Zeiten-Konsens gefällig?
Ob man versuchen könnte, einen Konsens zwischen der neuen (relativistischen) "Vielfalt" der physikalischen Zeit und der "normalen", dreidimensionalen Zeit zu finden, ist eine Frage, die nicht nur in der Kultur unserer Wissenschaften-Welt einige denkende Gemüter bewegt. Auch die Astronomie orientiert sich bis heute an der dreidimensionalen Zeit. Sie ist immerhin eine Königswissenschaft der modernen Welt, die maßgeblich den Sturz des geozentrischen Weltbildes des Mittelalters ermöglichte.
Die neue Himmelsmechanik seit Kopernikus und Kepler hat zwar die Sonne anstatt der Erde ins Zentrum der damaligen Welt gesetzt, nicht aber die Vorstellung einer dreidimensionalen Zeit aus ihrer Welt hinauskomplementiert. Letzteres scheint aber mit Einsteins vierdimensionaler Raumzeit möglich und sogar wissenschaftlich bewiesen zu sein. In der Perspektive der neuen Lehre musste die "gute alte (dreidimensionale) Zeit" daher in eine vorwissenschaftliche Innenwelt des Menschen auswandern, wo sie nun verschüchtert hockt und fürchtet, als Wissenschaftsbanausin an den Pranger gestellt zu werden.
Zwar haben auch unsere Astronomen einen "Heidenrespekt" vor Einsteins neuer Zeitenlehre, dennoch halten sie an der alten Zeit fest, wenn sie uns von ihren wissenschaftlich festgestellten Entfernungen und Geschwindigkeiten im All berichten. Der Vorwurf, unsere Astronomen fürchten, ihr astronomieverliebtes Massenpublikum zu verlieren, wenn sie mit Haut und Haar in das Lager der relativistischen Einsteinianer überlaufen, scheint allzu weit hergeholt zu sein.
Außer Frage steht weiters, dass die Zeittheorien der Philosophie(n) seit Jahrtausenden eine dreidimensionale Zeit bevorzugen und deren Wirklichkeit zu begründen versuchen. Dem steht seit dem 20. Jahrhundert gegenüber und entgegen, dass physikalische Zeittheorien eine (ganz) andere Zeit als allein wirkliche Zeit zu begründen versuchen.
Diese ist durch und durch relativistisch, sie hängt teils von den vielfältigen Geschwindigkeiten der Himmelskörper, teils sogar nur von den Geschwindigkeiten ab, mit denen sich "Beobachter" der Zeit(en) durch den Raum bewegen. Jene ist durch und durch nicht-relativistisch, – an der unumkehrbaren Aufeinanderfolge der drei Zeit-Dimensionen läßt sich durch keine Macht, weder der Natur noch der Menschheit, rütteln.
Unter der wissenschaftskulturellen Dominanz der physikalischen Zeit musste die nichtrelativistische Zeit, wie schon erwähnt, in das Exil eines "inneren Zeitbewusstseins" auswandern, wo es noch geduldet, aber als "vorwissenschaftlich" eher verachtet wird. Und die Frage, ob man nun zwischen diesem und jenem Zeitbewusstsein Frieden und Konsens stiften könnte, ist keine nur wissenschaftliche, ist keine nur philosophische Frage.
1. Ichzeit und Weltzeit dürfen Zeitreisen nicht mehr blockieren
Ein Kompromissvorschlag könnte lauten: Das "innere Zeitbewusstsein" der Philosophen und Psychologen und vielleicht sogar einer Mehrheit der Menschheit seit jeher, mag bestehen bleiben, doch darf es sich nicht mehr als Alleinrepräsentant dessen aufführen, was wirkliche Zeit genannt wird. Einige Philosophen mögen weiterhin ihren Glauben pflegen, es existiere ein universales Ich der Menschheit in jedem Menschen, und dieses Innere sei die Heimstatt einer nicht nur inneren dreidimensionalen Zeit. Schon weil ein Inneres ohne Äußeres keinen Anspruch auf objektive Wirklichkeit habe.
