Der große Irrtum des Wladimir Putin

Wundern wir uns, dass ein ehrgeiziger Geheimdienstagent aus der Gosse von Leningrad die Welt nicht richtig einordnen kann? Lassen wir Stalin beiseite, der neben einem verbrecherischen Wesen voll grenzenloser Paranoia dennoch große Entscheidungen treffen konnte und half, den Gott-sei-bei-uns Hitler zu besiegen. Für die Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg war er jedoch zum Albtraum geworden: Unterwerfung Osteuropas unter seine grauenhafte kommunistische Diktatur – Berlinkrise – Bau von Atom- und Wasserstoffbomben mit Hilfe deutscher Wissenschaftler und Spionage in Los Alamos – Unterstützung von Mao Tse Tung in China – Ausrüstung von Kim Il Sung beim Angriff auf Südkorea – Bewaffnung der griechischen Kommunisten im Bürgerkrieg. Aber selbst seine größten Feinde gestehen ihm zu, 1941 beim anfänglichen Schockzaudern während des deutschen Angriffs dann doch das Land für den Sieg über Deutschland organisiert zu haben und sogar die von Lenin zertretene russisch-orthodoxe Kirche für den "Großen Vaterländischen Krieg" ins Boot geholt zu haben.

Selbst Nachfolger Nikita Chruschtschow, ein Ukrainer russischer Zunge, wollte neuen Kirchenhass anzünden und ließ die "Christi-Erlöser Kathedrale" am Ufer der Moskwa abtragen und ein schönes und beliebtes Freibad darauf errichten. Dann machte er sich bei den Seinen verdient durch die brutale Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes. Aber freilich, er stand Pate bei der Eroberung des Weltraums, schickte 1957 den ersten Satelliten in eine Erdumlaufbahn, dreieinhalb Jahre später den ersten Menschen – Juri Gagarin. Amerika war gedemütigt. Also schickte er gleich auch eine Ladung von Mittelstreckenraketen nach Kuba.

Seine Größe lag darin, dass er imstande war, ein zu riskantes Unternehmen abzubrechen. Danach war der Kalte Krieg lange nicht mehr das, was er bis dahin gewesen war. Man richtete eine Hotline nach Washington ein, um im Notfall eine Krise entschärfen zu können. Atombombenversuche in der Atmosphäre wurden eingestellt. Den Deutschen gestattete man ein Passierscheinabkommen zwischen Westberlin und Ostberlin. Schließlich instigierte Chruschtschow Überlegungen zu einer Wirtschaftsreform. 

Multiple, weltweite Interventionen

Übergehen wir den lange regierenden Leonid Breschnew, der sich in die Bücher der Geschichte mit der Niederwerfung des "Prager Frühlings" einschrieb und bald dasselbe indirekt in Polen mit der Solidarnosc bewerkstelligte. Er übernahm gewissermaßen die Verteidigung von Nordvietnam und ermöglichte einen Blitzkriegs-Vorstoß von Hanoi mit 1600 Panzern nach Saigon – in nur drei Wochen. Er schickte Truppen sogar nach Afghanistan. Aber zu keiner Zeit drohte unter ihm ein Atomkrieg. Vielmehr wurde eine ganze Reihe von Abkommen zur Rüstungsbegrenzung geschlossen. Salt I und II zum Beispiel.

Unter Breschnew erreichte der Kommunismus seine größte globale Ausdehnung. Nach Vietnam fielen auch Laos und Kambodscha in die Hände der Roten. Moskau "eroberte" Aden in Südarabien, einst ein wichtiger Stützpunkt der britischen Marine auf dem Weg nach Indien. Dann das große christliche Land Äthiopien, schließlich die ehemals portugiesischen Kolonien Mosambik, Angola, Guinea und Angola. Breschnew unterstützte massiv 400.000 kubanische Soldaten zur Sicherung dieser Länder gegen die hocheffiziente und bald auch atomar bewaffnete südafrikanische Armee. 

Erstmals ein KGB-Chef als Staatslenker Russlands                  

Atomdrohungen geschahen erst wieder unter dem langjährigen KGB-Chef Juri Andropow. Er betrieb im Politbüro den Mordversuch an dem polnischen Papst Johannes Paul II. auf dem Petersplatz – 13. Juni 1981 – und war als Generalsekretär der KPdSU 1983 bereit zu einem Erstschlag auf die USA, als ein ostdeutscher Agent "Topas" aus Brüssel irrtümlicherweise Vorbereitungen der Nato für einen atomaren Angriff auf die DDR und die Sowjetunion berichtete. Richtig eng wurde es zwischen den Supermächten, als ein südkoreanischer Jumbo-Jet "KAL 007" mit 269 Passagieren an Bord die Insel Sachalin überflog und abgeschossen wurde. (Der Südkoreaner wollte am Weg nach Seoul Benzin sparen, denn dafür setzte es saftige Prämien.) US-Präsident Ronald Reagan erklärte die Sowjetunion zu einem "Reich des Bösen", und Andropow antizipierte wieder einmal einen amerikanischen Angriff. Zu der Zeit lag der sowjetische Staatschef in einem Moskauer Krankenhaus. Schon lange war bei ihm eine Niere kaputt, jetzt plötzlich auch die zweite.

Später berichtete eine Moskauer Zeitschrift, was wirklich vorgefallen war: Andropow, der eine Kampagne gegen die grassierende Korruption ritt, weigerte sich, dem Ehemann seiner Schwägerin Pardon zu gewähren. Worauf diese eine kleine Pistole in die Handtasche packte, und als Nomenklaturangehöriger unkontrolliert durch die Kreml-Wache schlüpfen konnte. Sie stellte Juri zur Rede, und als sich dieser weigerte, ihren Mann freizulassen, schoss sie auf ihn und traf – die gesunde Niere. Bald darauf starb Andropow und bald auch sein Nachfolger, Konstantin Tschernenko – er war Erster Sekretär des sibirischen Oblast Kransnojarsk gewesen. 

Nach Alexander Dubcek ein zweiter neuartiger KP-Chef

Bahn frei für "junges Blut". Michail Sergewjewitsch Gorbatschow war mit 54 etwas Neues für die Sowjetunion, wie 1968 Dubcek für die KPC. Die übrigen Mitglieder des Politbüros lagen um die 80. Seit dem Tod Breschnews gab es alle drei Monate in Moskau ein Staatsbegräbnis. Ab dem 15. März 1985 hieß die Losung: Einführung einer echten Demokratie, Transparenz in den öffentlichen Mitteilungen, Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaftsreform. Immer noch berief sich Gorbatschow auf Lenin, aber vor allem auf die Zeit kurz vor dessen Tod am 21. Jänner 1924. Lenin hatte die seit dem Bürgerkrieg 1918 bis 1920 dahinsiechende russische Wirtschaft durch eine "Neue Ökonomische Politik" angekurbelt – Marktwirtschaft auf kleiner Ebene, aber ohne Oligarchen. Und er warnte vor dem Georgier Jossip Wissarionowitsch Dschugaschvili, alias Stalin. Der sei ein kommender Diktator, der alle Rechtsgrundsätze missachte. Gorbatschow, 60 Jahre später, war noch nicht wirklich bereit für eine grundlegende Reform auf allen Ebenen und Staaten des Sowjetimperiums, aber gewiss hat er eine Welle losgetreten, die schließlich den Kommunismus und den darauf basierenden Totalitarismus zum Einsturz brachte.

Seine größte Stunde nahte, als er sich weigerte, gegen neue Protestbewegungen in Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, DDR und Rumänien mit gewohnter Panzermacht vorzugehen. Und als der deutsche Kanzler nicht richtig zu hören glaubte, als ihm der Kremlherr versicherte, gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands keine Einwände zu haben, sagte er simpel "Ja !" Nur England und Frankreich wollten das heimlich verhindern. Es fiel die Mauer in Berlin, bald verschwand in Osteuropa der Kommunismus und auch die UdSSR klappte in sich zusammen. 

Die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts?

