische Beobachter, "ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild".

Sie versuche nicht wie ein Vater, "die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten", sondern sie vielmehr "unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten". Sie ist eine Macht, die "gerne für deren Wohl" arbeitet, dafür aber "deren alleiniger Betreuer und einziger Richter sein" will. Ja mehr noch: "Sie sorgt für ihre Sicherheit, ermisst und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihr Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlass: könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen?"

Das Verheerende sei, dass dieser wohltätige Despotismus "den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener" werden lasse. Er "beschränkt die Betätigung des Willens auf einen kleinen Raum, und schließlich entzieht sie jedem Bürger sogar die Verfügung über sich selbst. Die Gleichheit hat die Menschen auf dies alles vorbereitet: sie macht sie geneigt, es zu ertragen und oft sogar als Wohltat anzusehen."

So weit Tocqueville. Diese Kritik der Gleichheit stammt zwar aus der Feder eines französischen Aristokraten, der aber die Amerikaner wegen ihrer Freiheitsliebe bewunderte. Seine Dystopie einer egalitären Gesellschaft mag eine Übertreibung sein, aber als Vision des modernen Wohlfahrtsstaats des 21. Jahrhundert trifft sie beachtlich ins Schwarze.

Industrielle Revolution und kapitalistische Marktwirtschaft haben viel Wohlstand geschaffen. Dieser kann aber auch missbraucht werden, indem er zu einer Umverteilungspolitik führt, einem Betreuungsstaat, der weder sozial noch ökonomisch nachhaltig ist. Denn ohne Wachstum kann nichts verteilt werden. Besser ist Ungleichheit mit stetigem Wachstum, das allen zugutekommt, als Umverteilung ohne Wachstum, was wiederum dasselbe ist wie Verlust von allgemeinem Wohlstand, bis es nichts mehr zu verteilen gibt. Doch Wachstum und Wohlstand gibt es nur, wo es Freiheit gibt: Sie ist letztlich die Lösung.

Das sind natürlich wohlbekannte Zusammenhänge. Jemand könnte allerdings einwenden: So schlimm ist es ja auch wieder nicht und kann es auch nicht werden. Doch man blicke nach Argentinien: Dort ist es aufgrund einer Politik – der peronistischen – unter dem Schlachtruf "soziale Gerechtigkeit" so schlimm, ja noch schlimmer gekommen. Das wirtschaftliche Desaster wird als Folge der ersten Deregulierungsschritte des neuen Präsidenten Javier Milei erst in seiner ganzen Größe deutlich. Genau das ist aber auch der erste Schritt zur Besserung und Heilung.

Bei uns sollte es nicht so weit kommen. Und es wird nicht so weit kommen, wenn wir, besonders die jüngeren Menschen, wieder lernen, Lust an der Freiheit zu bekommen. Wenn wir nicht alles vom Staat erwarten und bereit sind, Eigenes zu schaffen und dafür Risiken einzugehen und Verantwortung zu übernehmen.

Früher oder später, eher früher, wird sich ohnehin vieles ändern. Angesichts der neuen sicherheitspolitischen Bedrohungen und der voraussichtlichen Verminderung des Engagements der USA für die Sicherheit Europas wird vielleicht die allgemeine Wehrpflicht dort, wo sie abgeschafft wurde, wieder eingeführt werden – leider, muss man sagen, aber wahrscheinlich unausweichlich. Wollen wir eine übermäßige, den Sozialstaat unterminierende Inflation vermeiden, werden die Sozialausgaben zurückgefahren werden müssen. Denn die Ausgaben für die Verteidigung werden steigen. Wir wollen nicht zum Vasallen Russlands werden.

Diejenigen Libertären – gottseidank gehört der argentinische Präsiden Milei nicht zu ihnen –, die die USA als den Hauptgegner betrachten und gleich wie zum größten Teil die internationale Linke Verständnis für Russland zeigen, sollten sich bewusst sein, dass man sich angesichts der mörderischen und verbrecherischen Handlungsweise des russischen Regimes am Verrat an der Freiheit mitschuldig macht.

Nicht anders, als wer vor bald einem Jahrhundert Verständnis oder gar Begeisterung für Hitlers Programm zeigte – darunter vor Kriegsausbruch immerhin auch Liberale wie der frühere englische Ministerpräsident Lloyd George, der nach einem Besuch beim "Führer" in Berchtesgaden voller Bewunderung um Verständnis für den sich dann sehr bald als Verbrecher entpuppenden Despoten warb!

Heute sind die russischen Verbrechen schon längst offensichtlich, und dennoch bleiben viele dem Narrativ ergeben, das Ganze sei nur eine US-amerikanische Manipulation, der Gute sei in Wirklichkeit Putin, der sich vor westlicher Aggression und Dekadenz verteidige.

Es gibt immer Menschen, die sich blenden lassen, und andere, die nur schon deshalb, weil eine Meinung von einer großen Mehrheit – auch der Medien – geteilt wird, der Reaktion verfallen, gerade deshalb müsse sie falsch sein, ja dahinter stünde eine Manipulation. In diesem Fall zeugt das von einem gewaltigen Mangel an Unterscheidungsvermögen und gesundem Menschenverstand – Verblendung eben. Und zwar nicht weniger Verblendung als die damalige Begeisterung Lloyd Georges für den "Führer", der ganz Europa ins Unglück stürzte und den ungeheuerlichen Massenmord an den Juden beging.

Ich denke, es muss zum jetzigen Zeitpunkt einfach ausgesprochen werden, auch auf die Gefahr hin, dadurch Freunde zu verlieren: Wer für Putin Verständnis zeigt und seine lügnerischen Narrative verbreitet, steht auf der falschen Seite der Geschichte, hat nichts aus ihr gelernt und das Recht verloren, das Wort "Freiheit" in den Mund zu nehmen.

Die Freiheit kann man nicht mehr verteidigen, wenn sie nicht mehr da ist: Dann ist es zu spät. Man sieht das in Russland, ganz deutlich am eben "verstorbenen", letztlich aber – wie auch immer – ermordeten Freiheitskämpfer Alexej Nawalny. Der Verlust der Freiheit ist schleichend. Deshalb sind auch Frühsymptome ernst zu nehmen und ist auf sie zu reagieren. Zu diesen Symptomen gehört auch der Versuch, Offensichtliches zu leugnen und der Lüge und Propaganda denen Raum zu geben, die die Freiheit hassen und ebendeshalb auch den Westen verachten.

Schubumkehr in Europa ist also dringend vonnöten wie auch die Erkenntnis, dass Freiheit nicht zum Nulltarif bewahrt werden kann. Ihre Bewahrung kostete Anstrengung, oft auch Verzicht und natürlich immer auch Geld, das uns Bürger des sozialen Betreuungsstaates nun einfach fehlt, wenn nicht auch hier ein klarer Kurswechsel stattfinde. Den Klimawandel werden wir nebenbei bewältigen, sofern wir die Innovationskraft des Kapitalismus nicht durch Freiheitsentzug und obrigkeitliche Steuerungsmanie zerstören.

 

Prof. Dr. Martin Rhonheimer ist Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien. Einen ähnlichen Text veröffentlichte Rhonheimer auch als Newsletter des Austrian Institute. Er ist Universitätsprofessor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom (seit 2020 als Visiting Professor). Er ist Priester der katholischen Personalprälatur Opus Dei.

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