Auch in der Weltzeit regiere daher das einfache Früher und Später der nichtrelativistischen Zeit – unverwüstlich und unüberwindbar – weiter. Unerschöpflich würden die Augenblickseimer aus der Höhe einer ankommenden Zukunft in die Tiefe einer vergehenden und schließlich verschwundenen Gegenwart hinabgereicht.
Aber dieses "unsterbliche Vorurteil" der Naturphilosophie seit Jahrtausenden könne und dürfe nicht mehr unterschlagen, dass in den Weiten des äußeren ("physikalischen") Zeitbewusstseins, die Bewegungsgeschwindigkeiten verschiedener Himmelskörper regieren und dirigieren – als Zeitengeber und Zeitennehmer mit göttergleicher Allmacht wirken. Wovon selbstverständlich weder die Geschwindigkeit des Lichts noch die Zeit-Dilatationen der Einstein’schen Relativitäten ausgeschlossen sind, ganz im Gegenteil: Verschiedene Gravitationen erzeugen verschieden rasch vergehende Zeiten und auch verschieden rasch bewegten "Beobachtern" erscheinen verschieden rasch vergehende Zeiten. Und da die räumliche Expansion des Alls neuerdings mittels Rotverschiebungszeiten gemessen wird, ist auch der Raum als relativistische Sache erkannt.
Ohnehin belebt die neue Einstein’sche Raumzeit den Wunsch nach einer grenzenlos diversifizierbaren Zeit ins Unendliche. Die experimentelle Erweiterung der axiomatischen Vierdimensionalität einer "ursprünglichen Raumzeit" hat bereits ungezählte mathematische Entwürfe in die Welt gesetzt, die an Exaktheit und Plausibilität nichts zu wünschen übriglassen.
Auch Zeitreisen in die Vergangenheit zurück und eines Tages vielleicht sogar in die Zukunft voraus werden nun als praktikable Möglichkeiten vorgeschlagen. Zur Beglückung einer künftigen Menschheit, die die ärmliche Begrenztheit der bisherigen Menschheit, die immer nur an der Kette der Vergangenheit ihr Zeit-Gefängnis verlassen durfte, bald schon endgültig überwunden haben wird.
Nur Weniges fehlt noch zur rundum erneuerten Menschheit: Warum sollte eine neue Teilchenphysik nicht imstande sein, neue mathematische Modelle der Raumzeit in neue Beschleunigungswunder "umzusetzen"? Und dank dieser zu einer neuen Art von Raumfahrt führen, die uns Ausfahrten in ferne kosmische Welten ermöglichen. Eine Modellreise zu Alpha Centauri wurde in "Sterne und Weltraum" (2022) bereits systematisch durchgedacht, Brennstoffverbrauch inklusive.
Dazu kommt ein alter Verdacht, den die moderne Physik schon seit langem gegen die dreidimensionale Zeit erhebt: Diese könnte bei ihrer Geburt ein Gebrechen abbekommen haben. Während wir im Raum in jede Richtung vorwärtskommen, somit wenigstens in 360 Richtungen, (wenn wir die Winkelgrade des Raumkreises als Richtmaß nehmen), gewährt uns die dreidimensionale Zeit immer nur eine Richtung, um von einem Augenblick zum nächsten Augenblick zu gelangen. Wer oder was hat ihr Kostüm so einfältig stupid geschneidert? Sie macht uns außerdem zu Kleinkrämern, die mit Minuten zu rechnen beginnen, wenn wir unter das Diktat der Uhrzeit geraten: Zeit ist Geld.
Mit oder ohne Einstein gilt daher: In der "herkömmlichen" Astronomie, die immer noch mit der alten dreidimensionalen Zeit operiert und mit unserer alltäglich erlebten Zeit problemlos kooperiert, ist alles "beim Alten" geblieben: Sonne, Mond, Sterne und Galaxien "verharren" in ihren offiziell verkündeten Entfernungen von exakt vermessenen Lichtminuten und Lichtjahren. Und auf unseren Schreibtischen werden die Minuten, die wir für unsere Steuererklärung benötigen, immer noch bürokratisch genau "heruntergezählt". Die Uhrzeit scheint sich als Handlanger der Dreidimensionalität unserer universalen Chronos-Zeit unkündbar eingenistet zu haben.