Zu diesen Entwicklungen erlangte Putin später Weltruhm mit seiner Aussage: "Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die größte Katastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts!" – War sie das? Für einen Großteil der Welt war es ein Wunder: die Wiedervereinigung Deutschlands beispielsweise, oder die Befreiung Osteuropas von Estland bis Albanien und ihre schlussendliche Einbindung in EU und Nato. Die Einführung der Marktwirtschaft sorgte für Entwicklung und wachsenden Wohlstand, auch in Russland, sogar mit Putins Beteiligung. Ehemalige Sowjetrepubliken wie Kasachstan, Turkmenistan und Aserbeidschan mussten ihren Ölreichtum nicht mehr mit Moskau teilen. Glänzende neue Städte wurden gebaut, die Einkünfte nicht mehr in riesige Armeen, U-Bootflotten, Luftwaffen und Interkontinentalraketen des Sowjetimperiums verpulvert. Die russische Armee wurde von 3,5 Millionen Mann mit dreijähriger Dienstzeit auf 900.000 Berufssoldaten reduziert. Viele haben da aufgeatmet, auch China, das 1969 am Ussuri in Kämpfe mit Russen verwickelt war.

Das Ende der Sowjetunion brachte große Hoffnung auf Frieden. Die Angst vor einer nuklearen Weltkatastrophe – von 1949 bis 1989 prävalent – war dahin. Erst jetzt, 2022, fing Putin wieder an, mit dem Undenkbaren zu drohen. Und er gefällt sich in der Rolle eines Staatenlenkers, der vor dem Westen keine Angst zeigt. Er schickte 2019 schwere Bomber über den Nordpol und das Kanadische Schild bis Ottawa. Er ließ Suchoi-21 Jagdbomber über der schwedischen Ostseeinsel Gotland kreisen (was unter anderem nun einen Nato-Beitritt Schwedens zur Folge hat). Und er sandte eine Fliegerstaffel an den Kreidefelsen der Normandie vorbei in den Golf von Biscaya.

All das sollte seine Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine glaubhaft machen. Von der Nato wird das nur beschränkt ernst genommen. Was aber nicht heißt, dass Putin nicht mit dem Gedanken spielt. Und vielleicht gar wie Hitler perverse Freude am Grauen hat.                 

Die wahre Katastrophe

Wir im Westen, und wohl alle Historiker, halten den Aufstieg Hitlers, seinen Überfall auf Russland und die Ermordung von 6 Millionen Juden und natürlich die atomare Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki durch die Amerikaner für die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Ist sich der frühere KGB-Agent und spätere Chef aller Geheimdienste nicht bewusst, was der Angriff 1941 auf Russland bedeutete? –  Die Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht mit 900.000 Verhungerten, die Verteidigung Moskaus und Stalingrads in den härtesten Wintern des Jahrhunderts, die Wahnsinnskämpfe von Kursk bis Königsberg, Budapest, Wien und Berlin. Also das war mit Sicherheit eine Weltkatastrophe: 35 Millionen Tote für die UdSSR und 70 Millionen weltweit.

Will man noch höhere Verlustzahlen in diesem Jahrhundert feststellen, dann genügt ein Blick auf das China Mao Tse Tungs 1958: "Der große Sprung vorwärts" mit dem Versuch, auf Biegen und Brechen vom Mittelalter in das Industriezeitalter zu stürmen: 10 Millionen Tote. Und dann 1966 die "Große Kulturrevolution", eine Aufhetzung der Jugend gegen alles Alte, gegen wertvolle Kulturdenkmäler und vor allem gegen Reformer vom Schlag eines Tschu en Lai, Liu Schao Tsi und Teng Hsiao Ping: 100 Millionen Tote und der Verlust an Ausbildung für eine ganze junge Generation. Der Irrsinn des totalitären Kommunismus hat freilich schon mit Lenins "Rotem Oktober" 1917 begonnen. 2 Millionen Adelige und Bürgerliche wurden liquidiert, 770.000 fielen dann im Bürgerkrieg bis 1921, plus insgesamt 10 Millionen Zivilisten, die ihr Leben dabei verloren.

Oder soll man noch den Ersten Weltkrieg hinzufügen, an dem Russland von 1914 bis 1918 beteiligt war mit 10 Millionen Menschenopfern und 20 Millionen Grippetoten (ein Vorläufer von SARS-CoV-2).

Diktatoren beginnen mit Morden                      

Das alles juckt Putin offenbar nicht im Geringsten. Genausowenig wie die Gewalt durch Stalin und seinem NKWD-Helfer Berija. Stalin begann mit einem Mord an seinem Rivalen Sergei Mironowitsch Kirow, KP-Chef von Leningrad, so wie Hitler sein wahres Gesicht durch die Beseitigung des SA-Chefs Ernst Röhm enttarnte. Aber während bei den Nationalsozialisten 134.000 Menschen in den Kerkern umkamen (von Krieg und Holocaust einmal abgesehen), waren es bei Stalin Hekatomben. Zwei Millionen starben in den eisigen Lagern des Nordens, acht Millionen ukrainische Bauern ließ er verhungern. 50.000 russische Offiziere unter dem Kommando von Marschall Michail Nikolajewitsch Tuchatschewsky wurden 1937 hingerichtet, 40.000 polnische Offiziere ließ er beim Einmarsch in Polen 1939 liquidieren und vergraben. Und die Gewaltorgie hörte nicht auf bis zu seinem Tod 1953. Zuletzt mussten jüdische Ärzte über die Klinge springen.

In diesem Biotop hat sich Putin geistig im KGB bewegt, dort wurzelt sein Denken und die tiefe Abneigung des demokratischen Westens. Denn nur von dort wird die Machtanmaßung der totalitären Staatslenker beeinsprucht – nicht von China, nicht vom Iran, nicht von Kuba und nicht vom Kongo. Nur zur Ergänzung: Auch Saddam Hussein begann seine Karriere mit einem Polizistenmord, genauso Erich Mielke, langjähriger Chef der DDR-Staatssicherheit. Solche Typen beginnen mit einem Mord an Polizisten oder Konkurrenten und enden als Massenmörder von Millionen Menschen.

Der Zusammenbruch der kommunistischen Sowjetunion war für Putin wohl eine Katastrophe, sein Russlandbild war 1989 und noch mehr 1991 kollabiert, aber für 100 Millionen europäische "Ostblockbewohner" und 100 Millionen außerrussische Sowjetbürger war der Zusammenbruch der UdSSR und die folgende Auflösung von Lenins Imperium ein unglaublicher Akt der Befreiung und Erleichterung. Es folgte die Entwicklung von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen samt Einstieg in die Marktwirtschaft und damit zu wirtschaftlichem Fortschritt – nach Jahrzehnten der Stagnation und Versenkung von 80 Prozent der Budgetmittel in hypertrophen Militärausgaben. Das galt immerhin auch fünfzehn Jahre lang für Russland selber.

Derivate der kommunistischen Macht

Seit 1972 unterhielt der Irak unter dem blutigen Diktator Saddam Hussein die viertgrößte Armee der Welt. Seine 950.000 Streitkräfte sind praktisch zur Gänze von Moskau ausgerüstet worden. 1980 marschierte der Irak damit in die iranische Provinz Khusistan ein und führte da bis 1988 Krieg – bis zur Erschöpfung beider Seiten und dem Tod von einer Million Soldaten.

1990 besetzte diese Streitmacht das Öl-Scheichtum Kuwait – und wurde da 1991 von einer internationalen Allianz mit 34 Nationen unter Führung der USA in seine Schranken verwiesen. 2003 wiederholte sich das Ganze mit acht Alliierten und kurdischen Verbänden, weil es Hinweise gab, der Irak arbeite neuerlich an einer Atombombe. Von 1991 weg suchte die UNO auf dem Gebiet des Irak nach entsprechenden Anlagen – und fand nichts. 1995 verriet Hussein Kamal, der Schwiegersohn von Saddam Hussein, alle Daten der Atomherstellung an die IAEA. Sofort wurde alles abmontiert und dem Erdboden gleichgemacht.

