Nur Kritik kann die Europäische Union vor dem Ende bewahren

»Das ist ein Sieg für die Ukraine. Ein Sieg für ganz Europa.« So die Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach dem Beschluss der EU-Regierungschefs, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu starten. Für die Ukraine mag das kurzfristig stimmen, aus gesamteuropäischer Position heraus kann ich hier keinen »Sieg« ableiten. Es erscheint mir geradezu fahrlässig, mit einem kriegsführenden Land in solche Verhandlungen zu treten. Und das ist nicht einmal der schwerstwiegende Grund, der aktuell gegen eine Aufnahme dieses riesigen osteuropäischen Landes, das bis zum 23. Februar vergangenen Jahres, also einen Tag vor dem verwerflichen Überfall der Russischen Föderation, als zweitkorruptestes Land Kontinentaleuropas galt.

Die Union will offenbar unter ihrer Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den zahlreichen Baustellen, die das Staatenbündnis seit bald einer Dekade erschüttern, mit dem überhasteten Eröffnen einer weiteren – riesigen! – Baustelle im Osten Europas begegnen. Also Feuer mit Feuer bekämpfen. Was nur bei Buschbränden und ähnlichen Ereignissen erfolgsversprechend sein kann. Mir fallen schlicht keine Argumente ein, die ein solches Vorgehen der EU nachvollziehbar erscheinen lassen. Außer billigen Showeffekten vermeintlicher »Führungsqualität« der untermediokren Präsidentin. Aus der Hoffnung heraus, damit all die echten Probleme der EU zu camouflieren und – wie so oft – uns europäische Bürger für dumm zu verkaufen. Oder zumindest für überaus einfältig.

Das wohl größte Problem der EU, das uns in den nächsten Jahren sowas von um die Ohren fliegen wird, ist die vollkommen unkontrollierte Migration. Einen deutlichen Vorgeschmack auf wahrscheinlicher werdende Szenarien der Auseinandersetzung auf Europas Straßen haben erst jüngst die Reaktionen vieler muslimischer Migranten hierzulande auf das Verbrechen der Hamas am 7. Oktober aufgezeigt. Hier fehlt der EU jede Vision, jede Perspektive, jede Art Plan, sich diesem Thema endlich einmal prioritär zu stellen. Endlich einmal den Menschen Europas reinen Wein einzuschenken, wie es mit diesem nicht enden wollenden Strom an Wirtschaftsflüchtlingen weiter gehen soll. Was die Vorstellungen der Kommissionspräsidentin, der Kommission und auch des Kollegiums der Regierungschefs dazu sind. Das wäre eine, wahrscheinlich die wichtigste europäische Agenda.

Ein anderer Bereich, in dem sich die Union seit Jahren vollkommen taten- wie offenbar hilflos treiben lässt, sind die zahlreichen schon als Mitgliedskandidaten eingestuften Länder Europas. Und nicht nur aus österreichischer (historischer) Sicht ist hier vor allem an den Westbalkan zu denken, wo mit Montenegro, mit Serbien und seit vorigem Jahr auch mit Nordmazedonien bereits Beitrittsgespräche laufen. In dem Zusammenhang sei auch auf das unwürdige Verhalten der EU gegenüber der Republik Kosovo hingewiesen, die noch nicht einmal von allen EU-Staaten anerkannt worden ist. Dabei wäre dieses Binnenland mit seiner fast durchwegs muslimischen Bevölkerung geradezu ein Musterland für einen moderaten, modernen Islam, der mit unseren europäischen Werten ausnehmend kompatibel erscheint. Diesen Aufgaben könnte, sollte und müsste sich eine starke »Europa-Chefin« dringend widmen, aber ihre frappierende Kleingeistigkeit lässt nicht einmal die Auseinandersetzung mit dieser – zugegeben komplexen – Materie zu (die Aufnahme aller Westbalkanstaaten wird kein Kinderspiel werden). Und letztlich ist auch das Verhalten der EU gegenüber der Türkei – die bereits seit 1999 als Beitrittskandidat gilt! –, ebenfalls als unwürdig zu bezeichnen. Warum beendet man diese Verhandlungen nicht auch offiziell oder – was aus meiner Sicht klüger wäre – warum ist man hier nicht visionär genug, eine Art »Sonderassoziierungsabkommen« abzuschließen. An der Personenfreizügigkeit sollte es ja, schaut man sich in Europa um, nicht scheitern.

Zu schlechter Letzt sei noch der dummdreiste »Narrativ« erwähnt, der jeden EU-Kritiker als »EU-Gegner« verleumdet. Und im zweiten Atemzug als Rechtsextremen. Was für eine Ungeheuerlichkeit! Die Europäische Union ist das Beste, was dem Kontinent passieren hat können. Wer sie jetzt aber nicht Tag für Tag kritisiert, der läuft Gefahr, zum wirklichen Totengräber dieses Geschenks ihrer Gründerväter an uns Lebende zu werden.

 

Christian Klepej ist Unternehmer und gibt in Graz das Monatsmagazin Fazit heraus. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

zur Übersicht

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)

Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print




© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung