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Die Lektion aus den sechs Fehlern der Liz Truss (und der Tories)

So dramatisch hat wohl noch nie ein neuer Regierungschef seine Amtszeit begonnen wie Liz Truss in Großbritannien – und auch gleich wieder beenden müssen. Sie muss das primär aus eigener Schuld, sekundär aus der ihrer Partei, aber nicht wegen unvorhergesehener externer Ereignisse (oder wegen dubioser Aktionen der Staatsanwälte beziehungsweise eines ehemaligen Spitzenbeamten wie hierzulande). Damit ist wohl sicher, dass die nächsten britischen Wahlen zu einem Machtwechsel führen werden. Das ist umso gewisser, als die Führung der Labour-Partei vom ganz linken zum ganz rechten Rand des sozialistischen Spektrums gewandert ist und auch am Brexit festhalten will. Noch viel wichtiger aber sind die in der Folge beschriebenen sechs Lektionen, die nicht nur Truss und die Tories, sondern auch die politische Klasse vieler Länder durch die Vorgänge in Großbritannien bekommen hat.

Diese Lektionen im Einzelnen:

1. Die überflüssige Palastrevolte

Die erste Lektion bezieht sich auf die Abwahl von Boris Johnson. Je länger die Corona-Maßnahmen zurückliegen, umso mehr verliert sich sein Delikt, wegen dem er abgeschossen worden ist, ins Unbedeutende. Mehrere Umtrünke mit seinen Mitarbeitern nach Büroschluss sind im Grund genau das, was die meisten Menschen von einem guten Chef erwarten – auch wenn das zu Corona-Zeiten eigentlich verboten gewesen ist.

Nur unehrliche Menschen erwarten von einem Politiker, korrekter und braver zu sein, als sie selber sind. Denn wenn wir wirklich auf hundertprozentig auch in ihrem Alltagsleben perfekten Politikern  bestehen (die nicht einmal in privaten Chats Schimpfwörter verwenden, die jede Sperrstunde und jedes Parkverbot penibel einhalten, um wieder einen österreichischen Einschub zu machen), dann wird uns entweder eine vollkommen verlogene Inszenierung vorgespielt, zu der nur Diktatoren wie Putin, Xi, Kim, Khamenei oder Erdogan imstande sind. Oder aber, wir bekommen die langweiligsten, neurotischsten, entscheidungsunfähigsten Menschen an den Staatsspitzen, die völlig untauglich zum Regieren sind.

Das haben die meisten Briten schon damals verstanden und daher jenseits des politmedialen Aufregungsbiotops in Wahrheit sehr gelassen auf Johnsons Feiern reagiert. Deswegen sind die Imagewerte des zweifellos interessantesten britischen Politikers seit Tony Blair und Margaret Thatcher auch nicht sonderlich dramatisch abgestürzt. Aber schon ein kleiner Rückgang der Umfragezahlen für Johnson hat die Tories zum Wegschmeißen der Nerven und zu seinem Sturz veranlasst. Sie ahnten dabei zweifellos nicht, wie verheerend die Prozentwerte der Partei bald sein werden.

Der erste große Fehler könnte auch so formuliert werden: Wer keine guten Nerven hat, soll nicht in die Politik gehen.

2. Vergiftende Polarisierung durch parteiinternen Wahlkampf

Als zweiter Fehler stellt sich die Art heraus, wie die Partei die Nachfolge Johnsons lösen wollte. Denn dabei kam es vor den Augen der ganzen Öffentlichkeit zu wochenlangen schlimmen Auseinandersetzungen zwischen den beiden in die Schlussauswahl gekommen Kandidaten, die bei beiden heftige Schrammen hinterlassen haben. Das ist zwar das Schicksal jedes in einer repräsentativen Demokratie antretenden Kandidaten. In diesem Fall kam es aber durch das System der parteiinternen Vorwahlen zu einer Vervielfachung des Schadens.