Als im Oktober 2003 Saddam Hussein nach dem Dritten Golfkrieg von den Amerikanern aufgespürt und verhaftet wurde, reagierte plötzlich in Libyen ein anderer Gewaltherrscher mit einer überraschenden Offenbarung: 2004 legte er ein eigenes Nuklearprogramm offen und sah zu, wie die Inspektoren alles demontierten und vernichteten. Der Verdacht steht im Raum, dass der Irak alle seine Atomlabors nach Libyen ausgelagert hatte, sobald eine neue Invasion im Zweistromland drohte. Der Irak stand unter scharfen UN-Sanktionen und behauptete, auch Milchpulver für Babies gehöre darunter. Aischa, eine Tochter von Muammar Gaddafi, war dann oft zwischen Tripolis und Bagdad unterwegs. Angeblich, um libysche Hilfe für irakische Kinder zu organisieren, vermutlich aber als Go-between in Atomangelegenheiten. Gaddafi war der Schreck über die Verhaftung von Saddam Hussein in die Glieder gefahren und reagierte pro-aktiv. Ab 2009 zahlte er Entschädigungen für zwei 1988 mit Kofferbomben zum Absturz gebrachten Jumbojets der Amerikaner und Franzosen. Die Amerikaner machten nie ein Aufhebens über das libyische Atomprogramm, obwohl sie sonst überall hypernervös auf die Entwicklung von nuklearen Waffen reagierten. Angeleitet vermutlich von der Volksweisheit: "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold."

Der Totalitarismus des Propheten Mohammed landet im "Arabischen Frühling"

Sieben Jahre noch ließen die Amerikaner Gaddafi in Ruhe. Dann wurde er Opfer des "Arabischen Frühlings". 2009 erklärte der farbige US-Präsident Barack Obama in einer Rede vor der Universität von Kairo Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit als universelle Werte. 2011 verbrannte sich in Tunis ein Kleinhändler aus finanzieller Verzweiflung und löste damit eine massive Bewegung aus, die bald auch Libyen, Ägypten, Syrien, den Jemen und Bahrain erfassen sollte. Tunesien hat seinen Tourismus verloren und blieb arm wie je. Sein Präsident floh mit einer Goldschatulle nach Saudi-Arabien. Aber immerhin: eine islamische Rechtsstaatlichkeit und das demokratische Prinzip wurden in eine neue Verfassung geschrieben, ja man forderte sogar eine stärkere Rolle der UNO gegen Machtanmaßungen (wie das momentan auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij urgiert). In Ägypten demonstrierten Millionen auf dem Tahir-Platz und im ganzen Land. Zwei Jahre lang durfte der Islamist Mohamed Mursi zeigen, was die Islamisten können. Dann wurde er vom Militär gestürzt. Jetzt herrscht Ordnung. In nur vier Jahren wurde ein Begleitkanal zum Suezkanal gegraben und der Bau einer neuen Hauptstadt begonnen. Das Bündnis mit Israel bleibt bestehen und wird ausgebaut.

Über Syrien müssen nicht viele Worte verloren werden. Es begann mit Demonstrationen von Jugendlichen gegen Präsident Bashar al-Assad und endete in einem 13-jährigen Krieg mit russischer Einmischung. Putin ist stolz, die sowjetischen Stützpunkte an der Küste der Levante gerettet zu haben. 11 Millionen Syrer leben inzwischen im Libanon, Jordanien, Türkei und Deutschland. Der Jemen versank in einem Ethnokrieg. Die schiitischen Houthi-Rebellen bekommen massiv Unterstützung aus dem Iran – Raketen von dort haben sogar in Saudi-Arabien eingeschlagen. Das Wüstenkönigreich hat sich deshalb mit Israel verbündet, und es ist nicht ausgeschlossen, dass beide Länder gemeinsam die Atomanlagen des Iran angreifen werden. Bahrain aber ist ein Gewinner des "Arabischen Frühlings". Die soziale Lage der Schiiten hat sich dort gebessert, so wie die aller Menschen in Marokko und Jordanien.

Der "Rote Oktober" wirkt noch immer nach                                    

Ägypten, der Irak, Syrien, Jemen, der Sudan, Algerien und Libyen sind Nutznießer und Opfer der seinerzeitigen sowjetischen Einflussnahme im arabischen Raum. So wie die Marienerscheinung von Fatima am 13. Juni 1917 gewarnt hatte, Russland werde seine Irrtümer über die ganze Erde verbreiten. Wie wir erlebt haben, ist diese Ausbreitung noch nicht zu Ende. Der Nahe Osten wurde mit sowjetischen Panzern, Kanonen, Flugzeugen und Ausbildnern überschwemmt – große Kriege wurden damit ausgefochten. Und Israel wurde damit mehrmals tödlich bedroht.

Unter Putin fand dies eine Fortsetzung – diesmal ganz ohne kommunistische Ideologie. Aber Putin und alle seine Helfer sind ein Produkt des Kommunismus, und des durch ihn in die Welt gesetzten Totalitarismus – der Einfluss des Roten Oktober reicht also noch weiter fort. Und erst, wenn diese Bestie in ihrer Gänze erlegt ist, wird es vermutlich etwas mehr Ruhe und echte Entwicklung in dieser Region und weltweit geben.

Eine Kette von Irrtümern

Vorerst aber plagen wir uns weiter mit den Irrtümern des Wladimir Putin. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war für ihn also Antrieb, die renegate Ukraine "heim ins Reich" zu holen. Ihn störte die Nato an seiner Grenze. Er schimpfte schon länger über die baltischen Länder, die es wagten, der Nato beizutreten. Aber nicht von ihnen ging Gewalt und Aggression aus, sondern umgekehrt. In Wahrheit ist es das Beispiel von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das ihn stört – nämlich die Tatsache, dass ein Kremlinhaber jederzeit, bzw. alle vier Jahre die Macht hinterfragt bekommen kann. Deshalb musste der Konkurrent Boris Nemzow sterben, deshalb fiel die Journalistin Anna Politkowskaja einem Anschlag zum Opfer und 13 weitere. Und dass die Ukraine zwar korrupt war, aber rechtmäßige, regelmäßige, ungefälschte Wahlen abhielt, das störte Putin besonders. Die Ukrainer sind in den Augen Russlands kein eigenes Volk, sondern nur "Kleinrussen". (Genausogut könnten die Ukrainer behaupten, alle Russen seien ihre Untertanen: "Großukrainer", denn das große slawische Reich nahm 1088 n. Chr. seinen Anfang in Kiew).

Paradoxerweise war es der Erfolg Russlands durch die Geidar-Wirtschaftsreform ab 1992, der in Kiew einen demokratischen Umschwung auslöste. Die orangene Revolution von 2005 durch Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko war eine Folge verkrusteter altsowjetischer Strukturen, welche die Ukraine in Passivität und Stagnation festhielten. Man sah andererseits, wie in Polen, Estland, Lettland, Rumänien und sogar Russland nach dem westlichen Paradigma Fortschritt entstand. Der Aufstand in der Ukraine war kein Aufstand gegen Russland – im Gegenteil. Nur Putin reagierte falsch, statt seine eigenen Erfolge in Wirtschaft und Stabilisierung diplomatisch einzusetzen, vergiftete sein Geheimdienst den ukrainischen Wortführer Wiktor Juschtschenko, der dann erst in Wien gerettet werden konnte.

Und weil der von Russland eingesetzte Satrape Wiktor Janukowytsch die Erwartungen der ukrainischen Bevölkerung nicht erfüllen konnte, sich stattdessen maßlos bereicherte, kam es zu einer neuen Protestbewegung – vor allem auf dem großen Platz Maidan mitten in Kiew mit jeweils einer Million Teilnehmer. Oktober 2013 und März 2014 schaute Putin grimmig zu, dann, nach Abschluss der Winterolympiade in Sotschi, besetzten Soldaten ohne Waffen und Kennzeichen die Krim-Halbinsel, deren Zugehörigkeit der Ukraine im Budapester Memorandum von 1995, aber schon bei der Loslösung von der Sowjetunion 1991 im Unionsvertrag der GUS garantiert worden war. Allerdings standen eben auf Grund dieser Verträge bereits starke russische Verbände regulär auf der Krim und natürlich der Hafen und die Kommandozentrale der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol.

Der Westen reagierte verhalten. Doch nun ging es im Donbas und Luhansk los, russischsprachige Territorien im Osten der Ukraine. Hier gibt es Kohlekraftwerke, Stahlwerke, Flugzeug- und Raketenproduktion. Die neue Führung der Ukraine unter dem Schokoladeproduzenten Petro Poroschenko muckte nun doppelt auf. Angela Merkel band die russlandaffinen Franzosen in ein Rettungsgespann und verhandelte mit Putin. Aber niemand wagte es, diesen herauszufordern, auch Barack Obama nicht.