2. Mit welcher Taste lässt sich die dreidimensionale Zeit abschalten?
Aber vielleicht könnte uns das folgende Verhalten bei der gesuchten Vermittlung zwischen der einen alten Zeit und den vielen neuen Zeiten helfen: Blicken wir von unserem Schreibtisch in eines der Teleskope, die uns mittlerweile dank digitaler Vernetzung auch auf unserm PC einen Ausguck in das Universum eröffnen, könnten wir die dreidimensionale Chronos-Zeit durch Tastendruck einfach abschalten, um auf die Viele-Zeiten-Zeit der modernen Physik umzuschalten. Man bedenke nur, wie viele Umschaltungen die Menschheit seit Anfangszeiten schon organisiert hat. Selbst die Zeiten der Götter unzähliger polytheistischer Religionen wurden "sang- und klanglos" verabschiedet, nachdem sie durch Äonen die Zeitvorstellungen der Menschheit bestimmt und (vor)geführt haben.
Auch müssen die Himmelskörper (Myriaden über Myriaden) nicht erst einen speziellen Beweis für die Tatsache erbringen, dass sie den kosmischen Zeiten der Physik-Zeit folgen und nicht der eintönigen Zeit unseres dreidimensionalen zeitlichen Chronos. Allein schon die übermenschliche Existenzdauer der meisten Himmelskörper, die alles menschliche Vorstellen übersteigt, ist doch Beweis genug. Millionenziffern an Lichtjahren lassen sich durch Rechenmaschinen nachzählen, nicht aber mit nachvollziehbaren Vorstellungen erfüllen.
Was zählt außerdem die dürftige Zeitstrecke, die uns von den ägyptischen Pharaonen trennt, gegen die Zeit, die die Sonne aufwendete, um sich als monströs große Gasglucke ihrer Planetenküken zu organisieren und zu bewähren?
Auch könnten die modernen Vertreter physikalischer Zeittheorien die Autorität des Aristoteles zitieren. Auch für ihn bewegten sich (kosmischer) Himmel und dessen Sonnen in einer überirdischen Zeit, in einer auf der Erde nicht erfahrbaren ewigen Zeit. (Der modernen Mathematik sollte es nicht schwerfallen, hieb- und stichfeste Formeln auch für "bewegungslose Zeiten" zu finden.)
Allerdings wurde uns das Idyll einer Weltzeit, die von einer ewigen Zeit umhüllt und geführt wird, durch die modernen Naturwissenschaften genommen und zerstört. Denn im radikalen Gegensatz zur antiken Ruhezeit unbewegter Himmelsbeweger, berichtet der relativistische Zweig der Astrophysik des 20. Jahrhunderts von allerlei Stauchungen und Dehnungen, von gravierenden Verlangsamungen und Beschleunigungen der physikalischen Welt(en)-Zeit. Andere Gravitationen andere Zeiten – ein für die physikalische Zeit selbstverständliches Prinzip und Dogma.
Sobald gewisse Himmelskörper extreme physische Zustände "durchleiden" und sich auch noch gegenseitig das Existieren schwermachen, wie beispielweise ein Schwarzes Loch, das sich anschickt, einen benachbarten Neutronenstern mit Haut und Haar zu verschlingen, droht dessen Eigen-Zeit entweder in ein unvorstellbares Rasen oder in einen ebenso unvorstellbaren Stillstand zu verfallen.
Dennoch wird auch die Entfernung der Schwarzen Löcher verdächtigerweise in Lichtjahren angegeben, die zwar schwanken mögen, dennoch an astronomischer Stabilität (gleichbleibender Identität) nichts zu wünschen übriglassen. Und dies, obwohl ihnen kein direkt berichtendes Licht mehr entweichen kann. Wonach die physikalische Zeit an diesen finstersten Orten der Welt geradezu eingefroren oder verdampft oder vielleicht beides zugleich sein müsste.
Gleichwohl weist die Entfernung der Erde von Sagittarius, das "unser Schwarzes Loch" beherbergt, ein erstaunlich stabiles Maß an Lichtjahren auf.