Es hat sich als schwerer Fehler erwiesen, die Entscheidung von allen Parteimitgliedern (oder eingetragenen Wählern einer Partei) treffen zu lassen. Das zeigte sich in ganz besonderer Schärfe übrigens nicht nur bei den britischen Konservativen, sondern ebenso bei den amerikanischen Vorwahlen: Da wie dort ist der Wille der Parteimitglieder von dem der gesamten Wählerschaft total auseinandergeklafft. Parteimitglieder tendieren neuerdings zu viel radikaleren Positionen als die übrigen Wähler. Und zwar rechts genauso wie links.

Liz Tuss hatte nie eine Mehrheit der eigenen Parlamentsfraktion bekommen. Die anderen Abgeordneten hatten sie und ihren Kurs lange Zeit aus der Nähe beobachtet und hatten daher eine im Vergleich zu den einfachen Parteimitgliedern viel bessere Wissensbasis, um zu bewerten, ob sie den Job schafft und ob sie bei der Wählerschaft ankommt. Die Parteimitglieder hingegen haben ihre Entscheidung lediglich auf ein paar möglichst kantige Aussagen ausrichten können.

Ganz ähnliches spielte sich in den USA ab: Bei den Vorwahlen der Republikaner wie Demokraten haben jeweils sehr rechts, beziehungsweise links positionierte Kandidaten triumphiert. Rechts heißt aber derzeit bei den Republikanern ganz etwas anderes als früher: nämlich Treue zu Trump und zu all seinen Verfehlungen, seiner Exzentrik und seinen Unwahrheiten. Links bedeutet bei den US-Demokraten wiederum Blacklivesmatter-Rassismus und den Woke-Extremismus, während die Arbeiterklasse völlig rechts liegen gelassen worden ist.

Solche radikalisierten Kandidaten werden nicht nur am Wahltag Probleme bei der allgemeinen Wählerschaft haben (was in den USA den Ruf nach einer dritten, gemäßigten Partei lauter denn je werden hat lassen). Wenn diese radikalen Kandidaten dann – mangels Alternativen – ins Parlament kommen, werden sie außerstande sein, dort die nötigen fraktionsübergreifenden Kompromisse zu finden, sollten sie weiter radikal bleiben. Kompromisse sind aber in den USA besonders oft nötig, solange nicht eine Partei über 60 Prozent der Sitze verfügt.

Die zweite Lehre heißt ganz eindeutig: Die direkte Demokratie ist zwar dringend notwendig und auszubauen – aber immer nur eine, bei der es um die Willensbildung aller Wähler geht und nicht eine, die lediglich unter den Parteigänger neine Mehrheit sucht. Denn dabei kann es zu schlimmen Verzerrungen und Polarisierungen kommen (Außerdem ist ja das Wesen der direkten Demokratie eines, dass sie der beste Mechanismus zur Lösung von Sachfragen ist, aber nie für Personalentscheidungen, die das Wesen der repräsentativen Demokratie sind).

Überdies gibt es Hinweise, dass erst die scharfe Kritik von Gegenkandidat Sunak während des langen parteiinternen Wahlkampfs die Märkte so richtig aufmerksam gemacht hat, dass das Finanzprogramm von Truss schädlich sei.

3. Wer nicht Kurs halten kann, kann nicht führen

Die dritte Lehre: Ein Regierungschef, der binnen weniger Wochen nach Amtsantritt zwei gerade erst angelobte Schlüsselminister wieder verliert, ein Premierminister, der vor allem auch die Inhalte seiner Politik – noch dazu in der entscheidenden Wirtschafts- und Finanzpolitik – um 180 Grad dreht, drehen muss, der hat wirklich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Truss hat jede Glaubwürdigkeit verloren. Niemand nahm sie zuletzt noch ernst. Sie reduzierte sich selbst zum Fliegengewicht (man hat nicht einmal das anderswo beliebte Argument gehört, Truss sei nur deshalb so unter Beschuss gekommen, weil sie eine Frau ist)..

Grundsätzliche politische Richtungswechsel nagen immer die Glaubwürdigkeit an, außer es gibt eine Änderung der äußeren Bedingungen. Rein taktisch gesehen nehmen Profi-Politiker solche Änderungen daher nur in so kleinen Schrittchen vor, dass die meisten Menschen gar nicht bemerken, dass die Politik am Ende ganz wo anders steht.