Also dann am 24.2.2022 der Angriff Russlands auf die Ukraine. Man wollte in drei Tagen Kiew erreichen und in 14 Tagen bis Lemberg und Transnistrien vorstoßen. Staatspräsident Selenskij sollte von einer 1200 Mann starken Tschetschenentruppe im Regierungsgebäude ermordet werden. Die Moskauer Propagandasender trommelten das Argument von einer drohenden Übernahme der Ukraine durch die Nato. Schlimmer noch, behaupteten sie die Ausbreitung von Nazis in einem Land, das 1941 bis 1945 genau von denen schlimm zugerichtet worden war. Außerdem war mit Wolodymyr Selenskij gerade ein Angehöriger der einst starken jüdischen Volksgruppe an der Macht und noch dazu einer aus der russischen Sprachgruppe.

Mittlerweile haben sich 600.000 junge, fähige Menschen aus Russland ins Ausland begeben, von Georgien und Armenien bis Finnland und Deutschland. Zaghafte Proteste zu Beginn des Krieges wurden niedergeschlagen. Immerhin 50.000 Demonstranten in 54 russischen Städten bis Wladiwostok haben offen Widerstand gegen diesen Krieg geäußert. Eine TV-Moderatorin hielt das Schild "No War" in die Abendnachrichten.

Kritisch wurde es, als man im Oktober daranging, Reservisten einzuberufen. Gar 300.000 junge Männer sollen die Verluste im Feld ausgleichen. Und die sind fast so hoch, wenn man die Gefallenen, Verletzten und Desertierten zusammenrechnet. Putin wurde von Militärexperten gewarnt, so etwas zu tun, und prompt kam das Räderwerk der Landarmee ins Stocken. Eine weitere Einberufung könnte die Höllenhunde auf den Kreml hetzen. Immerhin tausend Mütter haben bereits gegen die Einberufung demonstriert.

Blendend funktioniert nur der Beschuss der Ukraine. Aber auch hierfür musste Putin aus dem Iran Kampfdrohnen einfliegen lassen, weil die eigene Produktion nicht mehr nachkommt. Die Ukrainer sitzen mittlerweile im Dunkeln, oft auch ohne Wasser. Dennoch wollen sie nicht aufgeben. Immerhin hat die Europäische Union nun zusätzlich zur Waffenhilfe eine Milliarde Euro für "Winterhilfe" locker gemacht.

Die Russen konnten nur einen schmalen Streifen im Osten besetzten und die Bevölkerung nach Russland hinein evakuieren. Die Propaganda suggerierte zu Beginn, die Ukrainer würden in Massen überlaufen und sich ergeben. Hat Putin das selber geglaubt? Wenn ja, dann war es ein sehr großer Irrtum. Wenn nein, dann ist dieser Schmäh nicht aufgegangen.

Das diplomatische Establishment im Westen glaubt, dass die Machtgruppe im Kreml überzeugt war, man würde in Washington und Brüssel vor russischer Gewalt kuschen. So wie es nach Besetzung der Krim und des Donbas 2014 geschehen ist. Aber es hat im Gegenteil die EU und Nato geeint und Schweden und Finnland zu Beitrittsansuchen veranlasst. Auch Joe Biden ging nicht in die Knie, der noch vor einem Jahr einen überhasteten Abzug aus Afghanistan angeordnet hatte. (Ein Jahr vor dem Fall der Mauer kam es zum Abzug von 13.000 russischen Soldaten aus Afghanistan – von ursprünglich 80.000).

Auch die Drohung mit der Atomkeule verfängt nicht. Denn Russland verfügt nicht allein über diese Waffe. Sogar Israel könnte halb Russland einäschern, wenn es dies wollte. Freilich, bei "Emma"-Herausgeberin Alice Schwarzer und dem Philosophen Jürgen Habermas hat die Angst vor einer russischen Atombombe verfangen, vielleicht auch bei den Resten der früheren "Ostermaschierer" und "Putinversteher" wie Gerd Schröder und unserem Christoph Leitl.

Hingegen befürworten die einst pazifistischen Grünen nun die Lieferung von schweren Waffen in die Ukraine und verlängern in Deutschland die Laufzeit von Atomkraftwerken. Es ist die Macht des Faktischen. Die nicht minder abrüstungsaffinen Sozialdemokraten haben ein großes Rüstungsprogramm für die nächsten zehn Jahre aufgelegt, sodass sogar die CDU nur staunen kann (1989 verfügte die Bundeswehr über 4000 Panzer – heute sind es 241).

Die Irrtümer von Putin und seiner Entourage sind zahlreich und man kann sich nur wundern, dass ein so gebildeter und erfahrener Außenminister wie Sergej Wiktorowitsch Lawrow in diesem Wasser mitschwimmt. So wie man sich beim Einschalten der zahlreichen russischen Fernsehsender fragt, wieso auch der Filmschaffende Nikita Michalkow, einst Speerspitze von "Glasnost", die Putinsche Propagandawalze mitmacht. Freilich hat unsere Elterngeneration die Hitlersche Propaganda ebenso "gefressen", und wir "Jungen" staunen über das Faktum, wie im Land von Goethe und Schiller, Mercedes Benz und Semmelweis 6 Millionen Menschen auf grausamste Art vernichtet werden konnten, ohne dass dies in der Breite bemerkt wurde und zu Widerstand Anlass gab.

Tag X

Das Oberkommando der Wehrmacht wollte schon 1938 gegen den Nationalsozialismus putschen, hat aber das Animo dazu verloren, als Frankreich, Großbritannien und Italien im Münchner Abkommen deutsche Gebietserweiterungen nach Tschechien hinein sanktionierten. Ein Jahr später gab es Krieg, als Hitler das Abkommen in der Luft zerriss. Dann dauerte es bis 1944, bis die Gruppe um Graf Stauffenberg ein Attentat in der "Wolfschanze" wagte und einen Putschplan mit der Entsatzarmee in Berlin, Wien und Paris umzusetzen begann. Als klar wurde, dass Hitler überlebte, brach der Umsturzversuch in sich zusammen und die Anführer wurden füsiliert. Dem Wüstenfuchs Erwin Rommel gestattete man, sich selbst zu erschießen.

So werden auch eventuelle Putschplaner in Moskau darauf bedacht sein, dass Putin vor jeder Aktion das Zeitliche segnet, oder verlässlich und blitzartig zum IStGH nach Den Haag ausgeflogen wird. Wenn man den langen Vorlauf in Deutschland damals betrachtet, könnte man weinen. Sicher braucht jeder Putsch eine sorgfältige Planung und ein passendes Ereignisumfeld. Immerhin sind vergangenen Februar in Russland acht Generäle geschasst worden, und ein Militärexperte prophezeite in einem prominenten Moskauer TV-Diskussionsforum wenige Tage nach Beginn der Invasion ein Scheitern des russischen Angriffs auf die Ukraine: "Wir hatten vergessen, dass die Ukraine eine Million Mann mobilisieren wird, während wir nur 200.000 ins Feld schicken. Und es ist klar, dass der Westen Waffen liefern wird. Die Sanktionen werden überdies unsere Wirtschaft umbringen!" Ob der Mann noch lebt, ist nicht bekannt.

Drei Monate hielt das ukrainische Militär primär mit alten sowjetischen Waffen stand. Die Invasion Richtung Kiew misslang. Dann strömten westliche Hightech-Waffen ins Land. Die russischen Panzer wurden Freiwild, 90 Prozent der Raketen werden abgeschossen. Putin beschwert sich bei Radio Eriwan, der Westen überschreite die UN-Charta, er vergisst aber dabei, dass sein Krieg einen Bruch aller Konventionen darstellt und seine Soldaten und Kommandanten bereits als Kriegsverbrecher markiert sind. Den Haag wartet geduldig auf sie.