Angesichts dieses Widerspruchs zwischen den erstaunlich stabilen Entfernungs- und Geschwindigkeitsangaben unserer Astronomen und den gravierenden Verlangsamungen und Beschleunigungen der physikalischen Welt(en)-Zeit, die eine relativistische Physik fordert, erhebt sich ein beunruhigender Verdacht: Ungeachtet unserer Versuche, zwischen der "äußeren" (natürlich kosmischen) und der "inneren" (dreidimensionalen) Vorstellungs-Zeit diplomatisch vermitteln wollen, um ein Zeiten-Schisma zu verhindern, scheint längst schon ein übergriffiges Zeitendelikt vorzuliegen:
Gerade weil die physikalischen Zeiten der kosmischen Körper extrem genau messbar wurden, sind die menschlichen Fingerspuren der dreidimensionalen Zeit überall festzustellen. Die dreidimensionale Zeit scheint sich anzumaßen, alle kosmischen Zeiten dirigieren zu können oder ohnehin schon längst dirigistisch unterwandert zu haben.
Tatsache ist, dass die Entfernungen der Himmelskörper voneinander und von der Erde in fixen Zeitmaßen angeben werden, die jedoch nur als fixe (belanglos variable) Raumentfernungen existieren sollen: Zwar sollen wir uns vorstellen, dass ein Lichtjahr jener Raum sei, den das Licht benötigt, um ein Jahr (unser Planetenjahr) hinter sich zu lassen. Aber niemand hat Lust, dieser Vorstellung zu folgen, wenn er liest, dass unsere Galaxie 100.000 Lichtjahre groß ("across") ist, oder dass WR 134, ein veränderliches Wolf-Rayet-Sternsystem, 6.000 Lichtjahre "away" und 50 Lichtjahre "across" sei, wobei dessen Zentralsonne 40.000 Mal heller leuchte als unsere Sonne.
Ein "Lichtjahr" ist demnach kein Zeitmaß, sondern ein räumliches Längenmaß, und insofern scheint sich die dreidimensionale Zeit in die Vielfalt der physikalischen Zeiten niemals einschleichen zu können. Indem aber die Raummaße der Lichtjahre und Lichtminuten konstant auf einen Faktor "Jahr" wie auf eine irdische Ur-Uhrzeit rückbezogen werden, geschieht doch, was die physikalischen Axiome ausgeschlossen haben. Dem Licht unserer Sonne beispielsweise werden 8 Minuten gegönnt, um unsere Erde zu erreichen. Da wir uns aber eine Minute als unsere Minute doch nur in unserer dreidimensionalen Zeit vorstellen können, kommt für uns weder die "reversible" physikalische Zeit der modernen Physik noch die ewige Himmelszeit des Aristoteles, die gleichfalls kein Früher und Später gekannt zu haben scheint, als gesetzliche Vollzugsautorität der Zeit in Frage. Kurz: der Chronos der dreidimensionalen Zeit hat sich in jede physikalische Zeit immer schon "eingeschwindelt" und gleichsam vor deren Nase oder hinter ihren Rücken breitgemacht.
Wenn uns daher eine "bildgeführte" Annäherung der Andromeda-Galaxie an unsere Milchstraßen-Galaxie präsentiert wird, sei es durch ein NASA-Institut oder eine andere Astronomiebehörde, lesen wir zwar von extremen Zahlen einer abnorm außermenschlich hohen Geschwindigkeit, mit der sich Andromeda auf ihre Reise "zu uns" begeben hat, sehen aber nichts davon: Andromeda scheint sich nicht von ihrem kosmischen Fleck zu rühren. Dennoch ist wohl fast jeder Astronom überzeugt: Andromeda befindet sich auf einer langen Reise zu uns, die weder von Unterbrechung noch von Abbruch bedroht wird.
