Was soll uns die Parade vom 9. Mai 2022 in Moskau sagen?

Der Fahnenblock bei einer Parade soll der Selbstsicht eines Staates Ausdruck verleihen. Am 9. Mai 2022 traten im Zuge der Parade als Selbstdefinition des russischen Staates mittels seiner Armee zwei Fahnengruppen auf, eine zu Fuß und eine auf einem Schützenpanzer. Jede von ihnen führte zwei Fahnen mit jeweils einem Fahnenträger und je zwei Offizieren als Bedeckung. Die erste Flagge repräsentierte die Farben Russlands als Sinnbild für die russische Nation unter bewusster Auslassung der rund 22 Prozent ethnischer Minderheiten in der sogenannten "Russischen Föderation". Die zweite Fahne enthielt ausschließlich das Emblem der Union sozialistischer Sowjetrepubliken, also Hammer und Sichel auf rotem Grund, repräsentiert also den Sozialismus, wie er in der UdSSR praktiziert worden war.

Der Staat definiert sich offensichtlich mit voller Absicht als russische Nation und darüber hinaus als sozialistisch in der Ausprägung der UdSSR. Zusammen stellt sich Russland selbst als "national und sozialistisch" vor, sollte also von uns auch aus Höflichkeit in Zukunft so angesprochen werden.

Um nicht mit dem Nationalsozialismus deutscher Ausprägung verglichen zu werden, was eindeutig eine Verharmlosung des historischen Holocaust wäre, der in der UdSSR fehlt, müssen beide Attribute in einer klar zum Nationalsozialismus abgrenzenden Form zusammengeführt werden. Mit "national" greift man auf das im Gegensatz zur internationalistischen Sowjetunion eher nationalistische Zarenreich zurück, mit "sozialistisch" allerdings voll auf die Sowjetunion in ihrer letzten Ausdehnung.

Die Selbstdarstellung als "national und sozialistisch" ergibt sich also aus der Symbolik beider Flaggen zwangsweise und entspricht damit der Zielvorstellung des derzeitigen russischen Staates. Dieses neue Reich hebt sich in seinem Nationalismus vom nationalsozialistischen deutschen Reich durch das weitgehende Fehlen des gewaltsamen Antisemitismus und von der Sowjetunion durch seinen Nationalismus ausreichend ab, kann also nicht als Beleidigung empfunden werden. Die Verwendung eines Schützenpanzers, der als ein eindeutig offensives Waffensystem anzusprechen ist, lässt aber auf ein beabsichtigtes offensives Verfolgen strategischer Ziele schließen.

Diese Charakterisierung sollte der europäischen Bevölkerung vermittelt und ihr damit klar gemacht werden, in welche Nähe zum äußerst rechten Lager das extrem linke bereits geraten ist. Das linearen Links/Mitte/Rechts-Denken ist nicht als Hufeisen mit einer engeren Lücke zwischen den beiden Enden zu beschreiben, wie neuerdings in Medien vorsichtig angedeutet wird, sondern klar als ein geschlossener Kreis, in dem das extreme linke und rechte Lager bei ihrer Bekämpfung der Demokratie auf der wenig sichtbaren Rückseite des politischen Spektrums bereits zusammengefunden haben.

Das bisherige lineare Bild des politischen Spektrums fordert eine weitere Überlegung heraus. Es täuscht die völlige Unvereinbarkeit der beiden Ideologien an den beiden Rändern vor. In der Realität wird diese Lücke gerade von beiden Seiten geschlossen, womit sich ein kreisförmiges Spektrum ergibt, das eine Koalition der beiden extremen Kräfte ermöglicht.

Es öffnet sich die Chance, das militärische Übergewicht gegenüber einem schwächelnden demokratischen Lager gewinnen zu können. Sowohl das "nationale und sozialistische" als auch das heutige radikalsozialistische Lager spielen heute erkennbar die Karte eines vereinigten radikalen Lagers von extrem Links und extrem Rechts auf strategischer Ebene.

Im Krieg gegen die Ukraine zeichnet sich bereits ein sicherheitspolitisches Zusammenrücken des nationalen und sozialistischen Russland mit den beiden stärksten Ländern des Sozialismus, China und Nordkorea, ab. Die Botschaft an die Welt wird abgesetzt:

Mit militärischer Hardware sollen die Voraussetzungen für eine neue Weltordnung als Gegenmodell zur bisherigen freien Welt aufgebaut werden, wobei Russland mindestens auf Augenhöhe in die Führung dieser Allianz eingebunden sein will.

Allerdings konterkarieren die bisherigen Kampfhandlungen in der Ukraine diesen Anspruch: Russland rutschte durch seine erkennbaren Schwächen gerade auf einer schiefen Ebene vom Status einer Weltmacht auf den einer regionalen Mittelmacht hinunter, die angestrebte militärische Überlegenheit könnte aber durchaus noch sichergestellt werden, nachdem alle drei Staaten zu den Atommächten zu rechnen sind.

Sympathisanten aller politischen Lager dieser "nationalen und sozialistischen" Ideen sollten sich fragen, auf welchen Gemeinsamkeiten diese ideologische Nähe beruhen könnte: An erster Stelle steht wohl die gemeinsame Verachtung der Demokratie. Die ist zwar in weiten Teilen Europas und Nordamerikas tatsächlich in einem ekelerregenden Zustand, eine Grundüberholung ist aber aus der Sicht der Regierten einer gänzlichen Abschaffung jedenfalls vorzuziehen.

Den Sozialismus kann ein vernunftbegabter Mensch aus historischer Erfahrung keinesfalls als Zukunftsmodell anstreben. Es bleibt als gemeinsame Basis ein fanatischer, fast religiös wirkender Antiamerikanismus, der wohl in der Tiefe seiner Existenz auf Antisemitismus beruhen mag. Eine für die Zukunft tragfähige Koalition aus diesen drei "-ismen" lässt sich damit aber nicht aufbauen.

Man kann davon ausgehen, dass bei einem tatsächlichen Sieg dieser Koalition die Demokratie als erstes und die nützlichen Idioten als zweites in Form von Gedenkkreuzen den Wegesrand zum reinen Sozialismus zieren werden. Leben will wohl niemand unter solchen, von Cäsarenwahn heimgesuchten, über A-Waffen und Straflager verfügenden Diktatoren.

 

Rupert Wenger war Offizier des Bundesheeres als Kompanie- und Bataillonskommandant in der Panzertruppe und später Analyst in einer Dienststelle des Verteidigungsministeriums.

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