Anderes Putschgeschehen             

Wenn wir auf Japan während des Zweiten Weltkriegs blicken, dann sehen wir keine Spur von irgendeinem Widerstand gegen die Eroberungszüge in Asien oder gegen den Überfall auf Pearl Harbour. Es kann sein, dass die Entwicklung in Russland nach demselben Muster verläuft. In Japan endete das durch den Einsatz zweier amerikanischer Atombomben. Die Eroberung Japans und die Festnahme des Kaisers hätte nach damaligen Schätzungen etwa 300.000 Amerikanern das Leben gekostet und das von einer Million Japanern.

Wenn wir auf die andere asiatische Großmacht blicken, sehen wir vier Bewegungen in China:

1.) Nach 23 Jahren tiefrotem Kommunismus, nach Artillerieduellen um Quemoi und Matzu 1958, nach Koreakrieg 1950-1954, bei laufendem Vietnamkrieg seit 1959 und Kulturrevolution seit 1966 lud Mao Tse Tung 1972 urplötzlich den konservativen US-Präsidenten Richard Nixon zu einem ausgiebigen Staatsbesuch in China ein. 1969 hatte es Kämpfe mit russischen Streitkräften am sibirischen Ussuri-Fluss gegeben. Moskau traf Anstalten, die chinesischen Atomanlagen per Luftschlag zu zerstören. Nixon lehnte es ab, da gemeinsame Sache zu machen. Was Mao drei Jahre später honorierte. Der Besuch dann Nixons in Peking zeigte nicht sofort große Auswirkungen, aber das spätere Geschehen wurde davon gewiss beeinflusst.

2.) Mao Tse Tungs Ehefrau Tschiang Tsching – sie entstammte dem halbseidenen Milieu von Schanghai – wollte nach dem Tod ihres greisen Mannes mit Verteidigungsminister Lin Piao die Macht in Peking übernehmen und ein linksradikales Regime nach dem Modell der kambodschanischen Roten Khmer in China etablieren. Aber ihr Rückhalt in Armee und Gesellschaft war zu dünn. Nach dem Auslaufen von Maos Kulturrevolution hatten die Chinesen genug von Machtanmaßungen durch Verblendete. Der Linksputsch scheiterte, Lin Piao floh in einem Passagierjet Richtung Mongolei – und stürzte ab. Tschiang Tsching wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Nach zwei Jahren Haft wurde das Urteil in lebenslangen Kerker gewandelt. Doch sie erkrankte bald an Kehlkopfkrebs und erhängte sich in ihrer Zelle. 

3.) Nun ergriff Teng Hsiao Ping die Zügel der kommunistischen Partei. Er schaffte die Kommunen ab, privatisierte die Landwirtschaft und führte schließlich die Marktwirtschaft ein. Sein Motto: "Von Singapur lernen". Die Reform wurde ein Riesenerfolg, und China hat mittlerweile England, Deutschland und Japan überholt und wird bald stärker sein als die Vereinigten Staaten.

4.) Die gewandelte Kommunistische Partei Chinas hat viel von der Wirtschaftspolitik Singapurs übernommen, etwas auch von der Sozialpolitik, aber nichts von der vorbildlichen Demokratie des tropischen Stadtstaates. Die Studenten in Peking haben das 1989 bemerkt und errichteten aus Styropor eine große Kopie der New Yorker Freiheitsstatue auf dem Tienanmen-Platz. Hunderttausende gingen in ganz China auf die Straßen, um für mehr Freiheit zu demonstrieren. Teng, der große Reformer, wurde zum Berserker gegen die Studenten. Die Panzer rollten, 3000 starben. Man hatte ihnen einen geordneten Rückzug angeboten, aber die Studenten verkannten die Lage.

Anders als Russland verfügt China über Beispiele funktionierender Demokratien in der eigenen Sphäre, wir haben da Hongkong, wenn auch schon kujoniert; das freie Singapur und die freie Insel Taiwan. Die Festlandchinesen dürfen dorthin frei reisen und sie hören und sehen Nachrichten von dort. Das müsste über kurz oder lang Auswirkungen auf die Politik haben.

Andere Beispiele                       

Frankreich führte gleich nach Verlust Vietnams 1954 Krieg in Algerien. Eine Million französische Siedler und das dortige Militär fühlten sich dann von den Linksregierungen im Stich gelassen. Sie putschten 1958 in Algerien unter General Salan gegen Paris. Charles De Gaulle, Führer der Resistance gegen Hitler, und erster Präsident der Vierten Republik bis 1947, wurde von den Soldaten aufs Schild gehoben. Er besuchte sofort Algier, Oran, Mers el Kebir und sagte zu den Putschisten: "Ich habe euch gehört." In der Tat wurde die Armee verstärkt, und Typen wie der Folterer Jean-Marie Le Pen hatten Oberwasser. Aber vier Jahre später verhandelte De Gaulle mit der FLN und schloss Frieden mit den Arabern. Tunesien und Marokko waren bereits 1957 in die Unabhängigkeit entlassen worden, 1962 zog Algerien nach. Die französischen Siedler, einst als Bollwerk gegen arabische Piratennester ins Land gerufen, verteilten sich auf Marseille, Paris, Südafrika, Australien und Quebec-Kanada. Inzwischen haben aber um ein Vielfaches mehr Araber aus den Maghrebstaaten ihren Weg nach Frankreich gefunden. Davor hat sogar der Hellseher Michel de Notredame vor 500 Jahren in einem seiner Quatrains gewarnt: "Wehe dir, Frankreich, das du deine Tore zu weit öffnest.

Große Wellen schlug ein Militärputsch in Griechenland 1967. König Konstantin floh nach Spanien, wo seine Tochter bald den präsumptiven König Juan Carlos heiratete. Deren Sohn Felipe regiert heute in Madrid umsichtig und liberal. Das Militärregime in Athen war weniger handzahm. Verhaftungen und Folterungen an der Tagesordnung. Und sie unterstützten 1974 einen Putsch des Rechtsextremisten Nikos Sampson gegen das Staatsoberhaupt von Zypern, Erzbischof Makarios. Die Folgen: Bülent Ecevit schickte Truppen vom türkischen Festland auf Zypern und besetzte 19 Prozent der Insel. Die beiden Volksgruppen, Griechen und Türken, wurden getrennt, mitten durch die Hauptstadt geht eine Mauer und Stacheldraht durch das ganze Land. In Athen demonstrierte die Bevölkerung, bis die Militärs unter General Papadopoulos zurücktraten. Es kam der erprobte Politiker Konstantin Karamanlis zurück und stellte die Demokratie wieder her. Griechenland erholte sich und begrüßte 2004 sein Bruderland Zypern in der Europäischen Union. Im selben Jahr freuten sich die Athener über die Abhaltung von Olympischen Sommerspielen. Da zahlte man bereits in Euro, Zypern folgte 2008. Damit hat sich über die europäische Schiene ein alter Traum verwirklicht – die Enosis, der Zusammenschluss beider griechischsprachigen Länder.

Wir haben alle schon vergessen, dass es im Flächenstaat Brasilien 1964 einen großen Militärputsch gegen eine Linksregierung gab. Der lief aber weitgehend ohne Gewalt ab. Die Armeekommandanten des entwickelten Südens um Sao Paulo wollten keinen Putsch. Schließlich telefonierten die Wehrkreise ihre Truppenstärke durch. Als sich zeigte, dass die Gruppe um Generalstabschef Humberto Castelo Branco über mehr Power verfügte, gab der Süden kampflos nach. Danach regierte das Militär zwanzig Jahre, bis auf Druck der Bevölkerung die Demokratie zurückkehrte.

Als im August 1991 in Russland die Armee mit KGB und KPdSU gegen Gorbatschow und Boris Jelzin putschten, kam es zu einem ähnlichen Verfahren wie in Brasilien. Die Putschisten hatten das Telefon unter Kontrolle, aber die Faxgeräte vergessen. Die Wehrkreise faxten sich ihre Machtaufstellung zu: Es stand 11:8 für Jelzin. Vizepräsident Ruzkoj setzte sich ins Flugzeug und holte Gorbatschow aus dem Gewahrsam aus der Krim zurück.