"Noch" ist sie 2,5 Millionen Lichtjahre entfernt, aber eines Tages wird sie uns ganz nahe sein, um schlussendlich mitten durch unsere Galaxie hindurch zu gehen, als wäre diese nicht vorhanden. Denn, wie eine andere (vernünftige) Prophetie vorhersagt, die Entfernungen zwischen den Himmelskörpern in jeder Galaxie sind groß genug, um immer noch weitere Himmelskörper in jede Galaxie aufnehmen zu können. Eine Prophetie, deren Erfüllbarkeit als bewiesen gelten kann, weil unzählige Galaxien als Zusammenführungen vormals getrennter, aber heftig interagierender Galaxien dechiffriert wurden. (Mit großer Gelassenheit können wir daher unserer galaktischen Begegnung mit Andromeda entgegensehen.) Unnötig zu ergänzen, dass alle diesbezüglichen astrophysikalischen Axiome und wissenschaftlichen Prophezeiungen ohne die konstituierende Zeit der drei (nichtrelativistischen) Dimensionen nicht möglich sind.
3. Leibniz‘ Vorschlag
Aber wenn wir peinlicherweise dennoch nicht "eindeutig" wissen, welche der beiden Zeiten die jeweils andere dominiert und umgreift, die "äußere" (physikalische) die "innere" (dreidimensionale) Zeit oder umgekehrt, kann uns vielleicht die Philosophie des großen Leibniz weiterhelfen. Dieser wurde bekanntlich sowohl als Philosoph eines monadologischen Weltsystems wie auch als Mathematiker und Physiker der frühen Neuzeit anerkannt und berühmt.
Seine Lehre behauptet einen "kontinuierlichen Übergang" zwischen Natur und Geist, der durch keinen "Sprung" eines Diskontinuums zwischen den beiden Großhemisphären der Welt, die auch die fundamentalen jedes Menschen sind, getrennt sei. Er unterscheidet zwar zwischen "Apperzeptionen" (bewussten Wahrnehmungen) auf der Seite des Menschen und bloßen Perzeptionen (unbewußten Wahrnehmungen) auf der Seite der Tiere und genaugenommen auch auf der Seite der anorganischen Wesen, zu denen wir auch unsere Himmelskörper zählen.
Noch die Perzeptionen eines Einzellers wären demnach von unseren meist unbemerkten Kleinstwahrnehmungen nicht qualitativ unterschieden, und am Ende wäre sogar das ("perzeptive") Sein eines Steins vom Sein des Menschen ununterscheidbar.
Das Zeitbewusstsein des Einzellers oder auch die atomaren Bestandteile der anorganischen Materie wären die kleinsten Bausteine des menschlichen Zeitbewusstseins. (Erklärt dies nicht unsere Liebe zu Atomuhren, die wir nach einer Suchzeit von nur wenigen Jahrhunderten für die genauesten aller möglichen Uhren halten?)
Und dass auf der Seite des "Subjektiven" und Inneren", auf der Philosophen und Psychologen, Kulturwissenschaftler und andere ihre nicht wenigen Zeittheorien entfalten, ein "kontinuierlicher Übergang" möglich ist, beweist schon jedes "Allgemeine Lexikon", gleichgültig ob digital oder vordigital. Nachdem lange und breit über die Zeit als physikalisches Phänomen (mit oder ohne Einstein) referiert wurde, erfolgt ein bruchloser Wechsel auf die andere Seite: Der kontinuierliche Fluss der Worte und Buchstaben findet die leichtesten Pfade zwischen Physis und Psyche, zwischen den beiden Seiten derselben (?) Medaille. Es findet kein Halt und kein Unterbruch statt, selbst einen Gedankenstrich suchen wir zumeist vergeblich.
Auf der einen Seite schmückt sie unser Inneres, denn Zeit ohne Erinnerung und Erwartung ist für uns ein Ding der Unmöglichkeit. Auf der anderen Seite bewegt sich die kosmische Zeit ganz ohne Erinnerung und Erwartung. Einerseits gilt: Ohne aktives Gedächtnis, das sich auch als unbewusstes vollziehen kann, ist kein inneres Zeitbewusstsein möglich.
Auf der anderen Seite fragen Physik und Astrophysik: Wozu benötigt unsere Erde ein inneres Zeitbewusstsein, da sie sich doch stets zeitgerecht und zeitrichtig bewegt, und dies ganz ohne Bewusstsein, und uns überdies auch noch mit der Gabe beschenkt, eine universale Uhrzeit an die Wand zu hängen oder auf unseren Arm zu legen?