 Österreichisches Musterbeispiel war der Spannungsbogen zwischen EU-Beitritt und Neutralität. Lange galt ein solcher für die SPÖ als des Teufels, wobei sie meist das Neutralitätsrecht als Grund vorgeschützt hat. Dann wurde unendlich viel herumgeredet, bis sich die Menschen überhaupt nicht mehr ausgekannt haben. Und im Sommer 1989 (also noch vor dem Kollaps Osteuropas oder gar der Sowjetunion) schickte man dann plötzlich unter Bundeskanzler Vranitzky einen Brief mit dem Beitrittsantrag nach Brüssel.

Zehn Jahre später ist dann die ÖVP unter Wolfgang Schüssel und Andreas Khol für die endgültige Entsorgung der Neutralität eingetreten. Nach dem Abgang der beiden geriet auch das wieder in Vergessenheit. Und heuer trommelt Karl Nehammer ohne den Hauch eines erkennbaren Nachdenkens, dass Österreich immer neutral bleiben werde. Das ist pures Schielen auf die Meinungsumfragen, denn von der Bedrohungslage her müsste man 2022 zu ganz anderen Schlüssen kommen.  Die in gleicher Lage steckenden Neutralen Finnland und Schweden haben nämlich sehr gute Gründe, warum sie die Neutralität aufgeben. Österreich denkt nicht einmal über diese Gründe nach.

Glaubwürdigkeit und Führungsstärke sehen jedenfalls anders aus.

4. Man sollte nicht ohne Nachfolgregelung gehen, denn dann folgt das Chaos

Auch die Art und Weise des Abgangs von Liz Truss war Gift. Sie ging, ohne dass irgendjemand eine Ahnung hätte, was jetzt passiert. Politische Profis hingegen setzen sich VOR dem Abgang eine Nacht lang mit den wichtigsten Köpfen der Partei zusammen und versuchen, eine möglichst nahtlose Nachfolgelösung zu finden.

Das haben aber zuletzt weder Johnson noch Truss auch nur annähernd geschafft.

5. Die Tories sind tief gespalten

Die Partei ist zu lange an der Macht. Da hat fast jeder Abgeordnete eigene Vorstellungen, wie es in einer tiefen Krise weitergehen soll. Zwar ist in Zeiten der Inflations/Pandemie/Energie/Kriegsgefahr-Mehrfachkrise absolut jede Regierungspartei von Italien bis Schweden von der Krise bedroht. Aber bei den Tories passt nach dem Abgang eines starken, aber eigenwilligen Chefs wie Johnson nichts mehr zusammen.

Daher sind auch die zentralen Schlüsselfragen des "Wie weiter?" völlig offen.

  • Die liegen nicht nur, aber natürlich auch in der Personenauswahl, gibt es doch keinen zwingenden Kandidaten.
  • Beugt man sich wieder einem starken Chef?
  • Kehrt das Land wieder zum guten alten Rezept einer nüchternen Austerität zurück?
  • Geht man den Weg der Margaret Thatcher, dass man zuerst bewusst durch eine Krise gehen muss, bevor Wachstum und neue Stärke entstehen können?
  • Ist eine härtere Antimigrationspolitik der Identifikationskern der Partei?

Nur eines scheint nirgends mehr auf dem politischen Menüzettel der Tories zu stehen: eine Reversion des Brexit. Der ist angesichts der Entwicklungen in der EU gegessen. Dabei hat der Brexit vor gar nicht langer Zeit eine Welle schwerer Krisen, auch innerhalb der Partei, ausgelöst.

Tatsache ist jedenfalls: Eine gespaltene Partei, in der ein Chef nach dem anderen gestürzt wird, hat keine Chance, von den Wählern akzeptiert zu werden.

6. Der leichtfertige Umgang mit öffentlichen Geldern

Der schwerste Fehler – aber auch die wichtigste Lektion für die Außenwelt – ist aber in der Sachpolitik passiert. Liz Truss und ihr noch kürzer amtierender Finanzminister haben im Umgang mit den Staatsfinanzen einen katastrophalen Bock geschossen. Sie haben zur gleichen Zeit verkündet, einerseits die Steuern signifikant senken zu wollen, und andererseits für alle möglichen Zwecke die Staatsausgaben zu erhöhen. Ohne irgendwelche Vorschläge für Einsparungen zu machen.