1972 ging es in Chile gegen den Linkspräsidenten Salvador Allende, damals eine Ikone aller Roten und Rosaroten. Chile war eine stabile Demokratie und wurde lange von Christdemokraten regiert. Aber Allende hatte eine Inflation von 1000 Prozent losgetreten und 15.000 Kämpfer aus Kuba, Bolivien, Peru und Guayana heimlich ins Land geholt. Kein Wunder, dass Generalstabschef Augusto Pinochet dagegen rebellierte. Unter seinem Regime und den demokratischen Nachfolgern transformierte sich Chile zu einem Wirtschaftswunderland mit stabiler Währung.

Davon angeregt, putschte das argentinische Militär unter General Jorge Videla 1976. Davor hatte eine terroristische Linke fast täglich 100 Tote verursacht. Die Militärs fackelten nicht lange und ließen 30.000 Gefangene in den Gewässern um die Falkland-Inseln aus großer Höhe in den Südatlantik springen. Deren Mütter sammelten sich jährlich in Buenos Aires zu einem Protestgedenken. Aber der Terror von Links hörte auf. Die wirtschaftlichen Erfolge jedoch waren bescheiden. 1982 kam Nachfolger Galtieri auf die famose Idee, die englische Schafweide der Falkland-Inseln zu besetzten. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher zögerte keine Sekunde, schickte ein Atom-U-Boot zu den Falklands, baute die Ascension-Insel im Südatlantik in ein Sprungbett nach Südamerika aus und schickte Spezialtruppen per Flugzeugträger in Sichtweite von Port Stanley. Ein kurzer Kampf auf der Insel und die Sache war erledigt. Galtieri trat zurück, und seither gibt es wieder eine wackelige, ineffiziente Demokratie in Buenos Aires. Denn das Volk wählt dort wie schon immer die Falschen.

Nördlich davon putschte sich in den Sechzigern ein Hugo Banzer nach oben. 1967 versuchte der kommunistische Arzt aus Argentinien und kubanische Gesundheitsminister Che Guevara den Sieg Fidel Castros auf Kuba von 1959 hier in Bolivien zu wiederholen. Stattdessen verendete er in den Händen einer in den USA ausgebildeten Spezialeinheit. Dennoch gelangten in den 90ern rote Indiopolitiker legal durch Wahlen an die Macht. Ein paar Reformen und es wird schon wieder alles verwässert.

In Peru putschten sich 1968 die Militärs an die Macht. Zunächst gab es Fortschritte, dann begann "Der leuchtende Pfad" unter Abimael Guzmán das Land zu bedrohen. Die folgende Demokratie unter Alberto Fujimori brachte Guzmán hinter Gitter, versank aber selber in Korruption. Es folgten linksdemokratische Regierungen, aber der Sand aus dem Getriebe will nicht weichen.

Vorbild für alle Caudillos war Spanien 1936. Dort hatte eine linke Republik für Unruhe gesorgt. General Franzisco Franco, Kommandant der spanischen Truppen in Nordafrika, sicherte sich Unterstützung von seinen Kollegen auf dem Festland und marschierte gegen die Bastionen des Sozialismus: Madrid und Barcelona. Als es nicht so lief, wie es sollte, schickte Mussolini Soldaten und Hitler die legendäre "Legion Condor", eine Fliegerstaffel mit den neuartigen Stuka-Bombern. Die Vernichtung von Guernica hat Pablo Picasso in einem grandiosen Gemälde festgehalten. Als Stalin ebenfalls Hilfe für die zerflatterte Republik herbeisandte, war es zu spät. Mit dabei der Schriftsteller Ernest Hemingway. In "Whom the Bell tolls", beschrieb er den spanischen Bürgerkrieg. Aber es war kein Bürgerkrieg, sondern Krieg einer Armee gegen fanatische Parteiaktivisten und Gewerkschafter.

Haiti, die Dominikanische Republik, Honduras, Belize, Costa Rica und Guatemala wollen wir mangels Größe außer Acht lassen. Aber im Norden des Südkontinents fällt uns sofort Venezuela ins Auge, ein reiches Ölland, das plötzlich arm geworden ist. 1958 putschte sich General Perez Jimenez in den Präsidentenpalast. Aber während Kuba unter dem Kommunismus in Armut versank und eine Million Bestausgebildeter an Florida verlor, ging es Venezuela ausgezeichnet. Das ging gut, bis 1998 Oberst Hugo Chavez in Caracas putschte und sich danach legal wählen ließ. Seine erratische Innen- und Außenpolitik führte 2002 zu einem Putsch gegen ihn. Doch er gewann die folgenden Wahlen neuerlich.

Danach ging es nicht mehr mit rechten Dingen zu. Die Politik war von Ressentiments und Hass gegen alles Bürgerliche getrieben. Und wie meistens bei links motivierten Politikern gibt es kein Verständnis für den Wert stabiler finanzieller Verhältnisse. Man will voll Eifer den Armen etwas zukommen lassen, aber macht sie dann doch auf lange Sicht viel ärmer. Chavez starb 2013 an Krebs, und Nachfolger Nicolás Maduro erntete seine Misere und machte sie seinerseits noch schlimmer. Hoffnung auf einen Putsch gibt es nicht mehr – die Armee ist auf Linie getrimmt und bekommt einen Großteil der Einkünfte aus dem Ölexport. Es gibt in Venezuela kaum mehr Nahrungsmittel, und was man sonst noch zum Leben braucht. 5 Millionen sind nach Kolumbien geflüchtet. Aber der Weg in die einst verbündeten USA ist versperrt.

Nord gegen Süd                                             

Und wie steht es mit den USA? Hat es dort je einen Putsch gegeben? Natürlich nicht, denn die genialen Gründerväter von 1776 haben eine wasserdichte Verfassung geschrieben, welche die 13 Pionierstaaten ebenso zusammenhielt wie die 50 Bundesstaaten des 21. Jahrhunderts. Freilich, 1861, führte die Sünde der Sklavenwirtschaft zwecks billiger Produktion von Tabak und Baumwolle zu einer Abspaltung der Südstaaten. Abraham Lincoln gelang es, die Nordstaaten zu einem Krieg zwecks Erhalt der Union zu organisieren. Eindrucksvoller Mannesmut der Südstaatler und ihr genialer Feldherr Robert Edward Lee (er war bis 1861 Oberkommandierender der US-Armee gewesen und wechselte dann die Seite zu den Konföderierten) reichten nicht aus, um dem industriellen Überwicht des Nordens standhalten zu können. Lincoln wurde ermordet, aber die USA wurden wiederhergestellt und die Sklavenhalterei beendet. 

Schon 1862, also im ersten Jahr des Bürgerkrieges, gab Präsident Lincoln Order, eine transkontinentale Eisenbahn zu bauen, die Atlantik und Pazifik verbindet. 1865 war Baubeginn, und 1869 wurde der Goldene Schienennagel eingeschlagen. Hätten die Südstaatler etwas mehr von Geopolitik und Wirtschaft verstanden, wäre ihnen vielleicht die Erkenntnis gedämmert, dass der landwirtschaftlich geprägte "blutarme" Süden gegen den industriell mächtigen Norden keine Chance besaß.

War der Aufstand weißer Grundbesitzer gegen den liberalen Norden ein Putsch? War es dann ein Bürgerkrieg, wie es in der amerikanischen Geschichtsschreibung heißt – ein "Civil War"? Oder war es eher der Krieg zweier Lebenswelten: Norden gegen Süden, freie Marktwirtschaft gegen Sklavenwirtschaft?

Sieben Tage im Mai

Genau hundert Jahre später, 1964, hat es doch einen Putsch der US-Streitkräfte gegeben – im Kino: Konservative Militärs gegen liberale Weicheier – unter der Regie von John Frankenheimer: Burt Lancaster gegen Kirk Douglas und Ava Gardner. Einem Teil der Armee war in der Hollywoodproduktion "Sieben Tage im Mai" die Politik im Kalten Krieg zu sehr auf Abrüstung abgestellt und zu wenig auf Verteidigung bedacht. Die Argumente beider Seiten waren im Film erstaunlich klar und überzeugend. Aber die Situation änderte sich 1961 mit dem Amtsantritt von John F. Kennedy ohnehin schlagartig. Die Verteidigungsausgaben wurden drastisch erhöht, die Tonart im Umgang mit der Sowjetunion schärfer, das Engagement in Südvietnam verstärkt. Kubanische Exilanten landeten auf Kuba und in einem Desaster. In Berlin wurde eine Mauer gebaut, welche bis 1989 die Stadt nach Westen zu abschottete. Schließlich kam 1962 die Kubakrise, die um Haaresbreite in einen Atomkrieg hätte ausarten können. Am ehesten war die Situation des Filmes mit dem Jahr 1980 vergleichbar. Der Demokrat Jimmy Carter hatte die Armee vernachlässigt und weigerte sich, persischen Generälen Unterstützung zu versprechen, wenn diese gegen den eben hochgekommenen fanatischen Islamisten Ajatollah Ruhollah Khomeini putschen würden. Bald hingen die führenden Militärs auf Teherans Hauptstraße von den Laternen.