4. Bange Letzt-Fragen im Zeiten-Tohuwabohu
Wie schon eingangs erwähnt, erscheint im Zeiten-Tohuwabohu der heutigen Kultur die Alternative einer "physikalischen" Zeit, (meist unter der Leitvorstellung von Einsteins vierdimensionaler Raumzeit), entweder ein Ausweg aus unserer unentscheidbaren Zeiten-Vielfalt oder gar ein Königsweg zu einer neuen verbindlichen Zeitvorstellung sein zu können. Ein wirklich begehbarer Weg oder doch nur eine täuschende Illusion?
Über das Bedrohliche dieser Frage kann kein Zweifel bestehen: Denn eine Zeit, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten im Universum verschieden rasch "vergeht", manchmal mehr beschleunigt, manchmal auch heftig abgebremst, würde uns in eine neue Art eines ptolemäischen Weltbildes entführen. An die Stelle der unbewegten aristotelischen Himmelsgötter, die an ewig kreisenden Sonnenscheiben drehen, wären kollidierende große und kleine Materien getreten, deren gravitative Fernwirkungen für den Wechsel von beschleunigender und entschleunigender Zeit sorgen.
Wodurch die einheitlichen astronomischen Entfernungsangaben unseres heutigen Weltbildes, die sich an die allgemeingültigen Maßeinheiten von Lichtjahr und Parsec halten, nicht einmal "Pi-mal-Daumen"-Konventionen wären.
Lichtjahr: eine Strecke im Raum, die das Licht, allerdings "im Vakuum", (um sich Einsteins relativistischen Eingriffen zu entziehen?), während eines Erdjahres absolviert. – Parsec: Etwa 150 Millionen Kilometer im universalen Raum, der wiederum von relativistischen Eingriffen freigedacht wird, um ein konventionelles Standardmaß für den Abstand der Erde von der Sonne zu erhalten.
Daraus folgt, dass das Licht unserer Sonne für die 150 Millionenkilometer-Strecke zur Erde exakt 8 Minuten benötigt. Hingegen benötigt das Erdlicht, um einen Pluto-Bewohner zu erreichen, der Einstein als "Beobachter" dienen könnte, satte 5,5 Lichtstunden.
Die fiktive Annahme eines fernsichtigen Pluto-Bewohners entfällt naturgemäß, wenn uns die Physik Belege für die Tatsache vorführt, dass Kleinplanet-Pluto gar keine Augen besitzenden Bewohner benötigt, weil er schon selbst über prachtvolle Augen und Sinne verfügt, die ihm vielleicht der Urknall eingeschossen hat.
Nun liegen aber die äußersten Grenzen unserer Milchstraße bereits in etwa 100.000 Lichtjahren Entfernung: kaum mehr als die Größe des biblischen Gartens von Eden, verglichen mit unserer Entfernung von den äußersten Grenzen des Universums: übersatte 13,7 bis 13,8 Milliarden Lichtjahre.
So viele wurden exakt gemessen und aus unserem Urknall-Weltbegriff abgleitet, weil das entfernteste Licht dieser Welt "naturgemäß" vom Ende qua Anfang der Welt zu uns herüberstrahlt. Sollte nun eines überraschenden Tages ein noch weiter entferntes Licht erscheinen, würde ein weiterer und noch früherer Urknall dem bisherigen Urknall seinen bisherigen Prioritäts-Rang abspenstig machen. Könnte uns Einsteins variable Raumzeit vor diesem Streit bewahren?
Auch Andromeda könnte sich gerade in einer Zeiteninsel mit stark wechselnder, weil eigenwillig gravitierender Eigenzeit bewegen, die alle Angaben unserer Astronomen über die heutige Entfernung und auch über die Annäherungsgeschwindigkeit von Andromeda an unsere Galaxie zu Makulatur machen würde.
Fazit: Können wir ohne philosophische Zeittheorien die Widersprüche in den physikalischen Zeittheorien überhaupt bemerken und kritisieren? Und kann uns Einsteins Gleichsetzung von Uhrzeit und Zeit, zu der seine vierdimensionale Raumzeit unausweichlich zu führen scheint, jemals überzeugen? Ist sie mehr als eine neomythische Inszenierung der Spezialwissenschaft Physik, die sich als neue Philosophie von Natur und Zeit verkennt?
Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.