Zwar ist die von Truss verkündete Zielrichtung richtig, dass Steuersenkungen zu Wachstum und damit wieder höheren Steuereinnahmen führen werden, weil viele Menschen dadurch zum Schluss kommen, es zahlt sich (wieder) aus, zu investieren, ein Unternehmen zu gründen und Geld zu verdienen. Aber dieser Wachstumseffekt tritt immer erst mittelfristig ein. Und jedenfalls erfordert diese Politik besondere Sparsamkeit. Aber wenn man den Menschen gleichzeitig verspricht, jede Unbill durch Inflation und Energieknappheit ersparen zu wollen, dann hat diese Politik keine Chance auf Erfolg.

Die Strafe folgte auf den Fuss: Das britische Pfund verlor rasch an Wert. Das heizte naturgemäß wiederum die Inflation zusätzlich an (weil alle Importprodukte teurer wurden). Die Zinsen, die London für Staatskredite zahlen muss, schnellten in die Höhe, weil bei allen Geldgebern das Vertrauen in den Schuldner Großbritannien dahinschmilzt. Das wiederum vergrößert zusätzlich das Loch im Staatshaushalt im Expresstempo. Was wiederum eine tödliche Spirale in Gang zu setzen droht: Man muss noch mehr Schulden machen, das Pfund wird noch mehr abstürzen, die Zinsen werden noch weiter steigen, die Inflation gewinnt zusätzlich an Fahrt, und viele werden ihre auf Kredit gekauften Häuser verkaufen müssen.

Das einzige, was an Truss frappiert, ist, dass diese Megafehler einer konservativen Politikerin passieren. Sind doch die Konservativen normalerweise immer die, die auf Mäßigung und Disziplin pochen, die auf den Wert des Geldes schauen. Während Sozialisten – wie etwa die österreichischen – in aller Regel jene sind, denen täglich ein neuer Grund einfällt, wofür man noch mehr Staatsgeld ausgeben muss. In diesem Sinn hat die SPÖ zuletzt tagtäglich insbesondere ein Einfrieren aller Energiepreise (auf Staatskosten, also auf zusätzliche Milliarden-Schulden) verlangt. Und auf den europäischen Ebenen haben die Sozialisten jahrelang lauter als alle anderen gegen eine Erhöhung der EZB-Zinsen zur Eindämmung der Inflationsgefahr gekämpft.

Oberflächlich scheint das populär zu sein (auch wenn es eine Kontraindikation zum eigentlich dringend notwendigen Einsparen beim Energieverbrauch ist), aber in Wahrheit führt das genau zu dem Effekt, der Liz Truss jetzt in die Knie gezwungen hat: Immer rascher steigende Kurse, immer rascher steigende Zinsen, immer steilere Inflation. Lediglich der Absturz der Währung wird im Falle Österreichs nicht so rasch sichtbar, da Österreich ja in den Euro eingebunden ist, der Währung unserer wichtigsten Handelspartner. Und der Euro konnte zum Unterschied zum Pfund bisher lange von den stabileren Ländern profitieren, so verantwortungslos auch Italien & Co mit dem von Deutschland & Co finanzierten Rettungsring spekuliert haben.

Nur funktioniert dieser Rettungsschirm nicht mehr: Der Euro verliert fast so rasch wie das Pfund gegenüber dem Dollar an Wert. Und die Wachstumsprognosen für Deutschland sind höflich ausgedrückt nach den Rezessionsphasen ernüchternd.

Mit anderen Worten: Wenn die zweifellos beunruhigenden britischen Turbulenzen auch irgendeinen positiven Sinn haben, dann hoffentlich den, dass auf den Inseln wie auch anderswo wirklich Konsequenzen aus diesen sechs fundamentalen britischen Lehren gezogen werden. Dass Schuldenmachen mit absoluter Sicherheit in die Katastrophe führt.

Schauen wir einmal …

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