Noch dazu stolperte Carter in der persischen Wüste in ein militärisches Abenteuer, das schiefging. Stoff genug also für ein Drehbuch zur Machtübernahme der US-Armee. Stattdessen aber wählten die frustrierten Amerikaner den Schauspieler Ronald Reagan ins Weiße Haus. Er vervielfachte die Militärausgaben mit dem klaren Ziel, die Sowjetunion unter Leonid Breschnew und dann Juri Andropow "totzurüsten". In der Tat krachte deren Wirtschaft bald zusammen, was zum Aufstieg Michail Gorbatschows führte, zum Fall der Berliner Mauer und zum Kollaps der Sowjetunion.

Ein wenig Gerede von einem möglichen Putsch in Amerika gab es 2020. Donald Trump kämpfte um seine Wiederwahl und forderte von seinem Militär bestimmte illegale Dienstleistungen, welche seine Wahlbewegung fördern sollten. Das führte zu Überlegungen der Militärs, eventuell ein Absetzungsverfahren gegen Trump einzuleiten. Aber kurz nach der Wahl, am 6. Jänner 2021, gab es beinahe einen echten Putsch durch Trump selber. Er hatte rechtsradikale Anhänger zum Kongressgebäude bestellt und zum Sturm auf das Kapitol gehetzt, während im Senat gerade noch die Stimmen der Wahlmänner ausgezählt wurden. Vizepräsident Mike Pence rettete mit seiner Unterschrift unter das Wahlprotokoll verfassungskonform die Situation. 

Die Demokratie bleibt also gefährdet: Das Zarenreich 1917, Italien 1922, Deutschland 1933, Österreich 1934, Spanien 1936, Frankreich 1958, UdSSR 1991, Russland 2004, Ukraine 2005/2013/2014/2022, USA 2021, Russland 2023? – so etwas kann sich unter bestimmten Voraussetzungen scheinbar immer wieder wiederholen.

Afrikanische Charaden

In Marokko und dem vorderasiatischen Königreich Jordanien haben sich Könige halten können und segensreich in dem allgemeinen Tohuwabohu gewirkt. In Ägypten und dem Irak kam es in den Fünfzigerjahren zum Sturz der Adelshäuser.

1969 putschte der 29-jährige Oberst Mohammed Gaddafi gegen den greisen König Idris. Schlimm für die Amerikaner, denn sie verloren ihren großen Luftstützpunkt Wheelus. Aber für die Bevölkerung wurde es wiederum eine Katastrophe. Während in Dubai, Abu Dhabi und Katar Wolkenkratzer in den Himmel schossen, blieb das Lebensniveau in Libyen trotz Ölreichtum unter dem Möglichen. Wiederum floss alles Geld ins Militär, Polizei, Geheimdienste und die Vorbereitung von Terrorakten gegen den Westen. Erst durch den "Arabischen Frühling" wurde Gaddafis Macht beeinsprucht. Die Bedrohung von Bengasi durch seine Söldnertruppe führte zur Nato-Intervention und zu seinem Ende bei einem Pipelinerohr.

Demokratischer Widerstand brachte im Sudan ebenfalls ein Regime zu Fall, das vor Jahrzehnten per Militärputsch an die Macht gekommen war.

Schauen wir in das dunkle Herz Afrikas, dann sehen wir in Uganda 1971 einen Putsch der Armee gegen den demokratisch gewählten Milton Obote durch Effendi Idi Amin Dada. In seiner Regierungszeit bis 1979 fielen 300.000 Menschen dem Schlächter zum Opfer. Fünfzigtausend davon hat er den Krokodilen im Victoriasee zum Fraß vorgeworfen.

1977 befreite in Kampala ein israelisches Luftkommando ein von Palästinensern entführtes Verkehrsflugzeug, ein Kunststück, das die westdeutsche GSG 9 in Mogadischu, Somalia, im Jahr darauf wiederholte. Der frühere Präsident Obote hatte danach 70.000 Tutsi-Krieger aus Ruanda angeheuert und mit ihnen den Krieg gegen Idi Amin gewonnen. Dieselben allerdings zogen 1990 und 1994 gegen ihr von Hutus dominiertes friedliches Heimatland zu Felde, verursachten ein Blutbad mit 800.000 Opfern und etablierten nun unter Paul Kagame eine Tutsi-Herrschaft in Ruanda.

Vergessen wir die übrigen Länder nördlich des Kongo. Sie sind Weltspitze in der Geburtenrate und führen in allen Kategorien der Armut. Die frühere Kolonialmacht Frankreich kommt mit den laufenden Machtübernahmen nicht mehr mit, genauso wenig die UNO und die Europäische Eingreiftruppe. Es fehlt eine klare Auslegung von Völkerrecht und UN-Charta sowie der Wunsch und der Mut, das durchzusetzen.

Wieder ist hier der Ukrainer Selenskij ein Rufer in der Wüste: "Nach dem russischen Krieg werden wir die UNO reformieren und zu einem schlagkräftigen Instrument der Friedenssicherung formen", tönt es aus Kiew. 

Zu Weihnachten saßen die Einwohner des Landes ohne Licht, Wasser und Wärme in zerstörten Wohnungen. Immerhin schickt die Europäische Union eine Milliarde Euro an "Winterhilfe". Und die Amerikaner liefern demnächst Patriot-Abwehr-Raketen. Damit ist man schon sehr nahe an die Etablierung einer Flugverbotszone geraten.

Im Iran revoltieren die Frauen und bald das ganze Land. Während sich Israel auf einen Bombenschlag gegen die Nuklearanlagen und die Schaltzentralen der islamistischen Elite in Teheran und Ghom bereitmacht. China unter Xi Jinping droht mit einer Invasion von Taiwan, und Nordkorea ist bereit, jederzeit eine Invasion von Südkorea zu starten. Dazu haben sie in den vergangenen Monaten fast täglich schwere Raketen getestet. Fehlt nur noch ein Atomtest.

Nichts als der Sieg

Nun ist Präsident Selenskij diesen Dezember nicht wie bisher per Video in Amerika aufgetreten, sondern wie er leibt und lebt im Weißen Haus und vor beiden Häusern des Kongresses. Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, umarmte den Ukrainer jüdischer Herkunft und russischer Zunge, und Vizepräsidentin Kamala Harris hielt eine große blau-gelbe Fahne in die Höhe mit den Unterschriften zahlreicher Soldaten aus Kiew und Kherson. Sowohl hier und im Weißen Haus wurde immer wieder betont, dass man bis zum Sieg kämpfen werde. In Europa registriert man dies mit Unbehagen, aber sogar Deutschlands grüne Außenministerin Annalena Baerbock versteift sich darauf.

Was also soll "Sieg" heißen? Ganz bestimmt nicht, dass ukrainische Truppen bis Moskau und Sankt Petersburg vorstoßen werden. Obwohl – auch das ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Sollte es in Russland zu einem Umsturz kommen mit anschließendem Bürgerkrieg, dann wäre es denkbar, dass sich ukrainische Truppen nach Russland "verirren". Sie sind eine Million gut trainierte und kampferfahrene Soldaten. Und die Ukraine umfasst 42 Millionen Menschen, wenn wieder alle heimgekehrt sein werden. Aber 70 Millionen von Russlands Einwohnern sind im fernen Sibirien zu Hause – weiter weg als Nordamerika! Bleiben 74 Millionen für Europa übrig – von Archangelsk bis Sotschi. Das heißt, die Ukraine wäre in Wahrheit halb so stark und halb so groß wie Russland vor dem Ural.

Immerhin hat die Ukraine bereits schwere Operationen auf russischem Staatsgebiet unternommen. Es begann mit dem Bombardement des Flughafens von Belgorod durch einen Blitzangriff ukrainischer Jets im Sommer, gefolgt von einer Versenkung des russischen Schlachtschiffs "Moskwa" vor der Krim durch Spezialtruppen im Herbst, dann die Sprengung der Brücke von Kertsch durch russisch-armenische-ukrainische Saboteure mit beginnendem Winter und zuletzt ein Drohnenangriff auf einen Bomberflughafen bei Engels im Gebiet Saratow, von dem aus laufend Einsätze gegen die Ukraine geflogen werden.

"Sieg" heißt aber simpel, dass Russland seine Absicht vom 24.2.2022 nicht umsetzen kann. Die Ukraine bleibt als Staat und Nation unversehrt, wenn man von den riesigen Schäden absieht, die russische Raketen in den Städten angerichtet haben: zerstörte Häuser, Spitäler, Kindergärten, Schulen, Theater, Wasserleitungen, Stromkabel, Generatoren, Kraftwerke, Straßen, Brücken usw.

"Sieg" kann bedeuten, dass eine russische Niederlage in der Ukraine zu einem Machtwechsel in Russland führt, nach Möglichkeit zu einer Fortführung und Weiterentwicklung der russischen Demokratie wie unter Gorbatschow und Jelzin. Vielleicht bleibt Putin an der Macht, oder es folgt ein noch Schlimmerer auf ihn, auch in diesem Fall müssen sie sich zurückziehen. Solange der Westen die Ukraine unterstützt, kann Russland den Kampf nicht gewinnen und seine Ziele nicht erreichen. Putin setzt auf Abnützung und Ermüdung der demokratischen Nationen. 

Klar ist wohl jedem Volksschüler von Alaska bis Feuerland, vom Nordkap bis Gibraltar, dass Russland mit 144 Millionen Einwohnern und einem Bruttonationalprodukt im Volumen Spaniens es in keiner Hinsicht mit 500 Millionen Europäern und 360 Millionen Nordamerikanern aufnehmen kann.

Und was käme bei einer Niederlage der Ukraine?

Was Putin veranlasst, seinerseits einen russischen Sieg in der Ukraine zu erwarten, wird noch viele Psychologen beschäftigen. Was aber wäre, wenn er tatsächlich diesen Krieg gewinnen würde? Angenommen, der Westen stellte seine Waffenlieferungen ein, so wie das einige Linke, die AfD und auch unsere Freiheitlichen fordern: Fein, das Sterben würde aufhören, die momentanen Atomdrohungen wären gegenstandslos, die Staatsdefizite könnten zurückgefahren werden. Die Russen würden unmittelbar mit dem Umbau der Ukraine zu "Kleinrussland" beginnen. Hunderttausende würde man ins Gefängnis stecken, um einen neuen "Maidan" zu verhindern. Das ukrainische Idiom wird man verbieten – so als ob man in der Schweiz das Schwyzerdütsch ausrotten wollte. Dann steht Russland verstärkt um eine geknechtete Ukraine an einer sehr langen Nato-Grenze: bei Rumänien, Bulgarien, Polen, Litauen, Lettland, Estland und nunmehr auch Finnland. Eine Diktatur, die bis zur afghanischen Grenze reicht. 

Womit die Versuchung einhergeht, den Einfluss Russlands nicht nur über das Baltikum, sondern auch über den gesamten früheren Ostblock wiederherzustellen. Und Deutschland soll ein Vasallenstaat werden, gierig nach russischem Gas und Öl, unfähig, sich zu verteidigen. Frankreich glaubt man in Moskau ohnehin in der Tasche zu haben. Es war Bündnispartner in zwei Weltkriegen und im Kalten Krieg ein schwieriger Partner Washingtons.

Dann ist es nicht mehr weit von einem Europa von Lissabon bis Wladiwostok, das ein einziges großes Russland sein wird. Sponsor wiederum einer globalen Diktatur.

Nach einem Sieg über die Ukraine wird der Führung in Moskau der Kamm schwellen. Man wird provozieren, wo immer man kann. Holt sich von Kasachstan ein großes Stück Land zurück, das russisch besiedelt ist, und wird Nordkorea beim Angriff auf den Süden den Rücken freihalten und China bei der Rückholung von Taiwan ins "Reich der Mitte".

Und bald streitet man wieder mit dem Westen und droht erneut mit Atom- und Wasserstoffbomben, bis dann wirklich eine hochgeht.

Der Preis des Sieges

Und was geschieht, wenn Selenskij aus den Trümmern siegreich emporsteigt? Die Rückkehr Russlands zur Demokratie würde einen starken Impuls erfahren. Die Wirtschaft am Dnjepr wird lange Zeit schneller wachsen als die Russlands. Auch weil man dann schon fix zur EU gehört und auch zur Nato. Russland kann dies nicht mehr verhindern. Es wird sich verstärkt an China binden wollen, aber den eigenen Militärs steigen nun die Grausbirnen auf.

Eine Möglichkeit wäre, dass Russland sich nach britischem, Schweizer und norwegischem Vorbild mit bilateralen Verträgen an die EU bindet. Auch eine Mitgliedschaft in der Nato wäre denkbar, falls das derzeitige Vetorecht modifiziert wird und Russland einen echten Rechtsstaat aufbaut unter Beachtung des Demokratischen Prinzips. Die Idee von einem demokratischen Europa bis zur Beringstraße ist noch nicht tot. Und die Nato wäre dann kein Bündnis mehr zur Abwehr russischer Expansionsbestrebungen, sondern das Schwert der Vereinten Nationen zur Sicherung der Menschenrechte und des Friedens auf der ganzen Welt.

Der Ruf nach Verhandlungen

Bei vielen Menschen keimt der Wunsch nach Verhandlungen auf. Die Ukraine möge so nett sein und doch endlich den Russen Verhandlungen anbieten. Und der Westen möge so vernünftig sein und seine Waffenlieferungen an die Bereitschaft Kiews knüpfen, sich mit Putin zusammenzusetzen.

Wenn es nur so einfach wäre! Solange Putin von seinem Sieg überzeugt ist, wird er nicht verhandeln, sondern diktieren. Jetzt erstmals zu Weihnachten äußerte Putin seine Bereitschaft, mit Selenskij zu verhandeln – aber nur, wenn man seine militärischen Besetzungen anerkennt: Charkiv, Lugansk, Donbas, Kherson! Also worüber soll man dann verhandeln? Wenn aber Putin ohne Anerkennung seiner Eroberungen vom Tisch ginge, dann bräuchte er erst gar nicht nach Moskau zurückkehren. Er muss etwas anbieten, das für die Ukrainer interessant ist: Zum Beispiel einen sofortigen unbefristeten Waffenstillstand – die Zusage in allen Gebieten neue Volksabstimmungen unter Kontrolle durch die Vereinten Nationen durchzuführen gemäß Einwohnerregister von 2013. Und das Ergebnis dann bindend anzuerkennen und umzusetzen. Das Angebot eines freien schengenartigen Zutritts zur Krim für alle Ukrainer. Keine militärischen Beschränkungen für die Ukraine und vielleicht von Kiew die Zusage, einen Beitritt zur Nato nur gemeinsam mit Russland anzugehen. 

OK, jetzt verhandelt mal schön! – Aber wie verhandelt man mit jemandem, der seit vergangenem Februar nur Lügen und Falschmeldungen in die Welt gesetzt hat?

Die Verheißung

Wer sich Sorgen um Russland macht, sollte eine Botschaft der Heiligen Maria in Medjugorje zur Jahrtausendwende wahrnehmen: "Russland wird noch lange nicht Amerikas materiellen Glanz einholen. Aber es wird dereinst die geistig führende Nation der Erde sein."

 

Paul Fischer (zuletzt 13 Jahre im Mucha Verlag; 1978 Computer News, 1983 Regal, 1987 Junge Wiener, 1988 Deutsche Prawda, 1989 Bezirksjournale, 1990 Wiener Stadtblatt, 1995 RTV, 1996 Extradienst, Faktum, FM), Verheiratet seit 13. Juli 1990 mit Tatjana aus Krasnojarsk, Sibirien.

 

                              

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